adler Handschriften zu und nach der Vorlesung über Physische Geographie:
Beschreibung ›Ms Kaehler‹
Fundort: Pennsylvania (USA)
Knopf

Die Bibliothek der University of Pennsylvania besitzt*) seit dem 2. Dezember 1954 einen aus dem 18ten Jahrhundert stammenden Halblederband in quarto; Signatur: Ms Codex 1120 (vormals: Ger Ms 36). Das Exemplar ist zuvor bei der Firma F. Dörling (Hamburg) zum Verkauf angeboten worden.
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 *)  Für freundliche Vermittlung von Auskünften der Bibliothek danke ich meinem Kollegen, Herrn Steven Naragon, Manchester University, USA.

1. Die äußere Beschaffenheit

[Beschreibung der besitzenden Bibliothek in englischer Sprache].

Das Format das Halblederbandes ist Quarto. Auf der Innenseite des vorderen Deckels im oberen Drittel ein eingeklebtes rechteckiges Schildchen: »Ex libris / WILHELM VOSS / Hamburg-Altona«. Vorgebunden sind zwei leere Blätter und ein Exemplar der zwölf Druckseiten umfassenden Programmschrift: Von den / verschiedenen / Racen der Menschen (1775). Unmittelbar folgt das nicht paginierte Titelblatt mit der Aufschrift:

»Collegium / Physico Geographicum / a / Viro Excellentissimo / Professore Ordinario / Domino Kant / secundum dictata sua per- / tratum[sic!] studio vero perse- / cutum / Regiomonti / per semestre / aestivum 1775. / ab / Joanne Siegismundo / Kaehler«

Die Rückseite dieses Titelblattes ist leer. Der mit Tinte und weit überwiegend in deutscher Kurrent abgefaßte Text setzt ein auf der Vorderseite des nachfolgenden Blattes. Die zeitgenössische Seitenzählung (p.) beginnt auf der Rückseite dieses ersten Textblattes mit der arabischen Ziffer 2. Die anschließende, konsequent durchgeführte Paginierung ist auf einem angeknickten, breiten äußeren Rand ausgeführt; sie ist jedoch auffälliger Weise unmittelbar an den Text herangerückt und nicht zum Blattrand hin. Kurze Kustoden sichern stets den Übergang des Textes zur nächsten Seite. Der Text endet p. 530 mitten auf einer Seite. Er ist nahezu ohne Kürzelzeichen in leicht lesbarer Langschrift abgefaßt; Ausnahmen sind Standardzeichen für Einheiten wie ›Grad‹ und ›Pfund‹ oder das häufige Wörtchen ›und‹. Nur an einer Stelle sind Worte mit griechischen Buchstaben geschrieben; p. 483: κατ  εξωχην. Außerdem wird p. 57f. das griechische Alphabet als Zähler benutzt; schließlich ein einzelnes γ auf dem Rand von p. 40. - Eine andere zeitgenössische Hand zeigt sich kurz in einer Randnotiz p. 9: »Chorographie«, d. i. Beschreibung der Gegend oder des Landes.

Die schreibende Text-Hand ähnelt zwar der Kaehler-Hand in der etwa zur gleichen Zeit entstandenen Nachschrift der Moralvorlesung aus der Mitte der 1770er Jahre; sie ist jedoch nicht damit identisch; siehe die Abbildungen (S. XXXVI und S. 369) in Werner Stark (Hg): Immanuel Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie (Berlin 2004). Von der Sorgfalt des Schreibers zeugt auch die nur sehr geringe Anzahl von während der Abschrift mittels kurzer Streichungen korrigierten Versehen; z. B. pp. 13, 27, 37, 56 u. ö. und die wenigen (meist bemerkten) Dittographien.

Mühlenzeichen des deutlich angebräunten Papiers des Bandes sind nicht festgestellt. - In der unteren rechten Ecke zeigt sich im gesamten Band eine neuere (bibliothekarische) Blattzählung: f. 1-277. Sie endet mit der letzten beschriebenen Seite; es folgen jedoch weitere, beidseitig leere Blätter. Auf der Innenseite des hinteren Deckels sind von verschiedenen Händen mit Bleistift geschriebene Vermerke zu lesen, die offensichtlich im Zusammenhang mit der Überlieferung des Ms zu sehen sind. So ist oben z. B. vermerkt: »N. i. H., / Mit Kollegheft / aus der Zeit«; etwas darunter: »Glogau«. - Dies ist der Name einer Stadt in Niederschlesien; im heutigen Polen gelegen. Im Zusammenhang mit der Überlieferung von studentischen Nachschriften Kantischer Vorlesungen begegnet der Familienname ›Glogau‹ als Vorbesitz in der Anthropologie-Nachschrift von Johann Ephraim Reichel; vgl. Ak, XXV (1977), S. CL, Nr. 43.


2. Die innere Struktur: Typ B0

Auf vergleichsweise umfängliche ›Prolegomena‹ (p. 1-49) folgt eine zweigeteilte ›Tractatio‹: ›Sectio I‹ (p. 49-353) / ›Sectio II‹ (p. 354-530). Jede Sektion zerfällt in fünf gezählte ›Artikel‹. Zusätzlich ist der Text gegliedert: (a) eine durchgehende Zählung nach Paragraphen (§§ 1 bis 127) und (b) je eigene Numerierungen für die VI Klassen des Tierreichs.

Diese Formalia gehen einher mit der von Beginn an (1757/59) geltenden, auch bei Kaehler beibehaltenen inhaltlichen Dreiteilung (Physische Geographie / Mensch & drei Naturreiche / Erdteile: Länder & Menschen). Die erste Sektion ist ohne sprechende Überschrift. Die zweite Sektion wird mit ›Einwohner und Produkte der Erde‹ überschrieben und umgreift die Inhalte des zweiten und dritten Teils des ursprünglichen Konzeptes (Ms Holstein). Dieser dritte Teil erscheint (p. 477) als ›Art: V. Von dem Nationalcharakter, Sitten und Gebräuchen verschiedener Völker‹. Europa wird darin stillschweigend übergangen. - Damit sind zugleich die wichtigsten Kriterien für den Typ Bo der Nachschriften umrissen; zur [Typologie].


3. Einzelheiten

  1. Tabelle der Quer-Verweise
    Teil 1, p. 049-353
    [Physische Geographie]
    Teil 2, p. 354-477
    [Naturgeschichte]
    Teil 3, p. 477-530
    [Geographie]
    p. 060 (§ 13) ⇒ p. 301ff
    p. 063 ⇒ p. 060 [?]
    p. 097 (§ 23) ⇒ p. 107ff (§ 26) [vor]
    p. 107 (§ 26) ⇒ p. 113ff (§ 29)
    p. 108 (§ 26) ⇒ p. 097ff (§ 23) [zurück]
    p. 182 ⇒ p. 182 [zurück]
    p. 186 ⇒ p. 207f (§ 47) [vor]
    p. 247 (§ 51,7) ⇒ p. 242f (§ 51,4) [zurück]
    p. 310 ⇒ p. 305 [zurück]
    p. 319 (§ 66) ⇒ p. 320ff (§ 67) [vor]
    p. 320 (§ 67) ⇒ p. 303ff (§ 66) [zurück]
    p. 325 (§ 68) ⇒ p. 320ff (§ 67) [zurück]
    p. 327 (§ 68) ⇒ p. 213f. (§ 47) [zurück]
    p. 354 (§ 75) ⇒ [zurück auf die Sectio I]
    p. 395 (§ 86,17) ⇒ p. 395-397 (§ 86,18-19) [vor]
    p. 423 (§ 89) ⇒ p. 415f (§ 88,1) [zurück]
    p. 465 (§ 103) ⇒ p. 529ff (§ 102) [zurück]
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  2. Externhinweise

    Keine.


  3. Lücken
    • Augenscheinlich: Keine; jedoch scheint der Name eines sibirischen ›Stroms‹ im Auslauf der Zeile 20 auf p. 497 zu fehlen. Richtig wäre »Irtysch«; der nur im späten Ms Dohna, p. 27 genannt wird. Das Ms Kaehler teilt dieses Manko mit sämtlichen Vertretern des B-Typs.

  4. Doubletten, Dittographien und Zeilenspringer
    • Bemerkte: 056,20 / 140,14 / 193,12 / 194,13 / 299,16 / 307,14 / 338,18 / 412,06 / 437,03 / 466,14. (Rücksprünge)
    • Nicht bemerkte: 029,16 / 094,20 / 110,22 / 300,12 / 312,05 / 479,05. (Doppler)
    • Bemerkte Voraussprünge: 073,03 / 114,13 / 205,09 / 233,20 / 320,14 / 405,16 / 498,21 / 518,12.
    • Nicht bemerkter Zeilensprung: 338,13. (Auslassung)
    • Auslassung: 497,19.

    Besonderes aufschlußreich sind:

    • p. 205f.; denn das dort gestrichene Satzstück (»Weil man nun niemals die Tiefe aus welcher die Materie«) findet sich in korrektem Zusammenhang auch auf p. 206; d. h. 17 Zeilen später. Das Phänomen dürfte dadurch zu erkären sein, daß der Schreiber versehentlich eine ganze Seite seiner Vorlage - etwa beim Umblättern - übersprungen hatte. Demnach war zumindest an dieser Stelle die Vorlage nicht ganz so dicht geschrieben, wie das Ms Kaehler; denn dieses zeigt durchschnittlich 22 Zeilen je Seite.
    • p. 497; denn am Ende der vorletzten, der 19ten, Zeile ist der Name eines sibirischen Stroms ausgefallen: [Bild_p 497]. In sämtlichen weiteren Texten des B-Typs fehlt der Name ebenfalls - allerdings nicht an einem Zeilenende: (Werner, p. 571 / Fehlhauer, p. 274 / Wolter, p. 258 / Messina, p. 343 / Busolt, p. 324). Der Sache nach ist wohl der Irtysch gemeint; der nur unter den teils kryptischen Zusätzen des Ms Friedländer (vor 1778, p. 393) und im Ms Dohna (1792, p. 27) explizit genannt wird.


  5. Einzelbeobachtungen

    Die Handschrift zeigt auf den Rändern von p. 39-41 eine sachlich in sich geschlossene Anmerkung (nicht von der Text-Hand und sehr kompress geschrieben), die allem Anschein nach nicht zur Nachschrift der Vorlesung gehört; vgl. die Parallelstellen: Ms Werner, p. 36ff. und Ak, IX: 173ff. (Rink-Text). Die Marginalie beginnt mit einer sehr zart ausgeführten Skizze: ein Kreis mit Hilfslinien, die Meridian-Linien und einen Aequator andeuten; eingelagert (p. 40 oben) ist eine weitere, komplexere Skizze, die im Marginaltext erläutert wird. Diese Skizzen ähneln sehr den sachlich entsprechenden im Tafel-Teil des Lehrbuches von Lulofs.

    Auf diese Marginalie folgt eine wohl von der Text-Hand stammende Skizze (p. 42 unten): Ein Kreis mit vier Jahresdaten zu Positionen der Erde für ihren Jahreslauf um die Sonne (Sol).

    Ein anderes auffälliges Merkmal sind 9 (neun) kurze, teils aus dem Zusammenhang ausscherende Absätze, die mit »Annot« oder »Annotat« - also ›Annotatio‹ / ›Anmerkung‹ - eingeleitet werden. Diese Formulierungen sollen wohl andeuten, daß die je folgende Passage in einer der Abschrift zugrunde liegenden Vorlage als Anmerkung (vielleicht auf dem Rand einer Seite) geschrieben worden sind. Derartige Vermerke finden sich pp.: 214, 267, 274, 281(2), 335, 363 und 497(2). - Das Parallel-Heft (Typ B0) Ms Werner zeigt diese Eigenheit gleichermaßen; drei Hefte vom Typ B1: Messina (p. 342), Fehlhauer (p. 274) und Wolter (p. 257f.) haben nur die beiden letzten Stellen davon bewahrt; sie liegen in dem allen gemeinsamen, in engerem Sinn geographischen Teil des Textes.

    Das wohl für den vortragenden Kant charakteristische rhetorische Element von eingestreuten expliziten ›Fragen‹ zieht sich sporadisch durch den gesamten Text, pp.: 83, 185, 189, 201, 231, 288, 369, 424, 446.

    Ganz am Ende des dem Luftkreis gewidmeten vierten Artikels ist p. 301 ein indirekter Hinweis auf die Zeit der Abfassung des Ms enthalten: »in Königsberg jetzo [...]. In Paris hat die Abweichung [der Magnetlinien] seit dem vorigen Jahre [...]«; zu verbinden mit p. 215: »(Anno 1766 stand dieselbe zu Dantzig justement in Norden, jetzo aber im zwölften Grade davon)«. Siehe dazu die Ausführungen von Erich Adickes 1913, S. 65f. zum Ms Werner, p. 331 und  226; resp. zur Rink-Edition (Ak, IX: 273,14ff.), die darauf hinauslaufen, die Bemerkung auf den Sommer 1775 (oder allenfalls den des Jahres 1774) zu datieren.

    Im ›Tierreich‹ endet (p. 409) die Aufzählung der vierfüssigen Landtiere mit der Nr. 38 ›Maulwurf‹, die übrigen, später geschriebenen Handschriften des B-Typs haben sämtlich zusätzlich eine Nr. 39 ›Stachelschwein‹. Das Tier ist schon zuvor bei Holstein, p. 154f. und Hesse (1770), p. 109 und p. 116 auf Grundlage des Lehrbuches von Halle (1757) beschrieben. - Die nur wenige Zeilen einnehmende Passage ist in den späteren Heften des B-Typs fehlerhaft plaziert. Denn diese ›Stacheltiere‹ werden bei Halle unmittelbar vor dem ›Geschlecht der Hunde‹ abgehandelt. Die ›Stacheltiere‹ gehören demnach nicht an das Ende der ›Landtiere‹, wie bei den späteren Handschriften des B-Typs anscheinend der Fall.

    Allen vorhandenen Handschriften des B-Typs ist gemeinsam, daß die ›Kriechtiere‹ (Linné 1758: vermes) im ›Tierreich‹ nicht wie sonst (Typen: A, C, D) als vorletzte Klasse unmittelbar vor den ›Vögeln‹, sondern zwischen den ›See-‹ und ›Schalentieren‹ abgehandelt werden.


    Hinweise zur nicht ganz stabilen Orthographie:

    • Meinung (3) / Meynung (15)
    • dialekt-bedingte Fehler, zugleich Anlaß für Korrektur(en): Anspielung / Anspülung; Dünste / Dienste; Kiste / Küste; lädige / ledige; Seile / Säule; Springe / Sprünge; Uhrgeheise / Uhrgehäuse.


4. Summarische Charakteristik

Das Ms ist die älteste der bekannt gewordenen vollständigen Nachschriften der Vorlesungen über Physische Geographie, die zweifelsfrei nach Etablierung der Anthropologie-Vorlesung im Wintersemester 1772/73 entstanden sind. Einzig die Marginalien und Zusätze des Ms Philippi gehen allem Anschein nach auf eine frühere Vorlesung zurück: Sommer 1773. Vielfach ist der Kaehler-Text dem des von Erich Adickes 1913 vorgestellten Ms (d. i. Ms Werner) überlegen. Der Text der Seiten 1-215 entspricht der Ausgabe von Friedrich Theodor Rink nach Ak, IX: 156,02 - 273,20.


Datum: April 2016 / März bis Juni 2017 / 31.08.2017 / 25.05.2018 / 05.10.2018 / 17.10.2018 / 07.01.2019.