Heft 1: EDITORIAL von Dieter Simon Daß die Gründung einer neuen wissenschaftlichen Zeitschrift einem verbreiteten Bedürfnis endlich Rechnung trage, wird kaum jemand behaupten wollen. Im Gegenteil. Der Markt quillt über, so wie er von work-shops, Symposien, Kongressen und der dazugehörigen konturenlosen Masse ungelesener Sammelbände überquillt. Jeder Wissenschaftler weiß, daß auf seinem engsten Fachgebiet monatlich mehr produziert wird, als ihm noch Lebens-Lesezeit verbleibt. Nicht eine neue Zeitschrift kann unser Herzenswunsch sein, sondern eine individuell programmierbare Lesemaschine, die sich über die Zeitschriften dieser Welt hermacht und uns das Wichtigste daraus beim Frühstück mitteilt.
Wenn die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zeitgeist-ungemäß mit GEGENWORTE vor ein erst noch zu schaffendes Publikum tritt, dann muß sie demnach gute Gründe für einen solchen Schritt haben. Sie hat sie. Entgegen naheliegender Vermutung geht es ihr nicht um eine Zeitschrift, deren Ziel darin besteht, die Öffentlichkeit mit den Forschungen der Akademie bekannt zu machen. Zwar versteht sich die Akademie durchaus als eine Arbeitsakademie, d.h. nicht als eine Gelehrtengesellschaft, die sich gelegentlich über die Forschungsergebnisse ihrer Mitglieder von diesen selbst informieren läßt, sondern als ein selbständig und unabhängig von den angestellten Wissenschaftsbeamten und den allfällig angeheuerten Mitarbeitern permanent forschender Wissenschaftlerverband. Dessen Erzeugnisse haben aber schon ihren festen Ort in den von der Akademie herausgegebenen Jahrbüchern bzw. den 'Berichten und Abhandlungen über die wissenschaftlichen Arbeiten im abgelaufenen akademischen Jahr. Dort kann und soll die Arbeitsakademie ihre Produkte vorstellen. Die Zeitschrift ist weder gedacht noch geeignet, dieser Zuständigkeitsregel in die Quere zu kommen. Wenn also nicht wissenschaftliche Selbstdarstellung der Akademie - was dann ist der Zweck des Unternehmens? Die Akademie hat nicht nur die Aufgabe, Wissenschaft zu betreiben, sie hat auch die Aufgabe, die Produktion von Wissen zu beobachten und sich Gedanken über die Voraussetzungen, Beschränkungen, Erfolgsbedingungen, kurz: den Kontext der Wissenserzeugung, zu machen. Es sind ganz verschiedene Dinge, die von dieser Warte aus sichtbar werden. Zum Beispiel die radikale Säkularisierung des Dienstes an der Wissenschaft und die damit nicht notwendig verbundene, aber durch sie ermöglichte Kommerzialisierung des Wissenserzeugungsprozesses. Mit der weiteren Folge der Brutalisierung der Verteilungskämpfe, der Scheingeschäfte und Scheingefechte bis hin zum kriminellen Diebstahl und Betrug. Oder, um ein ganz anderes Beispiel zu wählen: die fortwuchernde, kaum noch disziplinengesteuerte Arbeitsteilung beim Wissenschaftsvollzug, eine bis zur Ein-Mann/Frau-Disziplin vorangetriebene Spezialisierung und Diversifikation, die entgegen ihrer ursprünglich wettbewerbsfördernden Funktion längst den Wettbewerbskiller 'mangelnde Vergleichbarkeit' auf den Plan gerufen hat, ohne sich deshalb aber in irgendeiner Weise für das Ganze der Wissenschaft in die Pflicht genommen zu sehen. Oder, um noch ein drittes Beispiel zu bringen: Der trotz aller Anstrengungen und trotz des allgemeinen Bewußtseins von seiner Nützlichkeit, ja Notwendigkeit nicht inszenierbare systematische 'Dialog' zwischen Wissenschaft und Politik. Zwar hat sich die Zahl der 'Räte', der 'Zukunftskommissionen' und 'Expertengruppen' in den letzten fünf Jahren sprunghaft erhöht, aber guter Rat ist dadurch - im doppelten Sinne dieser Wendung - nur noch teuerer geworden, ohne daß sich die für eine wissenschaftsbasierte Gesellschaft erforderliche Kommunikationsstruktur hätte bilden können. Es sind Themen dieser Art, die in den Blick kommen, wenn man vom Standpunkt in der Wissenschaftsproduktion zur Position des Kontextbeobachters wechselt. Die dabei auftauchenden Probleme wird die Akademie nicht lösen können. Denn sie ist nach Zusammensetzung und Organisation weder fähig noch legitimiert, sich als solche etwa als Instrument der Politikberatung, als Bundesgerichtshof in Wissenschaftskontroversen oder als Obergutachter für die kognitiven Prozesse der Zukunft aufzuführen. Jedoch sollte sie sich berufen fühlen und in der Lage sein, die einschlägigen Sachverhalte zu entdecken, soweit dies noch nicht geschehen ist, sie zu artikulieren, wenn es bisher bei der Entdeckung blieb, sie zu thematisieren, wenn dies noch nicht oder noch nicht ausreichend geschah. Zweifellos geschieht dies alles bereits, denn in der Wissenschaftslandschaft herrscht reges Leben. Aber ein permanentes Forum für die Beleuchtung und gegebenenfalls Irritation der Szene besteht nicht. Hier ist eine Lücke und diese Lücke wird GEGENWORTE besetzen. Damit kann es allerdings nicht sein Bewenden haben. Wer ein Thema hat, hat nur den ersten, wenn auch wichtigsten Schritt hinter sich gebracht. Aber bevor der Lichtkegel der Beobachtung einen präzisen Fokus hat, bleibt das Räsonnement unstet und der Gegenstand ein Stoff ohne Schnittmuster. Die Kontur dieser Zeitschrift soll durch die Auswahl der Autoren und die Textsorten, die sie liefern, geschliffen werden: nicht nur Wissenschaftler und schon gar nicht nur die Mitglieder der Akademie, sondern auch Politiker, Künstler und der schreibende (oder wenigstens interviewgebende) Entrepreneur sollen ihre Perspektiven zu Themen wie 'Freiheit', 'Fälschung', 'Qualität' etc. 'in der Wissenschaft einbringen, damit ein vielfältiges und kräftiges Netz von Beobachtungsposten eine dichte Textur der Wahrnehmung ermöglicht. Ob der Versuch gelingt, wird nicht dieses oder das folgende Heft, sondern werden die nächsten Jahre zeigen. Daß er es wert ist unternommen zu werden, daran hatte jedenfalls die Akademie keinen Zweifel, als sie den Auftrag erteilte, ihn zu wagen. Den Namen GEGENWORTE verdankt sie Paul Celan (1926-1970). Der Dichter hat damit jene unpathetischen und unprätentiösen Äußerungen bezeichnet, die uns aus dem Nebel des Alltagsgeschwätzes führen, die uns vor der Blendung durch die großen Reden bewahren und die uns aus gebückter Haltung vor den 'Paradegäulen der Geschichte' zur Freiheit aufrichten.
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