Leben 3.0 Abstracts
Leben 3.0 und die Zukunft der Evolution
Donnerstag, 16. September 2010 (Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Hörsaalruine)
Kerstin Palm: Zwischen animalisiertem Hominiden und humanem Primaten - Evolutionstheorie als anthropologische Herausforderung
Life Sciences - die neue Leitwissenschaft?
Christoph Markschies: Was wird unter Life Sciences verstanden? Was sollten wir darunter verstehen?
Karl Sperling: Biologische und kulturelle Evolution des Menschen – quo vadis?
Nicole Karafyllis: Provokation als Methode der biotechnischen Evolution
Freitag, 17. September 2010 (Akademiegebäude am Gendarmenmarkt, Einstein-Saal)
Was bedeutet die Entschlüsselung des Genoms für uns?
Hans-Hilger Ropers: Das „1.000 $-Genom“ und seine Folgen für die Forschung und Krankenversorgung
Jörn Walter: Epigenetik: Der zweite Code - welche zusätzlichen Informationen enthält unser Genom?
Synthetische Biologie - Leben aus dem Labor?
Roland Eils: Synthetische Biologie: Paradigmenwechsel in den Lebenswissenschaften oder alter Wein in neuen Schläuchen?
Kristian Köchy: Konstruktion von Leben? Herstellungsideale und Machbarkeitsgrenzen in der Synthetischen Biologie
Bettina Bock von Wülfingen: Leben in Produktion oder wer fürchtet die Chimäre?
Schöner, schneller, schlauer - Human Enhancement
Klaus Lieb: Möglichkeiten und Grenzen des neuropharmakologischen Enhancements
Arnold Sauter: Pharmakologische Leistungssteigerung - doch wozu? Human Enhancement zwischen Utopie und Trivialität
Dirk Lanzerath: Enhancement und Perfektionierung zwischen Begrenzung und Entgrenzung
Perspektivenwechsel: Wissenschaft und Kunst
Ursula Damm: Wirklichkeiten von Technik
Reiner Maria Matysik: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Kunst
Frank Rösl: Kunst und Grundlagenforschung: unüberbrückbare Gegenwelten?
Abstracts
Prof. Dr. Kerstin Palm, Institut für Energietechnik, Technische Universität Berlin
Die Darwinsche Evolutionstheorie hatte und hat bis heute ambivalente Auswirkungen auf die Formulierung eines wissenschaftlichen Menschenbildes. Auf der einen Seite bewirkte sie einen außerordentlichen Animalisierungsschub, der zu einer massiven Zurücknahme menschlicher Selbstbestimmungsmöglichkeiten zugunsten eines Entwurfes vom Menschen als überwiegend triebgeleitetem Wesen führte. Auf der anderen Seite konnte mit evolutionstheoretischen Begründungen eine neue säkulare Idee vom exklusiven Humanen entworfen werden, welches gerade durch die Bindung an das Biologische zur Souveränität und Autonomie bestimmt ist. Der Beitrag skizziert zentrale Argumente dieser beiden Positionen, die bis heute die Kontroversen um die Bedeutung der Evolutionstheorie für das Selbstverständnis des Menschen bestimmen, und sondiert dessen Konsequenzen, die sich zwischen den Forderungen um Triebkontrolle bzw. Enhancement auf der einen Seite und einem Beharren auf der Unantastbarkeit der säkularen Schöpfungsgeschichte andererseits bewegen. Durch die neueren Erkenntnisse in der Epigenetikforschung, die eine direkte Einwirkung gesellschaftlicher Bedingungen auf vererbbare Entitäten denkbar werden lassen („Neolamarckismus“), werden allerdings beide Positionen noch einmal in ganz neuer Weise herausgefordert. Denn damit werden die biologische und die kulturelle Evolution, die vormals als unabhängig voneinander gedachte Entwicklungsstränge verstanden wurden, und die sich entweder überlagern (1. Position) oder auseinander hervorgehen (2. Position), in neuer Weise miteinander verquickt. Die daraus resultierende Kulturalisierung des Biologischen bzw. auch Biologisierung des Kulturellen wird abschließend zur Diskussion gestellt.
Provokation als Methode der biotechnischen Evolution
Prof. Dr. Nicole C. Karafyllis, Seminar für Philosophie, Technische Universität Braunschweig
Wenn wir von „biotechnischer Evolution“ sprechen, so sind damit technische Eingriffe in Lebewesen gemeint, die für Gegenwart und Zukunft zu erstrebenswerten Eigenschaften des Lebendigen führen sollen. Im biotechnischen Jargon nennt man die genetischen Garanten dieser Eigenschaften „elite events“. Sie stehen im Dienste der sogenannten Euphänik. Anders als bei der (1.) Erzeugung vollkommen technisch geschaffener Erzeugnisse, bei denen nur Form und/oder Funktion an Lebewesen erinnern (etwa sogenannte Biobots), und ebenfalls anders als bei den meisten Erzeugungsversuchen der (2.) Synthetischen Biologie, die von einer elementaren Synthese der Lebewesen inspiriert ist, handelt es sich bei (3.) Biofakten um Lebewesen, die schon sind. Um sie technisch zu modellieren, bedient man sich ihres eigenen Wachstums als Medium der Erzeugung und Zeugung (inklusive der Reproduktion) und einer spezifischen Methode der Modellierung: der Provokation.
Was bedeutet die Entschlüsselung des Genoms für uns? Das ‚1000 Dollar-Genom’ und seine Folgen für die Forschung und Krankenversorgung
Prof. Dr. Hans-Hilger Ropers, Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, Berlin
Während der vergangenen zehn Jahre sind die Kosten für die DNS-Sequenzierung exponentiell gesunken, von ca. 3 Milliarden Dollar auf gegenwärtig 10.000 Dollar für das gesamte menschliche Genom, und schon in wenigen Jahren wird es möglich sein, das ganze Genom für weniger als 1000 Dollar zu sequenzieren. Diese Entwicklungen eröffnen neue Chancen für die Erforschung von häufigen Volkskrankheiten, die sich als weitaus schwieriger erwiesen hat, als allgemein erwartet. Wesentlich mehr wird davon jedoch die Erforschung von Krankheiten profitieren, die auf Defekte einzelner Gene zurückgehen. Diese ernsten Störungen treten meist bereits im Säuglingsalter auf, und ihr Wiederholungsrisiko in Familien beträgt 25 oder sogar 50%. Bis heute sind nur ca. 10% der menschlichen Gene mit Krankheiten in Verbindung gebracht worden, jedoch ist dies sicher nur die Spitze des Eisberges. Daher konzentriert sich die internationale Genomforschung jetzt zunehmend auf diese früher vernachlässigten ‚Orphan Diseases’ und auf die Entwicklung von universellen Tests zur Erkennung von Anlageträgern. Derartige non-invasive Tests bieten Eltern neue Möglichkeiten zur Vermeidung schwerer Krankheiten bei ihren Nachkommen, analog zur seit 40 Jahren angebotenen Pränataldiagnose von Chromosomenveränderungen bei älteren Müttern. Nach Ansicht amerikanischer Fachleute wird die Genomsequenzierung bei Neugeborenen bereits innerhalb von zehn Jahren etablierter medizinischer Standard sein, wenn die Kosten dafür weiter fallen. Jedoch wird dies viele neue Fragen aufwerfen, die uns alle angehen und deren Beantwortung wir deshalb nicht den Fachleuten überlassen sollten. Eine bessere Information der Bevölkerung über diese Entwicklungen ist dafür unerlässlich. Die sich abzeichnende Revolution im Bereich der genetischen Forschung und Diagnostik, der daraus folgende explosionsartige Wissenszuwachs und der rasch zunehmende Beratungsbedarf wird schließlich ganz neue Anforderungen an die Organisation der genetischen Krankenversorgung stellen. Für Deutschland wird es höchste Zeit, sich diesen Entwicklungen zu stellen.
Leben in Produktion oder wer fürchtet die Chimäre?
Dr. Bettina Bock von Wülfingen, Institut für Kulturwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Chimären sind Mischwesen, die vor allem durch medizinische Eingriffe und in der Agrarproduktion entstehen. An Menschen, Tieren und Pflanzen werden Organe und Substanzen verschiedener Lebewesen zu einem zusammengeführt. Grenzen, die zuvor selbstverständlich schienen, stehen damit in Frage und neue Entscheidungen sind zu treffen. Dies beginnt bereits mit jener Grenze zwischen Natur und Kultur. Wo beginnt Evolution? Und endet sie an der Labortür? Welche Bedeutung hat es, wenn es dagegen heißt, „wir“ hätten ohnehin schon immer in die Evolution eingegriffen? Dieser Beitrag befasst sich mit der internationalen und intentionalen Verschiedenheit der Argumentationen für und wieder dem Ziehen und Verschieben von Grenzen anhand des Beispiels der Chimäre und früherer biomedizinischer ‚Grenzdebatten’.
Möglichkeiten und Grenzen des neuropharmakologischen Enhancements
Prof. Dr. Klaus Lieb, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz
Unter „neuropharmakologischem Enhancement“ versteht man den Versuch gesunder junger und alter Menschen, ihre geistige Leistungsfähigkeit bezüglich Wachheit, Konzentration, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Stimmung oder sozialer Kontaktfähigkeit durch die Einnahme psychoaktiver Substanzen zu steigern. Der Begriff „Hirndoping“ ist enger gefasst und meint in Anlehnung an den Dopingbegriff im Sport neuropharmakologisches Enhancement durch „verbotene“ Substanzen wie z. B. verschreibungspflichtige Medikamente oder illegale Drogen. Der Vortrag setzt sich kritisch mit dem Thema auseinander und beantwortet Fragen zur Häufigkeit von neuropharmakologischem Enhancement in der Bevölkerung, den Motiven der Konsumenten, Wirkungen und Risiken der eingesetzten Substanzen, der Gesetzeslage und, ob sich das Gehirn überhaupt grenzenlos optimieren lässt bzw. wo die biologischen Grenzen der Substanzen liegen.
Pharmakologische Leistungssteigerung – doch wozu? Human Enhancement zwischen Utopie und Trivialität
Dr. Arnold Sauter, Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Berlin
Unter dem Begriff „Human Enhancement“ werden seit einigen Jahren, vor allem aus techniksoziologischer und bioethischer Perspektive, sowohl bio- und medizintechnische Entwicklungen als auch der veränderte Umgang wachsender Teile der Gesellschaft mit pharmakologisch wirksamen Substanzen verhandelt. Es geht dabei um „Interventionen in den menschlichen Körper“, die eine subjektive oder objektive Leistungssteigerung bewirken sollen, wozu im weiten Sinn auch eine Stimmungssteuerung oder kosmetische Optimierungen gezählt werden. Von naturwissenschaftlicher Seite gibt es Forderungen nach einer intensiveren, systematischen Erforschung leistungssteigernder Mittel und Methoden. Im Gesundheits- und Sozialbereich dominieren Warnungen vor wachsenden inneren und äußeren Zwängen zum pharmakologischen „Alltagsdoping“ im Kontext einer zunehmenden Dienstleistungs- und Wunscherfüllungsmedizin des zweiten Gesundheitsmarkts. Der Vortrag versucht eine realitätsbezogene Einordnung der unter dem Sammel- und Stellvertreterbegriff (Neuro-)Enhancement subsumierten, heterogenen Phänomene. Aus Sicht der politikberatenden Technikfolgenabschätzung resultiert die vorrangige gesellschaftliche Relevanz aus der wenig glamourösen Betrachtung von „Enhancementtendenzen“ als Teil der Medikalisierung einer Leistungssteigerungsgesellschaft. Diese hat weitreichende Konsequenzen für das Gesundheitssystem und die psychosozialen Kompetenzen bei der Problembewältigung, trägt jedoch weniger zu einem wissenschaftlich-technisch fundierten Verständnis der „Verbesserung des Menschen“ bei.
Kunst und Grundlagenforschung: unüberbrückbare Gegenwelten?
Prof. Dr. Frank Rösl, Forschungsschwerpunkt Infektionen und Krebs, Angewandte Tumorvirologie, Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg
Forschung basiert im Wesentlichen auf individueller Kreativität, deren Entfaltung allerdings oft durch einen vorgegebenen wissenschaftlichen Diskurs eingeschränkt wird. Die treibenden Kräfte für innovative Fortschritte sind also nicht nur auf Ambitionen und Neugier einzelner Forscher/innen zurückzuführen, sondern auch auf deren Fähigkeit und Autonomie, sich neuen konzeptionellen Denkansätzen und Methoden zu öffnen. Der Gedanke, eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst zu schaffen, ist gewiss nicht neu, wohl aber im Hinblick auf die gegenwärtige Entwicklung immer noch hochaktuell. Denn nicht nur die Kunst, sondern auch die Wissenschaft arbeitet mit Bildern, Symbolen und Metaphern, bedient sich der Intuition und nutzt Zufälle.
Ist es daher nicht legitim zu fragen, inwieweit nicht ebenso Wissenschaftler/innen von Künstler/innen lernen sollten, beispielsweise bei der Schaffung neuer Sichtweisen von belebten Prozessen sowie bei der Gestaltung alternativer wissenschaftlicher Modelle? Eine interdisziplinäre Annäherung, so lautet die These, wäre nicht nur eine Bereicherung für die Kunst als Mittlerin zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, sondern würde auch Naturwissenschaftler/innen zu neuen Perspektiven verhelfen. Deshalb gilt es zu diskutieren, inwieweit sich die Wissenschaft der Kunst aktiv öffnen sollte, um auch künstlerische Ideen und kreativ-schöpferische Ansätze in die Generierung wissenschaftlicher Konzepte mit einzubeziehen.