Elf Jahre sind es nun her, dass ich in Berlin bin, und elf Jahre habe ich gewünscht heraus zu sein, um mich zu vervollkommnen und mir Kenntnisse zu erwerben, die dem König, meinem Vaterland und mir selbst nützlich sein könnten. Auf diese Grundlage nämlich baue ich meinen ganzen Lebensplan. Doch trotz aller meiner Entwürfe, trotz allem, was ich angestellt habe, steh ich auf demselben Platz, wiewohl meine Talente vielleicht nicht geringer sind als die mehrerer anderer, denen alles gelungen ist. Demnach steht es wohl fest, dass es eine stärkere Macht gibt, die über uns entscheidet. Und das beruhigt mich ein wenig in meiner großen Tatenlosigkeit.   Editorische Auslassung [...]

Abends bei der Königin wieder von der ganzen Stadt geküsst und von dem ganzen Wirrwarr so ermüdet, dass ich sehnsüchtig den Augenblick abwarte, mich alledem zu entziehen, um zu Frau v. Brand soupieren zu gehen. Wir haben hier eins der drolligsten Soupers. Da ist die Marschallin Schmettow, die sich gar nicht amüsiert, indem sie keine Karten zum Spielen findet, was ihr nach dem Major Lüderitz das Liebste auf Erden ist. Die Gräfin Eickstedt, die hier mit dem eben aus Holland zurückgekommenen Grafen Wartensleben zusammen ist, würde alle Gesellschaften mit solchem Kumpan nett finden. Die kleine Göhren hofft ein Fünkchen der Liebesflamme, die sie vor acht Jahren in dem flatterhaften Herzen Wulfenstjernas entzündet hat, wieder zu entfachen, und freut sich nun der Gelegenheit, ohne zu bedenken, dass sie acht Jahre mehr zählt, recht wenig Schönheit besitzt und seit einigen Jahren in recht üblen Ruf geraten ist. Die bucklige Tante Dörtchen ist über das lange Schweigen, dass ihr alter Bülow beobachtet, niedergeschlagen und in Angst, ihn zu verlieren. Die älteste Tochter des Hauses, die in ihrem Gebaren viel Hochmut zeigt, ist in Verzweiflung sehen zu müssen, wie ihre Mutter das schlechteste Diner von ganz Berlin mit stark bordellmäßigem Anstrich gibt. Die jüngere Tochter, in ihrem Wesen das Urbild der bösen Fee, hüpft vor Freude, Gesellschaft zu sehen. Sie lag zu Bett als wir kamen, stand aber, da sie die Lust anwandelte, schnell auf und erschien mit verbundenem Kopf und stark geschminkt. Sie betreibt das Geschäft einer Sibylle, indem sie das Wahrsagen aus den Karten von Grund auf versteht. Horn und Nolcken sind über das ganze Arrangement dieses Festes höchst verwundert, wie auch über den misstönenden Gesang des Herrn Eickstedt, während ich boshafterweise erfreut bin, das ganze in Schwung zu bringen. Bei Tisch findet Frau Schmettow, eine bigotte Katholikin, keine Fastenspeise, dafür aber ein Souper, bei dem die langen Saucen und die schlechten Ragouts nicht gespart sind; kurz, es ist ein würdiges Seitenstück zu dem des Horaz und Boileau. Der Pfeffer ist nicht gespart. Nach missklingenden französischen Liedern fängt man an, unter den Servietten schmutzige Sachen herumgehen zu lassen, und die Wirtin schlägt vor, „Neujahr zu greifen‟. Man erhebt sich schnell vom Tisch, die einen in der Hoffnung, nun viel Vergnügen zu finden, die anderen mit dem Wunsch, ihre Kutschen zu finden. Aber es ist noch nicht alles zu Ende, man muss noch Rundtänze tanzen, küssen und singen. Endlich Schlag 12 schwimme ich ab und lande, wo ich kann, was auch die Schweden und Schmettow tun, während die übrige Gesellschaft schwört, sich köstlich amüsiert zu haben.

Zitierhinweis

Tagebucheintrag von Ernst Ahasverus Heinrich Graf von Lehndorff. Berlin, 1. Januar 1757. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_slh_342_ndb