Vorträge und Diskussion mit Prof. Dr. Peter Weingart, Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Bielefeld und Prof. Dr. Holk Cruse, Fakultät für Biologie, AG Biologische Kybernetik, Universität Bielefeld
Moderation: Dr. Justus Lentsch
Im Rahmen der Akademievorlesung: "Koevolution von Technik, Wirtschaft und Gesellschaft" zum Jahresthema 2009|2010.
Darwins Evolutionstheorie hat schon bald nach ihrer Veröffentlichung Anwendung auf die Analyse von Gesellschaft gefunden. Die ersten Gesellschaftstheorien betrachteten die Gesellschaft als Organismus. Es folgten Spielarten des Sozialdarwinismus sowie der Gesellschaftsbiologie. Nachdem die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft und die Biologie sich als Disziplinen voneinander differenziert hatten, verlor die Evolutionstheorie an Einfluss in der Erklärung der Gesellschaft. Es gibt jedoch neuerlich Versuche, die Evolutionstheorie als Erklärungsmodell gesellschaftlicher Entwicklung einzusetzen, zum einen mit der Soziobiologie und zum anderen mit den Modellen der kulturellen Evolution. Die ersteren erklären menschliches Verhalten unter Rückgriff auf durch die Evolution geprägte und genetisch fixierte Muster. Letztere benutzen die Evolutionstheorie als Modell, um die Evolution kultureller Einheiten zu erklären. Im ersten Fall handelt es sich eine Homologie, im letzteren um eine Analogie zwischen Biologie und Gesellschaft bzw. sozialem Verhalten.
Die oft geführte Diskussion der Frage, ob kulturelle Phänomene auf genetische Strukturen zurückzuführen sind, scheint nicht wirklich fruchtbar zu sein. Es gibt, auch in der Biologie, kein rein genetisch festgelegtes Phänomen. Die Umwelt spielt immer eine Rolle. Interessanter ist die Feststellung, dass man die der Evolutionsbiologie zugrunde liegenden Prinzipien - zufällige Mutation der Objekte und daran anschließende Selektion nach bestimmten Evaluationskriterien - nicht nur in der biologischen Evolution, sondern auch in ganz anderen Bereichen, und auf ganz anderen Zeitskalen, wiederfindet.
Das vielleicht bekannteste Beispiel stammt aus der Immunbiologie. Antikörper bilden sich zufällig. Diejenigen, die ein passendes Antigen gefunden haben, bilden ein "Gedächtnis", so dass sie beim späteren Auftreten dieses Antigens schnell und in großer Zahl gebildet werden können. Weniger bekannt, aber in unserem Zusammenhang interessanter, sind die folgenden Beobachtungen. Diese "selektionistischen" Prinzipien können auch bei der Bildung sozialer Strukturen innerhalb von Insektenstaaten wirken. Bei bestimmten Wespen bilden sich innerhalb weniger Tage Strukturen aus, die durch drei Klassen ("Königin", "Sammler", "Brutpfleger") charakterisiert sind.
Es gibt weiterhin starke Hinweise darauf, dass diese Prinzipien auch bei der Entstehung und Ausbreitung von Wörtern, also von Symbolen, die Bedeutung tragen, innerhalb einer Sprachgemeinschaft eine entscheidende Rolle spielen. Die Vermutung, dass diese Prinzipien auch unseren kognitiven Prozessen zugrunde liegen, führt zu der Überlegung, dass "Selektionismus" als Erklärung und Überwindung der alten philosophischen Diskussion zwischen Idealismus ("Konzepte sind angeboren") und Empirismus ("Konzepte sind erlernt") verwandt werden kann.
All diesen Phänomenen ist gemeinsam, dass einerseits angeborene Eigenschaften vorliegen, aus denen sich dann, mit Hilfe der selektionistischen Prinzipien und zusammen mit der Umwelt,neue Strukturen ergeben. Letztlich zeigen die unterschiedlichen Annäherungen der Evolutionstheorie an die Erklärung von Gesellschaft, wie sich die Kategorien zur Beschreibung und Analyse unterschiedlicher Phänomenbereiche wechselseitig befruchten, aber auch auseinander entwickeln können. Auch Wissen evoluiert.
Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Kommende Akademievorlesungen:
14. Januar 2010: Simulierte Welten – Evolution in der Virtualität
4. Februar 2010: Zeit – Schlüsselvariable der Evolution
11. Februar 2010: Darwins Dilemma: Die Evolution des Altruismus und die Ablehnung des Fremden