Heft 1 - Stephan Albrecht: WISSENSCHAFT ALS HERMETISCHE ÖFFENTLICHKEIT


"Was alle gegenwärtigen Naturwissenschaften vereint, ist eine tiefe Verachtung für das, was nicht durch einen undurchdringlichen Panzer fachmännischer Unverständlichkeit geschützt ist. Sie erkennen einander dadurch, daß sie einander nicht verstehen."

Erwin Chargaff: Wehklage über das Verschwinden der Dryaden, 1996


Hermetisch nennen wir üblicherweise: etwas,das durch eine hochwirksame Grenze von seiner Umgebung getrennt ist; etwas sehr weitgehend Abgeschlossenes, in das von außen gar nicht oder nur unter Mühen, möglicherweise auch Gefahren, Einblick genommen werden kann. Also recht eigentlich das Gegenteil von öffentlich und Öffentlichkeit. Kann es so etwas wie eine hermetische Öffentlichkeit mit Bezagauf die Wissenschaften überhaupt geben? Um diese Frage zu beantworten, ist es unerläßlich, wissenschaftliche Praxis nicht allein als individuelle Tätigkeit oder gar als intellektuellen Vorgang zu sehen, sondern ebenso die sozialen Bindungen und die Strukturen zu betrachten, in die die modernen Wissenschaften, wie die Wissenschaften zu allen Zeiten menschlichen kulturellen Handelns, eingebettet sind.

In bezug auf militärische Wissenschaft scheint ganz klar, daß es sich um einen Hermetismus handelt: Alle Entscheidungen darüber, was und wie geforscht und entwickelt wird, fallen hinter verschlossenen Türen, und erst dann, wenn militärische Wissenschaft eine neue Technik oder ein neuartiges technisches System hervorgebracht hat, wird - mehr oder minder - öffentlich bekannt, um was es sich dabei handelt und wie diese kriegerische Technik funktioniert. Wir wollen im weiteren überprüfen, inwieweit dies ein extremes Exempel ist und ob die Strukturen und Kommunikationsweisen der zivilen Wissenschaft prinzipiell anders gestaltet sind.

Dazu schauen wir uns nun nicht einzelne Persönlichkeiten an, die Wissenschaft betreiben, also solche Menschen, die früher Gelehrte genannt wurden und von denen Max Weber 1919 zu sagen wußte, daß sie in dem Modernisierungsprozeß der Wissenschaften, der u. a. zu staatskapitalistischen Umversitätsunternehmen führte,immer weniger vorkommen würden. Vielmehr betrachten wir wissenschaftlich Arbeitende, die in arbeitsteilige Systeme derWissensproduktion eingegliedert sind. Dies sind Forschungsgruppen, Institute, Abteilungen etc. Die vorherrschende Wissenschaftspolitik im Bund, ebenso in den Bundesländern, hat ja einen unreflektierten Narren gefressen an allem in der Forschung, was groß ist (und was wirtschaftlich verwertbar erscheint, dazu später). Als ob die Kreativität und Originalität wissenschaftlicher Arbeit mit der Zahl der Köpfe in organisatorischen Einheiten zunähme. Und als ob wir niemals aus den Organisationswissenschaften gelernt hätten, daß es so etwas wie ein menschliches Maß für die Größe von institutionellen Strukturen gibt.

Wenn wir nun die Situation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in solchen Forschungsgruppen analysieren, so ist unmittelbar augenfällig, wie weit jede einzelne von der Idealsituation eines Wissenschaftlers schon entfernt ist. Das zeigt sich u. a. an folgenden Punkten:

• der Wahl des Forschungsgegenstandes \ycvf. -themas: Freiheit besteht bestenfalls in der Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren Forschungsgruppen; üblicherweise ist das Thema prädisponiert;

• der Wahl der Forschungsmethoden: In den apparativ operierenden Wissenschaften legen die vorhandenen Instrumente im wesentlichen fest, was experimentell erfragt werden kann, in den hermeneutisch-begrifflich arbeitenden Wissenschaften und in der Empirie definiert die 'Schulzugehörigkeit' im wesentlichen die methodischen Spielräume;

• die Kommunikationswege sind segmentiert und hierarchisiert;

• kommuniziert zu den Auftrag- und Geldgebern und in die weitere Öffentlichkeit werden ausschließlich positive Ergebnisse und Erkenntnisse, also nur ein bestimmter Ausschnitt aus der gesamten wissenschaftlichen Arbeit.

Bereits hier beginnt sich deutlich abzuzeichnen, daß ein Hermetismus, also ein sehr weitreichendes Fehlen von Offenheit, schon sehr früh im wissenschaftlichen Arbeitsprozeß zu liegen scheint und tief in diesen Prozeß selbst eingeschrieben ist und nicht etwa erst als ein Problem auftaucht, wenn Ergebnisse wissenschaftlichen Arbeitens in eine unbestimmte gesellschaftliche Öffentlichkeit eingehen.


Wer oder was ist aber Öffentlichkeit für Wissenschaft? Wir haben uns zumeist angewöhnt, unter Öffentlichkeit vor allem die massenmedial strukturierte Öffentlichkeit zu verstehen. Öffentlichkeit ist aber, auf wissenschaftliche Arbeitsprozesse und Institutionen hin betrachtet, etwas viel Elementareres. Und es gibt nicht die oder eine Öffentlichkeit, sondern es gibt deren viele und unterschiedliche. Wenn wir zunächst von dem einzelnen Wissenschaft treibenden Menschen aus schauen, so beginnt das Öffentliche schon bei dem Nächsten, bei Kolleginnen oder Kollegen, bei dem Professor etc. Von einer Arbeitsgruppe, einer Abteilung oder ähnlichem aus betrachtet, gibt es einen weiteren nicht öffentlichen Raum, den internen Raum, und es gibt eine Unterscheidung von Kommunikationswegen mit dem Öffentlichen. Verschiedene Mitglieder der Gruppe stellen Verbindungen zu je unterschiedlichen Elementen des Öffentlichen dar und her: der Chef zu den nächst höheren institurionellen Ebenen, zu anderen Chefs der gleichen Fachrichtung, zu den Studierenden in den größeren Lehrveranstaltungen, zu Geldgebern usw. Hier haben wir schon im Kern, was sich in den weiteren institutionellen Kreisen (Fachbereich, Universität, scientific community) dann funktionell und graduell nur noch ausweitet und was ich als Segmentierung und Hierarchisierung von Kommunikation bezeichnet habe, nämlich, daß nach ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln sowohl die Partner als auch die Ebenen festgelegt sind, also der Charakter der Beziehungen vorgeformt ist.

Für die Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Arbeitsprozessen, den an ihnen beteiligten Personen, Gruppen und Institutionen und dem Öffentlichen lassen sich einige grundlegende Charakterisierungen von Typen vornehmen.

Da ist zum ersten das Element der Gewinnung von Anhängern für wissenschaftlich fundierte Methodiken, Systematiken, Taxonomien, Theorien, also für Lehrgebäude. In diese Lehrgebäude gehen - gleichgültig, um welches fachliche Gebiet es sich handelt - neben empirischen Befunden auch Überzeugungen und Weltanschauungen ein. Dieses charakteristische Element von Beziehungen zwischen Wissenschaft und einer breiteren Öffentlichkeit, Ermutigung oder, im negativen Fall, Entmutigung, Art und Ausmaß eines feedback haben erhebliche Auswirkungen für die Fortentwicklung von Lehrgebäuden.

Dies gilt auch für das zweite Element, die Bestätigung. Bestätigung in wissenschaftlichen Arbeitsprozessen erfolgt zunächst primär im professionellen Bereich: durch den Professor, durch den Chef, durch den Dekan. Danach und ganz wesentlich durch Kollegen in der scientific community, durch Vorstände und Komitees, in Fachgesellschaften, durch Herausgeber von Zeitschriften und Büchern. Solche Bestätigung ist immer ein Amalgam von fachlicher und sozialer Gratifikation. Der soziale Anteil kann sich in Stellen, Honoraren, Kongreßeinladungen, Preisen oder ähnlichem äußern, und oft ist es nicht leicht, auseinanderzuhalten, ob soziale oder fachwissenschaftliche Bestätigung für Wissenschaftlerinnen und

Wissenschaftler von größerem Gewicht sind. Professionelle Bestätigung ist natürlich auch ein sozialer Vorgang. Interaktionen in wissenschaftlichen Institutionen sind keine rein kognitiven, quasi ätherischen Abläufe, sondern menschliche, intellektuelle und interpersonale Aspekte lassen sich dabei nicht präzise voneinander trennen. Außerdem weist der Prozeß der professionellen Bestätigung viele Züge der Exklusion auf: indem das eine ausgezeichnet wird, wird das andere ausgeschlossen.

Ein drittes charakteristisches Element von Beziehungen zwischen Wissenschaft und dem Öffentlichen sind die Finanzen. Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Institute der Blauen Liste, Max-Planck-Institute und viele andere wissenschaftliche Einrichtungen werden aus Steuergeldern bezahlt. Nicht nur in Zeiten struktureller Haushaltsdefizite, sondern auch in solchen von Ausgabenzuwächsen, gab und gibt es um die Verteilung der Steuergelder auf die Einrichtungen und innerhalb der Einrichtungen manifeste Konflikte.

Neben der Grundfinanzierung gewinnt seit Jahren die Projektfinanzierung relativ an Bedeutung. Die Drittmittelgeber haben damit, anders etwa als bei der institutionellen Förderung, ein Instrument in der Hand, um programmatisch-inhaltlich Einfluß nehmen zu können, ohne langfristig personelle und ausstattungsmäßige Verbindlichkeiten eingehen zu müssen. Trotz aller - auch irrationalen - Lobpreisung der Projektförderung, gibt es auch institutionelle Förderung, die sich als Projektförderung tarnt. Forschungszentren, wie sie vor allem in den achtziger Jahren in Mode gekommen sind, z.B. in der Informations- und Kommunikationselektronik, der Biotechnologie oder den Materialwissenschaften, weisen nicht selten eine Finanzierungsstruktur auf, die sehr weitgehende Abhängigkeiten von Projekt- oder Pseudoprojektmitteln beinhalten. Man könnte vermuten, daß auf diese Weise die öffentlichen Institutionen einen gestaltenden Einfluß auf die Forschungs- strategie und die Auswahl der Forschungsthemen hätten. Tatsächlich verhält es sich weit mehr so, daß man von einer reziproken Abhängigkeit und einem ungleichen Tauschgeschäft Instrumentalisierung gegen legitimatorische Erfolgsnachweise sprechen sollte. Wechselseitig abhängig sind Wissenschaft und politische Administration in einer ganz grundlegenden Weise. Die ersteren bedürfen zu ihrer institutionellen Reproduktion des anhaltenden Ressourcenzuflusses. Letztere bedürfen zu ihrer Legitimation des Nachweises, daß sie im Sinne der jeweiligen Regierungsprogrammatik Wissenschaftspolitik betrieben haben. Insoweit könnte man sogar von einer Interessenkohärenz ausgehen; dahinter verbirgt sich allerdings ein massives Ungleichgewicht in bezug auf die programmatische und sachliche Steuerung der Forschung. Nicht die Wissenschaftsadministrationen steuern, was geforscht wird, sondern die Wissenschaft definiert, in welche Richtung die Wissenschaftspolitik steuert.

Bleibt eine letzte, aber keineswegs unwichtige charakteristische Beziehungsebene von Wissenschaften und dem Öffentlichen. Dabei geht es um Kritik. Aus sehr gutem historischen Grund hat unser Grundgesetz im Artikel 5, Absatz 3 festgestellt, daß Wissenschaft und Kunst frei sind. Freiheit kann nun Freiheit von etwas und oder Freiheit zu etwas sein. Daß die Wissenschaft frei sein muß von staatlicher Bevormundung und Zensur, erscheint nahezu trivial. Es gibt aber den sehr großen Forschungsbereich in der privaten Industrie, in dem der Artikel 5 des Grundgesetzes praktisch nicht gilt. Dieser Bereich repräsentiert finanziell etwa zwei Drittel der gesamten Forschungsaufwendungen in Deutschland. Das wird bei zu vielen Debatten um die Forschungsfreiheit allzu leicht vergessen. Die Freiheit zu wissenschaftlichem Tun setzt zudem, vor allem in den Frontwissenschaften, jeweils erhebliche materielle und personelle Ressourcen voraus. Ohne viel Geld gibt es hier gar keine Wissenschaft, also auch keine Freiheit dazu.

Nun hat sich schon seit einigen Jahrzehnten auf vielen Gebieten gezeigt, daß die wissenschaftlich-technische Entwicklung, spätestens seit Beginn der industriellen Revolution, mit ihren anschwellenden Energie- und Stoffumsätzen langwirkende und gravierende Nebenwirkungen miterzeugt hat. Diese nicht beabsichtigten Folgen dokumentieren sich heute als Umweltprobleme, Klimawandel, Krankheiten etc. Es ist unter den Wissenschafts- und Technikhistorikern bislang noch ungeklärt, welchen Anteil genau die Wissenschaften an der Erzeugung dieser nachteiligen Wirkungen (etwa in Relation zu sozialen, ökonomischen und anderen Faktoren) haben. Unumstritten erscheint, daß moderne industrielle Technik ohne wissenschaftlichen Bezugsrahmen gar nicht möglich ist. Selbst wenn man von den furchtbaren und prominenten Beispielen wie dem Giftgas im I. und der Atombombe im II. Weltkrieg absehen wollte, so bleibt doch das Faktum, daß Wissenschaften und Industrie eine dauerhafte Verbindung eingegangea sind. Schon von daher ist es nicht zulässig, Verantwortung für die Folgen wissenschaftlich-industriellen Handelns entweder allein der praktizierenden Industrie oder der ganzen anonymen Gesellschaft und damit überhaupt niemandem zuzuschieben.

Dieses Geflecht von Wissenschaftsfreiheitund dem Auftauchen der Frage nach Verantwortung für die nachteiligen Folgen dieser Freiheit, bildet seit etwa dreißig Jahren den Hintergrund für tiefgreifende Auseinandersetzungen und Prozesse der Dissoziation im Blick auf die Legitimität wissenschaftlichen Tuns. Legitimität ist die Frage nach einer moralischen und wissenschafts- wie gesellschaftspolitischen Berechtigung und Begründetheit von Handlungen oder Unterlassun gen. Der Spannungsbogen zwischen Freiheit, gesellschaftlicher Verpflichtung und Verantwortung für die Folgen ist wissenschaftshistonsch in vielen Facetten beschrieben worden. Ich kann hier nur einige davon streifen.

Da ist die ökonomische Bedeutung von Wissenschaften. Ein Thema, um das sich zahllose Mythen ranken. Die herrschende Politik in industrialisierten Ländern sieht in der engeren Verkoppelung einer rapide fortschreitenden Wissenschaft mit der privaten Wirtschaft ein wesentliches Element der ökonomischen Fortentwicklung der Gesellschaft. 'Standort' ist die dem militärischen Sprachgebrauch entlehnte Vokabel dafür, verbunden mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit.

Da ist die Eroberung moderner Welten durch die Wissenschaften, wie in der Molekularbiologie. Auch daran knüpfen sich viele Legenden. Der herrschenden Lehre gemäß eröffnen uns die Betrachtung und das engineering von Lebewesen auf der Ebene von Molekülen neuartige Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten gegenüber vielen Übeln dieser Welt, wie z.B. Hunger, Krankheiten, Umweltzerstörungen.

Und da ist die wachsende Einsicht in die Kehrseite der industriellen Welt, in Luftverschmutzung, Grundwasserkontamination, Lebensmittelbelastung durch chemische Substanzen und biologische Elemente.

Was wäre aus diesen drei Aspekten zu lernen? Zunächst, daß offensichtlich das Dreieck Freiheit - gesellschaftliche Verpflichtung - Verantwortung nicht nach einem Punkt hin auflösbar ist, sondern eine Optimierungsarbeit wichtig wäre, die Verbesserungen an der einen Stelle zugleich mit solchen an anderer Stelle verbindet. Die Proponenten einer nahezu schrankenlosen Forschungsfreiheit, wie die Funktionäre der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft, halten sich nicht lange beim Grundgesetz auf, wenn es um die Legitimierung ihres Schlachtrufes 'freie Bahn der Wissenschaft geht. Für sie ist der moderne Vertrag der Wissenschaft mit der Gesellschaft so ausgestaltet, daß die Gesellschaft der Wissenschaft alle erforderlichen Ressourcen zur Verfügung stellt und zugleich die Gesellschaft die Generalübernahme von riskanten Folgen des wissenschaftlichen Tuns garantiert. Dieses Schreckensbild einer Scientokratie hat mit demokratischen Vorstellungen etwa soviel gemein wie Fast food mit Slow food. Hier interessiert der Aspekt der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Scientokratie ist sozusagen das Paradebeispiel einer hermetischen Öffentlichkeit. Da nämlich nur die Scientokraten wissen, was für die Gesellschaft gut ist, wird in deren geschlossenen Zirkeln festgelegt, wie die Gesellschaft sich weiterentwickeln soll. Der Rest der Gesellschaft befindet sich in einer reaktiven Rolle. Es ist für mich ganz offenkundig, daß derartige Vorstellungen nicht nur nicht demokratisch, sondern auch perspektivlos sind. Allerdings sind sie durchaus verbreitet und werden dadurch politisch relevant, daß sie sich mit wirtschaftlich Mächtigen zu verbinden suchen. Auch das kann man am Beispiel von Biotechnologie und Molekularbiologie studieren.

Womit wir wieder bei der Standortdebatte wären. An dieser Debatte ist nun nicht prinzipiell zu kritisieren, daß öffentlich finanzierte Wissenschaften Beiträge zur gesellschaftlichen, mithin auch zur ökonomischen Entwicklung zu leisten hätten. Aber zweierlei bleibt einzuwenden. Die Behauptung, daß die strikte Indienstnahme von Wissenschaft durch die Industrie auch nur eines unserer grundlegenden wirtschaftlichen Probleme lösen könnte, entbehrt bis heute einer empirischen Untermauerung. Langfristige Ungleichgewichte, wie das zwischen Rationalisierung und Schaffung neuer Arbeitsfelder (Folge: wachsende strukturelle Arbeitslosigkeit) oder das zwischen Produktion und Konsumtion (Folge: zyklische oder permanente Überproduktionskrisen), können nicht oder lediglich marginal durch eine engere Anbindung von Wissenschaft an die Industrie gelöst werden. Mentale Probleme, wie die Innovationsträgheit vieler hoher Verantwortungsträger in Vorständen oder Aufsichtsräten, vor allem von großen Unternehmen, können wohl kaum durch Wissenschaft gelöst werden. Hier könnte nur eine offene Bestandsaufnahme und die Bereitschaft zu wirklichen Veränderungen weiterhelfen, nicht aber immer mehr von einer Wissenschaft, die, z.B. durch das schon erwähnte Paradigma der maschinellen Rationalisierung, zu dem heutigen krisenhaften Zustand ja durchaus beigetragen hat. Zweitens bedeutet die öffentliche Finanzierung der Wissenschaft eine Verpflichtung gegenüber der gesamten Gesellschaft, nicht allein oder primär gegenüber einem Teil, nämlich der privaten Industrie. Das wird zu oft übersehen; die Industrialisierung vieler Köpfe ist so weit fortgeschritten, daß die meisten Menschen nicht mehr bemerken, daß unsere Gesellschaft nicht allein aus der Industrie besteht. Zudem ist fraglich, welche Rolle Industrien in der Zukunft spielen sollten. Öffentlich finanzierte Wissenschaft hat gerade auch die Aufgabe, über die zukünftige Gesellschaft insgesamt nachzudenken.

Was bliebe zu tun mit dem Dreieck von Freiheit - gesellschaftlicher Verpflichtung - Verantwortung? Was nottut, ist ein intellektueller, habitueller und institutioneller Wandel, um die Kaskade von Verantwortungen wahrnehmen zu können, die mit der gesellschaftlich gebundenen Freiheit der Wissenschaften und ihren Implikationen verknüpft sind. Ich will versuchen, das an einigen Stufen der Kaskade zu erläutern.

Als eines von mehreren Beispielen finden wir Forschungsorganisationen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die Max-Planck-Gesellschaft. Obwohl die beiden unterschiedliche Aufgaben haben und recht verschieden in ihrer Struktur sind, scheint mir gerechtfertigt, sie hier gemeinsam zu behandeln aus dem Grund, weil sie beide streng nach dem Fachprinzip und der peer review arbeiten. Bei der Max-Planck-Gesellschaft tritt ergänzend noch ein gewisses Persönlichkeitselement hinzu. Deutsche Forschungsgemeinschaft und Max-Planck-Gesellschaft sind qualitativ und quantitativ die bedeutendsten Forschungsorganisationen in Deutschland. Beide nehmen für sich in Anspruch, die fortgeschrittenste, international wettbewerbsfähige Grundlagenforschung zu repräsentieren und zu fördern. Beide sind wissenschaftspolitisch lauthals aktiv. Manches Statement vo" diesen zur Biotechnologie und zu den Rahmenbedingungen der Forschung in Deutschland könnte ganz gut auch vom Bundesverband der Deutschen Industrie oder von der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände stammen. Zugleich nehmen diese selben Verbände, die den Standort Deutschland beflügeln wollen, die für einen deutschen Platz an der Sonne über der Triade eintreten, wie selbstverständlich in Anspruch, daß die Gesellschaft, die die Mittel für die Forschungen aufzubringen hat, nichts Essentielles über die Richtung und die Schwerpunkte eben dieser Forschung mitzusprechen hat. Zwar gibt es hohe Senate und Kommissionen, in denen auch einige Vertreter der Wissenschaftspolitik sitzen, nur: wer von diesen könnte sich anheischig machen, ernsthafte Korrekturen oder gar einen Richtungswandel an den von den Fachleuten ausgehandelten Programmen einzufordern? Auch hier sehen wir eine Form von hermetischer Öffentlichkeit.

Was nottäte wäre ein Netzwerk gesellschaftlicher Foren, eine neue Art von consensus Conferences, in denen ein Abwägungsprozeß zwischen den immanenten Interessen der wissenschaftlichen Institutionen und den diversen gesellschaftlichen Bedürfnissen und Interessen nach Wissenschaftsbeiträgen zur Lösung längerfristiger und grundlegender Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung Raum finden könnte und sollte. Auch hier sehen wir wieder, daß die Kompetenz der Fachleute in der heutigen Verfassung der Wissenschaftspolitik überstrapaziert wird. Es ist nämlich keineswegs eine Fachfrage, wieviel Mittel in diesen oder jenen Wissenschaftszweig fließen.

Womit wir bei der Wissenschaftspolitik angelangt wären. Das Bundesministerium für Bildung, Forschung und Technologie (BMBF) hat sich, seit seiner Gründung als Technologieministerium in den 6oer Jahren, eine Co-Schlüsselrolle für die deutsche Wissenschaftspolitik erkämpft. Das liegt einerseits an der vielfachen Uneinigkeit der Länder, andererseits an dem langfristigen Bedeutungszuwachs gesamtstaatlicher Regulierung und Subventionierung von großen technischen Systemen (z. B. Energie, Verkehr) und schließlich auch an der Scharnierfunktion zur Europäischen Union mitsamt ihren rasch expandierenden Forschungsprogrammen. Die Programmatik des BMBFwarvon Beginn an auf Förderung der in der Industrie umsetzbaren Forschung gerichtet, gedacht als ein Aliud zu der sogenannten Grundlagenforschung. Aufgrund der langanhaltenden Haushaltsprobleme der Länder, die strukturell ungleich tiefer greifen als diejenigen beim Bund, sind heute DFG und BMBF mit Abstand die bedeutendsten Drittmittelgeber für die Hochschulforschung. Während nun also für die DFG die fachliche Orientierung entscheidend ist, ist für das BMBF die industriell-technik-umsetzende Ausrichtung fundamental. Und die Hermetik wirkt auch hier: Kein Forschungsprogramm des BMBF ist bis heute vor seiner Installierung im Deutschen Bundestag erörtert worden; dieser bekommt, oft nur auf Anfrage,'nicht selten dilatorisch, Auskünfte post festum. Beim BMBF hat sich ein Netzwerk von Gutachtergremien, die aus Wissenschaft, Industrie und Verbänden rekrutiert werden, gebildet, das nach Qualität und Beurteilungsmaßstäben von öffentlicher Kritik abgeschüttet ist. Hier wäre eine parlamentarische Kontrolle, wie die Verfassung sie verlangt, einzufordern. Sodann wären öffentliche Anhörungen, in denen die Begründetheit, die relative Angemessenheit und die Durchführbarkeit der vorgeschlagenen Programme zu erörtern wären, notwendig. Schließlich wären auch kritische Evaluationen der durchgeführten Programme hilfreich.

Aus den gewählten Beispielen mag ersichtlich sein, daß es für eine Demokratisierung der Beziehungen zwischen Wissenschaften und dem Öffentlichen kein einfaches Rezept und keine Aussichten auf rasche Fortschritte gibt. Es geht um nichts weniger als einen gründlichen mentalen und institutionellen Wandel innerhalb der Wissenschaften und auch innerhalb der Öffentlichkeit und der institutionellen Politik, Die Isolation, in der Wissenschaft sich in vieler Hinsicht, unter anderem durch ihr eigenes Tun befindet, muß gemildert oder womöglich aufgehoben werden; die Wissenschaften in die Gesellschaft, und zwar in die ganze Gesellschaft, re-integriert werden. Niemand, der heute das So-sein der Wissenschaften kritisiert, bestreitet den großen und guten Sinn ihres Daseins. Die tiefsitzende Legitimations- und Akzeptanzkrise vieler Wissenschaften kann nur durch eine gemeinsame Aktivität der Öffentlichkeit - also von uns allen - und der wissenschaftlichen Institutionen und, wenn man so will, damit durch eine demokratische Neubegründung überwunden werden. Jede Neubegründung setzt bei den Beteiligten die Bereitschaft und Offenheit zu einem Neuanfang voraus. Daran mangelt es bei den Funktionären und Interessenvertretern der etablierten Disziplinen bislang. Vielleicht hilft die finanzielle Enge in den nächsten zwanzig Jahren ein wenig.

Eine neue Verständigung über die grundlegenden Ziele und Strukturen von Wissenschaft in der Gesellschaft ist ein , mühsames und langwieriges Unterfangen ohne Erfolgsgarantie. Einen einfachen und schnellen Weg aber gibt es nicht.