1Die im 15. Jahrhundert mit der „Großen Wildnis“ in Masuren belehnten Lehndorffs gehörten zu den großen Adelsfamilien Ostpreußens. Noch im 17. Jahrhundert zählte die am 23. Februar 1687 durch Kaiser Leopold in den Reichsgrafenstand erhobene Familie zu den wenigen adligen Familien deutscher Herkunft in Masuren, die auch über Besitz in Litauen verfügten. Der Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Wandel politischer und kultureller Bezüge, der damit verbundene Verlust traditioneller Orientierungen zeigte langfristig Wirkung, wenngleich noch 1812 Graf Lehndorff als „der bedeutendste Gutsbesitzer der Provinz“[1] galt.[1] Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Preußens unter Friedrich Wilhelm III. vorzugsweise aus dem Nachlass von F. A. Stägemann hrsg. von Franz Rühl, Bd. 1, Leipzig 1899, S. 256-258.

2Die ländliche Lebenswelt, die amtlichen und politischen Kontakte, beruflichen Laufbahnen, Kommunikations- und Heiratskreise, soziales Engagement, Repräsentation und Geselligkeit der Lehndorffs – abgebildet in der Überlieferung ihres Archivs – bilden eine gute Grundlage, um Kontinuität und Wandel der Lebenswelten, Erfahrungsräume und politischen Horizonte des ostpreußischen Adels vom 18. bis in das 20. Jahrhundert zu rekonstruieren.

Lebenswelten

3Über Jahrhunderte hinweg war Schloss Steinort, der am Mauersee errichtete Stammsitz der Familie, mit seinen Bällen, Konzerten und Jagden „ein Sitz der Freuden und des Vergnügens“. Das kulturelle Leben Steinorts, dessen Teilhaberkreis anhand der Quellen zu identifizieren sein wird, fand seine Fortsetzung in Berlin, Königsberg und Gastein. Bekannt ist, dass der Schlossbau aus der Barockzeit von regionalen Gewerken nach dem Vorbild des Palais Schwerin am Berliner Molkenmarkt ausgeführt wurde. Auch für spätere repräsentative Bauten setzten die Lehndorffs auf preußische Architekten wie Genelli, Langhans, Lenné, Stüler und regionales Handwerk. Ob sie sich wie die Dohnas (Schlobitten) auch außerpreußische Anregungen holten, ist an den Quellen noch zu prüfen. Interessant ist auch die Bezugnahme auf die in der Familiengeschichte tradierte Beziehung zum Deutschen Orden in den baulichen Veränderungen und der künstlerischen Ausgestaltung im 19. Jahrhundert.

4Immer war der ländliche Besitz in Masuren Bestandteil der Lebenswelt. Über Jahrhunderte waren die Lehndorffs als Patrimonialherren, als Kirchen- und Schulpatrone mit der baulichen und kulturellen Entwicklung der Dörfer und Vorwerke verbunden, fühlten sich in der Verantwortung für die Einwohner der Güter, hatten Anteil an lokaler Wirtschaft und Kultur. Sie engagierten sich für soziale Einrichtungen (Waisenhäuser Rosengarten und Drengfurth; Siechenhaus Angerburg) ebenso wie für die Epileptikeranstalt Rastenburg oder die Industrie-Schule in Taberlack.

5Um 1800 war augenfällig, dass die Bewirtschaftung der Güter Veränderungen erforderte. Meliorationen waren notwendig, der Mangel an Arbeitskräften offensichtlich. Die spätestens in den 1830er Jahren begonnene Modernisierung der Landwirtschaft nach den Methoden Thaers, der Einsatz von Dampfkraft, Meliorationsmaßnahmen, die Einrichtung einer Schaf- und Pferdezucht, um die Güter wettbewerbsfähig zu machen, mündeten in der Führung der Gutsherrschaft als landwirtschaftliche Unternehmung in den 1850er Jahren.

6Dies und die Auswirkungen, die eine um 1879 einsetzende landwirtschaftliche Krise auf die Güter hatte, an deren Ende die Zwangsverwaltung stand, sind an den Quellen zu untersuchen. Hierzu gehören Strategien der Familie zur Besitzwahrung zwischen Erbfolgegesetzgebung (1837) und Fideikommiss-Stiftung (1850/1871), aber auch die Umwandlung in ein „Waldgut Steinort“, prototypisch für die heutigen Landschafts- und Nationalparks.

7Neben dem Gutsbesitz in Masuren besaßen die Lehndorffs umfänglichen Grundbesitz in Königsberg und Berlin. Haus Solitude im österreichischen Gastein war lange Zeit als Vermietungsobjekt Einnahmequelle und zugleich Bindeglied zum europäischen Adel und zur Hochfinanz. Am Ende des 19. Jahrhunderts scheint es von anderen Häusern in Gastein „überholt“ worden zu sein, teure Modernisierungen standen an, die Preise ließen sich nicht unendlich erhöhen, Einkünfte und Ausgaben waren nicht mehr ausbalanciert. Hierzu geben die Akten des Familienarchivs nur wenig preis, weitere Quellen sind einzubeziehen.

8Zu fragen ist, inwieweit die ökonomische Krise Einfluss auf die adlige Lebensweise nahm, beispielsweise durch die Erschließung bürgerlicher Berufsfelder am Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu hinterfragen ist, ob sich ein repräsentatives Haus, Wohltätigkeit, Ausgaben für Kunst, Bibliothek, Familienforschung, aber auch Pferderennen angesichts der betriebswirtschaftlichen Ergebnisse der Grafschaft Steinort und der Misserfolge im Aktiengeschäft und Grundstücksspekulationen am Ende des 19. Jahrhunderts noch vereinbaren ließen. Zu denken ist hier vor allem an Anna von Lehndoffs umfangreiche Aktivitäten. Dass von ihr 1888 die Initiative ausging, den verstorbenen Kaiser Wilhelm I. in Berlin durch Kirchenbauten der Provinzen zu ehren, für das sie in der Provinz Unterstützer suchte ist bisher in der Forschung unbekannt.

Erfahrungsräume

9Zu den Erfahrungsräumen gehörten schulische und universitäre Bildung. Die Lehndorffs erhielten ihre Bildung durch Hauslehrer, dann an angesehenen Bildungseinrichtungen des Landes, die ihnen den Weg in Militär und Diplomatie ebneten. Reputation und Erziehungsideale von Lehrern und Schulen spiegeln sich in der Korrespondenz.

10Die verwandtschaftlichen Beziehungen reichten über die Familien Schlippenbach und Schmettau (Brandenburg), Haeseler (Herzogtum Magdeburg), Dönhoff, Eulenburg, Kanitz, Kalnein und Wallenrodt (Ostpreußen), Hahn, Schwerin und Podewils (Pommern) weit auch in andere Regionen hinein. Ob bestimmte Adelslandschaften bevorzugt wurden, ob konfessionelle Bindungen eine Rolle spielten – die Lehndorffs waren wie andere bedeutende Adelsfamilien Ostpreußens sehr früh zum reformierten Bekenntnis übergetreten –, wird aus den Akten beantwortet werden. Ob die Scheidung Carl Friedrich Ludwig von Lehndorffs 1840 auch Ausdruck eines modernen Verhältnisses zu Religion und Kirche ist, bleibt zu klären. Auffallend sind eine starke Hinwendung zu religiösen Fragen sowie enge religiöse, auch politisch begründete Kontakte zu Hofprediger Stoecker am Ende des 19. Jahrhunderts .

11Kulturelle Erfahrungen brachten zahlreiche Reisen. So führte eine Bildungsreise Ende des 18. Jahrhunderts Carl Friedrich Ludwig von Lehndorff quer durch Deutschland, an die deutsche Höfe und nach Berlin. Mitte des 19. Jahrhunderts waren neben Warschau und Petersburg auch Dänemark, Holland, England, Frankreich, Italien, Malta und Spanien Reiseziele. Reisen nach Amerika und Italien im 20. Jahrhundert sind noch weiter einzuordnen.

12Überregionale Kulturbeziehungen sind für einige Lehndorffs bekannt. So verband Ernst Ahasver Heinrich von Lehndorff mit Ignacy Krasicki, Fürstbischof von Ermland, und Georg Christoph Pisanski, Theologe und Literaturhistoriker, eine enge Freundschaft. Auch Kontakt zu Immanuel Kant lässt sich nachweisen. In welchem Maße im 19. und 20. Jahrhundert weitere ähnliche Beziehungen gepflegt wurden, wird die weitere editorische Erschließung der Korrespondenzen offenlegen. Aus der Literatur bekannt ist Heinrich von Lehndorffs Verbindung zu den Berliner Salons von Marie Gräfin von Schleinitz und Clara Mundt-Mühlbach. Die Quellen des Archivs belegen das Familieninteresse an Literatur, Theater, Kunst und Geschichte. Sie zeigen auch, dass die Lehndorffs in Berlin und im liberalen Königsberg intensiven Umgang mit Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern pflegten. Daneben engagierten sie sich in historischen (Masovia, Verein für die Geschichte Ost- und Westpreußens, Oberländischer Geschichtsverein) ebenso wie in Kunst- (Königsberger Kunstverein, Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen) und vaterländischen Vereinen (Vaterländischer Frauenverein, Hilfsverein für Ostpreußen, Ostpreußischer Conservativer Verein). Für die kulturellen, auch politischen Prägungen lässt der Blick auf die Familienbibliothek Ergebnisse erwarten, über die Inventare und Korrespondenz Auskunft geben, auch hinsichtlich der Ergänzung durch Werke zur preußischen Geschichte im 19. Jahrhundert.

13Der politisch weite Erfahrungsraum – noch im 17. Jahrhundert pflegten die Lehndorffs intensive Beziehungen zum polnischen Hof – veränderte sich. Neben die bisherigen traditional-ostmitteleuropäischen Bezüge trat die enge Verflechtung zum preußischen Hof seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Lehndorffs gehörten fortan zu dessen „inner circle“ . Ihre Wahrnehmungen von der Machtzentrale der Hohenzollernmonarchie spiegeln sich in den Korrespondenzen. Als Mitgründer der ostpreußischen Südbahn und deren Verwaltungsrat angehörend, blieben sie in engem Kontakt auch zu russischen Kreisen.

Politische Horizonte

14Gegenüber der Autonomiepraxis der ostpreußischen Stände und deren Beziehung zu Russland während des Siebenjährigen Krieges blieben die Lehndorffs aufgrund ihrer engen Beziehung zum preußischen Hof zurückhaltend. Für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts und die mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ist ihr Engagement in der Ständevertretung der ostpreußischen Landschaft und die Auseinandersetzung mit verschiedenen, die Entwicklung des preußischen Staates betreffenden Themen wie Justizreform, Umsetzung der Stein-Hardenbergschen Reformen, Wegegesetzgebung oder Schuleinrichtung zu belegen. Die exponierte Rolle Carl Ludwig von Lehndorffs, der in den Befreiungskriegen zum Initiator des National-Kavallerie-Regiments wurde, gehörte zu den tradierten politischen Erfahrungen der Familie , die im preußischen Verfassungskonflikt 1862 die königstreue Deputation des Angerburger und Lötzener Kreises anführte.

15In der zweiten Jahrhunderthälfte kamen mit Herrenhaus und Reichstag, Ostpreußischem Conservativen Verein und Deutschem Offiziers-Verein (1884 durch Heinrich von Lehndorff begründet) institutionelle politische Erfahrungen hinzu. Seit deren Gründung 1876 fand die Deutschkonservativen Partei die Unterstützung der Familie. Die diplomatischen Dienste Carl Meinhard von Lehndorffs in Wien und Dresden in den 1850er Jahren und die Missionen des Flügel- bzw. Generaladjutanten Heinrich von Lehndorff im Ausland sind näher zu untersuchen, doch ist von einer Erweiterung der nationalen auf eine internationale Ebene auszugehen.

16Im 18. Jahrhundert war das Nebeneinander der deutschen und polnischen Bevölkerung in den Gütern konfliktfrei. An den Quellen bleibt zu prüfen, wie sich die Lehndorffs in den Konflikten um die Nationalisierung Masurens im 20. Jahrhundert verhielten. Welche Erfahrungen machten sie im Ersten Weltkrieg, in dem russische Kriegsgefangene auch in Steinort arbeiteten? Wie standen sie zu den Ergebnissen des Versailler Vertrages? Ergaben sich daraus politische Aktivitäten? Die humanistisch-christlich geprägte Familientradition – seit dem 18. Jahrhundert waren die Lehndorffs Johanniterordensritter – führte aus einer Passivität zum aktiven Widerstand der Familie gegenüber dem Nationalsozialismus. Heinrich von Lehndorff wurde im September 1944 wegen seiner Beteiligung am Attentat gegen Hitler in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Aufgrund der lückenhaften Überlieferungslage im Familienarchiv ist es notwendig, hierzu weitere Quellen einzubeziehen.

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