Leibniz-Objekt des Monats
September 2016: Eine To-do-Liste für Berlin
Eine To-Do-Liste für Berlin
Zwischen seiner ersten kurzen Visite im November 1698 und seinem letzten Besuch von Ende Februar bis Anfang Mai 1711 hat sich Leibniz mehrfach und häufig über etliche Monate in Berlin aufgehalten. In manchen Jahren weilte er dort länger als in Hannover. Zunächst hatte das Bemühen, die beiden protestantischen Konfessionen im Reich, Lutheraner und Calvinisten, zu versöhnen, im Mittelpunkt seiner Berliner Interessen gestanden. Vom Jahr 1700 an waren es jedoch vor allem die Gründung und Organisation der Akademie (vgl. das Leibniz-Objekt des Monats Januar), die ihn immer wieder in die brandenburgisch-preußische Hauptstadt führten. Wer um 1700 reiste, beschränkte sich allerdings nicht auf eine Aufgabe, auch wenn diese den Anlass zur Reise geboten hatte und ihre Erledigung im Mittelpunkt stand. Reisen war zu mühselig und zu teuer, um nicht die Gelegenheit zu nutzen, gleich noch eine Reihe anderer Dinge nebenher zu erledigen. Leibniz bildete da keine Ausnahme – im Gegenteil: Gerade seine Berlin-Aufenthalte zeigen ein breites Spektrum an Interessen und Kontakten, das Leibnizʼ weitgespannte Neugier und seine zahlreichen Pläne widerspiegelt.
Stichworte entziffern
Dies zeigen am besten die To-Do-Listen, die er vor und während seiner Reisen nach Berlin angefertigt hat, um festzuhalten, was dort zu erledigen, wer zu besuchen, wessen Adresse nachzufragen sei, welche Pläne vorzuschlagen seien usw. So unscheinbar derartige Listen wirken, sie eröffnen einen unmittelbaren Blick ins pralle Leben. Hier ist nichts mit Rücksicht auf die Nachwelt formuliert und arrangiert. Zudem führen sie im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen, wie eng seine Ideen für die Akademie mit weiteren politischen und administrativen Projekten zusammenhingen, die er für Berlin entwickelt hatte. Für Leibniz sollte die Wissenschaft – und damit auch die Akademie – dem Gemeinwohl dienen. Deshalb konnte Letztere nie eine selbstgenügsame Gelehrtengesellschaft sein.
Vor diesem unmittelbaren Einblick in Leibnizʼ Berliner Pläne stehen jedoch die Schwierigkeiten der Entzifferung und Interpretation. Gerade derartige, mehr oder weniger flüchtig hingeworfene und auf Stichworte verknappte Notizen stellen den Bearbeiter vor besondere Herausforderungen. Die Entzifferung wird dadurch erschwert, dass (zumindest vorerst) nicht klar ist, wo ein Eintrag beginnt und endet: In welchem Verhältnis stehen einzelne Zeilen oder auch nur einzelne Wörter zueinander? Bilden sie einen zusammenhängenden Gedanken oder wenigstens eine Reihe assoziativ verbundener Überlegungen oder steht jedes Wort für einen neuen Stichpunkt?
Das Verständnis schwieriger Stellen kann also nur bedingt aus ihrem Kontext gewonnen werden. Es bleibt daher nicht aus, dass in der Edition gerade derartiger Texte Lücken bleiben – sei es, dass einzelne Wörter nicht oder nicht sicher entziffert werden können, sei es, dass einwandfrei zu lesende Stellen in ihrer inhaltlichen Bedeutung dunkel bleiben. So verbirgt sich etwa hinter dem „H. von Berchem“ in unserer Liste wohl der Geheime Rat Georg von Berchem. Warum Leibniz seinen Namen notiert hat, lässt sich jedoch bestenfalls erahnen.
Abbildung: To-Do-Liste für die Reise nach Berlin, Ende April 1700, © BBAW Archiv, PAW (1700-1811) I-I-2 Bl. 7r. (Detail oben links).
Wenn sich trotz dieser Schwierigkeiten die Mehrzahl der Einträge zuverlässig deuten lässt, liegt dies weniger am Ingenium der Bearbeiter, sondern vor allem daran, dass die damit angesprochenen Themen zugleich in den Denkschriften zur Akademiegründung und in anderen Aufzeichnungen, nicht zuletzt auch in Leibnizʼ umfangreichem Briefwechsel diskutiert worden sind. Auf diese Weise wird so manche kryptische Notiz nicht nur durchsichtig, sondern auch in ihren Kontext gestellt und gewissermaßen von Leibniz selbst kommentiert. Umgekehrt kann eine To-Do-Liste zeigen, wie unterschiedliche, in verschiedenen Kontexten und mit je anderen Briefpartnern besprochene Themen zusammenhingen.
Ein volles Programm
Derartige To-Do-Listen, sind sie erst einmal entziffert und kommentiert (so gut und so weit es eben geht), bieten also hervorragende Quellen, wenn man wissen möchte, was Leibniz in Berlin so tat oder jedenfalls tun wollte – nicht allein für die Gründung der Akademie. Die hier beispielhaft vorzustellende To-Do-Liste muss Ende April 1700 auf der Reise dorthin während eines Aufenthalts in Wolfenbüttel entstanden sein.
Abbildung: To-Do-Liste für die Reise nach Berlin, Ende April 1700, © BBAW Archiv, PAW (1700-1811) I-I-2 Bl. 7r.
Leibniz' Blick geht nicht nur voraus nach Berlin, sondern auch zurück nach Hannover, wenn er sich notiert, bei seinem dortigen Gehilfen Johann Georg Eckhart nachzufragen, ob dieser seine Briefe aus Celle und Engensen noch nicht erhalten habe.
Abbildung: To-Do-Liste für die Reise nach Berlin, Ende April 1700, © BBAW Archiv, PAW (1700-1811) I-I-2 Bl. 7r. (Detail oben rechts)
Bei manchen Stichworten ist der Bezug zur Akademiegründung eindeutig zu erkennen, etwa, wenn Leibniz notiert: „Beym observatorio Windzeiger“. Mit dem „observatorio“ ist die Sternwarte gemeint, die auf einem der Pavillons des Neuen Marstalls errichtet werden sollte und gleichsam den Kern des Akademieprojekts bildete. Die Notiz zeigt, dass Leibniz das Observatorium nicht nur für astronomische, sondern auch für meteorologische Beobachtungen nutzen wollte.
Abbildung: Das Observatorium der Akademie © BBAW Archiv, Fotosammlung, Institute und Einrichtungen, Akademiegebäude mit Observatorium (1.H. 18. Jh.), Nr. 4g.
Das nächste Stichwort lautet: „Tempio di S. Petron[io]“. Wer hier eher Italien als Berlin heraushört, liegt richtig. Leibniz bezieht sich auf die Kirche San Petronio in Bologna, in welcher der Astronom Gian Domenico Cassini einen Meridian für astronomische Messungen hatte installieren lasse.
Abbildung: Der Meridian in San Petronio in Bologna © Creative Commons, CEphoto, Uwe Aranas.
In Berlin setzte Leibniz eine unvollendet gebliebene Denkschrift auf, die eine entsprechende Nutzung großer Kirchen vorschlug, nämlich der Dome von Magdeburg, Halberstadt, Minden und Brandenburg. Besser noch seien Bauten geeignet, die nicht mehr für den Gottesdienst genutzt würden. Das ideale Observatorium – frei auf einem Hügel stehend und ungenutzt – fand Leibniz in der Marienkirche auf dem Harlunger Berg bei Brandenburg an der Havel. Sie hätte das märkische San Petronio werden sollen (und diesen bedeutenden Bau vielleicht vor dem Abriss bewahrt).
Abbildung: Zacharias Gartz (Garcaeus): Ansicht der Marienkirche aus dem Jahr 1582 © gemeinfrei.
Wollte Leibniz also einerseits die brandenburgisch-preußischen Territorien für Beobachtungen und Forschungen heranziehen, sollte andererseits die Akademie den allgemeinen Nutzen befördern, also aufklärend und fördernd in Gesellschaft, Wirtschaft und Administration eingreifen. Deshalb gehen Akademie-Betreffe und allgemeinere Reformvorschläge ineinander über. Dazu zählt etwa die von Leibniz in der To-Do-Liste unter dem Stichwort „Feuersgefahr“ angesprochene Thematik.
Sie hat ihn sowohl unter dem Aspekt der Bekämpfung von Bränden (Feuerspritzen) wie der Milderung ihrer wirtschaftlichen Folgen (Feuerversicherung) interessiert. Dass diese Aspekte für Leibniz mit der Akademie-Gründung verbunden waren, wird in seinen „Gedancken von Aufrichtung einer Societatis scientarium et artium“ deutlich, wo er vorschlug, regelmäßige Beiträge von den städtischen Hausbesitzern zu erheben, mit denen neuartige Feuerspritzen angeschafft und unterhalten werden sollten, der (eingeplante) Überschuss aber der Akademie zugutekommen sollte. Tatsächlich gelang es Leibniz, ein Edikt zu erwirken, kraft dessen die Akademie in den Städten die neuen Feuerspritzen einführen und warten sollte, wofür sie im Gegenzug jährliche Zahlungen einziehen könnte. Praktisch wirksam geworden ist dieses Edikt allerdings nicht. Immerhin hat sich in Leibnizʼ Nachlass eine Zeichnung von unbekannter Hand erhalten, die eine derartige Feuerspritze in Aktion zeigt.
Abbildung: Eine Feuerspritze im Einsatz; Zeichnung aus Leibniz' Nachlass © GWLB Hannover, LH XXXVIII Bl. 151v-152r.
Dazu kommen viele Stichworte, die gar keinen Bezug zur Akademiegründung besitzen: etwa zum Münzwesen, zur Preispolitik und überhaupt zur kameralistischen Wirtschaftsweise, Leibrenten, Kreditanstalten für einfache Leute (Montes pietatis), Flachsanbau usw. Darunter finden sich Lieblingsprojekte von Leibniz wie das „Breviarium principatus“, in dem die wichtigsten Daten und Fakten des Staatswesens zusammengefasst werden sollten, um dem Fürsten kompetente Entscheidungen zu ermöglichen. Eine derartige Zusammenstellung hatte er schon 1680 seinem neuen Landesherrn Ernst August vorgeschlagen und 1688 in Wien dem Kaiser. Nun wollte er sie offenbar auch in Berlin propagieren.
Abbildung: To-Do-Liste für die Reise nach Berlin, Ende April 1700, © BBAW Archiv, PAW (1700-1811) I-I-2 Bl. 7r. (Detail unten links)
Leibniz hatte noch einen Koffer in Berlin
Auf den ersten Blick kann man es als selbstverständlich ansehen, dass unsere To-Do-Liste im Archiv der BBAW überliefert ist. Schaut man etwas genauer hin, wird man jedoch ins Grübeln kommen: Handelt es sich bei diesem Zettel nicht um eine höchst persönliche Aufzeichnung? Wie kommt er dann in die amtlichen Akten der Akademie – mit der viele Stichpunkte gar nichts zu tun haben? Und welches Interesse sollte man in der Akademie an der Aufbewahrung eines solchen scheinbar belanglosen Zettels gehabt haben? Das ist überhaupt der erstaunlichste Punkt, dass eine derartige To-Do-Liste nach mehr als 300 Jahren immer noch existiert und nicht schon von Leibniz bereits wenige Wochen später weggeworfen oder als Schmierpapier weiterverwendet worden ist.
Tatsächlich scheint unsere Liste nicht den ‚normalen‘ Weg in das Akademiearchiv genommen zu haben, sondern über einen Umweg dorthin gelangt zu sein. Leibniz hatte nämlich eine Kiste und einen Koffer mit Papieren neben anderen Dingen in Berlin zurückgelassen. Noch ein halbes Jahr vor seinem Tod bat er einen Berliner Korrespondenzpartner, ein Auge darauf zu haben, damit diese Sachen nicht verloren gingen. Nach Leibnizʼ Tod sind sie jedoch nicht nach Hannover gelangt, sondern in Berlin geblieben und schließlich von dem hugenottischen Prediger Charles Etienne Jordan (1700-1745) aufgekauft worden. Über Jordan, der kurz vor seinem frühen Tod Vizepräsident der Akademie geworden war, dürfte diese To-Do-Liste zusammen mit anderen Leibniz-Manuskripten an die Akademie und schließlich in ihr Archiv gekommen sein.
Die vorgestellte To-Do-Liste ist ediert in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe IV: Politische Schriften, Bd. 8: 1699-1700, Berlin 2015, N. 73, S. 411-415 (online: http://leibniz-potsdam.bbaw.de/bilder/IV8text.pdf)
Autor: Stephan Waldhoff, Leibniz-Edition Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Online-Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“:
Das Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“ stellt mit Expertenbeiträgen über das Leibniz-Jahr 2016 hinweg jeden Monat ein Archivale oder eine Handschrift vor. Ziel ist es, einerseits die grundlegende Bedeutung von Leibniz für die Akademiegeschichte herauszustellen und andererseits die Arbeit „an Leibniz“ sichtbar zu machen, die tagtäglich an der Akademie stattfindet. Die gezeigten „Objekte“ zeichnen in ihrer Gesamtheit ein ganz eigenes Bild vom Leben und Wirken des großen Visionärs.