Heft 1 - Jürgen Kaube: FORSCHUNGSFREIHEIT

Soziologische Anmerkungen


1. Freiheit als Konfusion und Wert

Im Begriff der Forschungsfreiheit versammeln sich Erwartungen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungsbereichen - nicht nur solchen der Wissenschaft, sondern auch des Rechts, der Politik, der Erziehung und der Wirtschaft. Auf all diesen Gebieten zeigt man sich an Forschungsfreiheit interessiert und versteht entsprechend etwas anderes darunter. Teils soll der Begriff bezeichnen, daß systematischer Erkenntnisgewinn keine fremdbestimmten Grenzen anerkennt, teils meint er ein verfassungsmäßiges Freiheitsrecht der Einzelnen, ein Element institutionalisierten Wandels in "offenen Gesellschaften", eine Nebenbedingung universitärer Bildung oder eine Voraussetzung für ökonomisch nutzbare Innovationen.

Die Einheit, die der Begriff selbst suggeriert, bleibt dabei ebenso fraglich wie die Harmonisierbarkeit dieser Erwartungen. Offen ist auch, ob sich Forschungsfreiheit auf individuelle, organisatorische oder gesellschaftsstrukturelle Tatbestände bezieht. An wen ist die Freiheitszumutung adressiert? Man setzt Ethikkommitaoaen-ein und spricht von Freiheit in bezug auf die Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers. Aber die Forschung erfolgt längst organisationsförmig. Nur ein Bruchteil der betreffenden Personen wählt sich deshalb ihre Themen, Methoden, Publikations- und Patentverwertungen autonom im Sinne individualistischer Entscheidung. Was rechtlich oder moralisch dann noch immer als Freiheit bezeichnet werden kann, erscheint soziologisch als bloßer Hinweis auf die Möglichkeit, Forschung im Konßiktfall abseits der Schulen, Institute, Förderungsmechanismen zu realisieren. Aber operiert der Begriff unter diesen Umständen nicht nur mit Vorstellungen, die dem Bereich geisteswissenschaftlichen Gelehrtentums mit niedrigem Organisationsgrad entnommen sind und die für Forschungen innerhalb der Natur- und Ingenieurswissenschaften schlicht anachronistisch sind?

Die jüngeren Diskussionen über das Thema machen deutlich, daß es sich bei solchen Fragen nach dem sozialen Kontext des Begriffs der Forschungsfreiheit nicht nur um analytische handelt. In der wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung selbst scheint es schwierig, auch nur zu bestimmen, wovon die Rede ist.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft etwa versteht unter Gefährdung der Forschungsfreiheit ein "Netz von Behinderungen, das die Forschungsarbeit erstickt". Geknüpft ist es aus so unterschiedlichen Strängen wie Verwaltungsnormen und ihrer unterschiedlichen lokalen Auslegung, Risikoeinschätzungen und ihrer rechtlichen Kodifikation oder der massenmedialen Darstellung moralischer Widerwärtigkeiten der tierverbrauchenden Forschung und ihren öffentlichen Effekten. Andere beobachten in der mangelnden finanziellen Ausstattung von Forschungen einen Eingriff in ihre Freiheit. Wenn naturwissenschaftliche Erkenntnis oft nur noch unter erheblichem Mitteleinsatz zu gewinnen ist, erscheint das Forschungsbudget als freiheitsbedingende Größe.

Umgekehrt wird aber auch von Gefährdungen der Forschungsfreiheit gesprochen, wenn zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu enge Koalitionen bestehen. Man erlebt die Prüfung von Forschungsanträgen nach dem Maßstab ihrer Nützlichkeitsversprechen als unsachgemäße Restriktion. Auch die geldförmige Portionierung der Forschung in 'Projekte' führt, so gesehen, als Abrechnung der Wahrheit in kleinen Losgrößen zu Bewegungseinschränkungen, insbesondere bei der sogenannten Grundlagenforschung. Diese wiederum sieht sich - in den Nachhutgefechten des Streichs von Alan Sokal - dem Vorwurf ausgesetzt, unter dem Titel der Freiheit mitunter nur Frechheit und unverbindliche Spielereien zu verfolgen, was bei knappen Mitteln auf die Beschränkung aller seriös und nützlich Denkenden hinauslaufe.

An dieser Stelle ergeben sich Übergänge zu Diskussionen ganz anderen Typs, wie sie über 'academic freedom' in den USA geführt werden. Hier scheint es vor allem um das Rederecht an Hochschulen und die Frage zu gehen, ob freie Rede durch politisch korrekte Ethik-Kampagnen eingeschränkt wird. Thema sind dann eher die Freiheitsverluste, die der Wissenschaft durch ihre mikropolitischen Binnenverhältnisse, den Streit der funktionalen und dysfunktionalen Gruppen um Organisationsmacht und limitierte Ausstattungen, 'kulturelle Hegemonie' und 'Politisierung' drohen. Schließlich wird über Forschungsfreiheit auch dort gesprochen, wo, wie neuerdings zu hören, Wissenschaftlern durch Rechtsanwälte Unterlassungsersuche zugestellt werden, die bei scharfen Rezensionen wissenschaftlicher Arbeiten die Forschungsfreiheit der Kritiker an den Persönlichkeitsrechten der Kritisierten beendet sehen.

Der Begriff der Forschungsfreiheit kann diese Themenvielfalt nur abdecken, weil es sich vermutlich gar nicht um einen Begriff, sondern um einen Wert handelt. Vielleicht gehört es zu seiner Funktion, sich nicht klären zu lassen. Für eine Begriffsklärung wüßte man z. B. gerne, was denn als Gegensatz zu 'Freiheit' in Frage kommt - Zwang, Indifferenz, 'hate speech' oder Unterfinanzierung? Eine solche Klärung käme jedoch gerade der rhetorischen Verwendung des Begriffs nicht zugute. Denn erst als mehrdeutiger Wert erlaubt er, was der amerikanische Politologe Stephen Holmes einmal als das Verfahren der 'antonym substitution' bezeichnet hat: man kann sich unter Beibehaltung eines Terminus mal auf das eine, mal auf das andere seiner Gegenteile beziehen. Das hält Diskussionen und Diskutanten zusammen, denen es um Unterschiedliches geht. Integriert werden plurale Interessenlagen, deren Konflikt dann als Arbeit an einem gemeinsamen Ziel, dem der Forschungsautonomie, erscheint. Und schließlich findet die forschungspolitische Debatte im Rückgriff auf jenen Wert auch ihren Anschluß an solche historischen Selbstbeschreibungen neuzeitlicher Wissenschaft, die ihre Entwicklung als eine des zunehmenden Gewinns an Forschungsfreiheit erzählen.


2. Freiheit als Autonomie und Komplexität

Der Geschichte vom zunehmenden Freiheitsgewinn zufolge löst sich das System wissenschaftlicher Forschung in einer Reihe von Schritten zunächst aus religiösen, dann aus politischen und moralischen Einschränkungen. Unfreiheit der Forschung erscheint in diesem Kontext als ein Ergebnis sachfremder Übergriffe aus anderen Sozialsystemen. Der Gegenbegriff zu Forschungsfreiheit liegt in jenem Zwang, der auf Forscher ausgeübt wird, ihr Handeln an etwas anderem als an Fragen der Wahrheit auszurichten - an Fragen des Profits, der Tierliebe, der Macht oder an sakralen Tatbeständen. Gestützt wird diese Sicht durch eine Reihe moralischer Exempel, die vom erpreßten Widerruf Galileis über den Prozeß der Kreationisten in Dayton/Tennessee 1925 bis zur "deutschen Physik' und Lysenkoschen Erblehre reichen. Die Moral dieser Geschichten liegt in der Vorstellung von der unfreien als der mißbrauchten Wissenschaft. Unterdrückung der Wahrheit und Förderung pseudowissenschaftlicher Behauptungen erscheinen als die beiden Momente heteronomer Forschung. Unter Androhung von negativen Sanktionen, so die Beschreibung gefährdeter Autonomie, werden Imperative der Erkenntnis außer Kraft gesetzt.

Diese Rede von der 'mißbrauchten' Wissenschaft untertreibt nicht nur deren Eigenanteil an der Produktion von Irrtümern. Sie führt auch zur irrigen Vorstellung, aus freier Forschung entspringe nur Wahres, Gutes, Schönes - und Nützliches. Die Autonomie der Wissenschaft aber beweist sich gerade daran, daß sie für beide Seiten ihrer handlungsleitenden Unterscheidung wahr/falsch zuständig ist. Und sie hat zur Voraussetzung, daß diese Unterscheidung sich nicht mehr vereinbaren läßt mit anderen Unterscheidungen wie gut und böse, rentabel und unrentabel, rechtmäßig und unrechtmäßig. Also kann Wahrheit jeweils beides sein.

Bezieht man den Wert der Forschungsfreiheit auf den Effekt der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Forschung, dann realisiert er sich nicht bereits in der Abwehr z. B. politischer Zumutungen. In Anlehnung an einen Begriffsvorschlag Niklas Luhmanns kann man sagen: Machtsprüche, Rechtssprüche, Zahlungseinstellungen schränken stets nur die Komplexität der Forschung ein, nicht ihre Autonomie. Themen werden stillgelegt, Theorieentwicklungen aufgehalten, Forschungsfragen bleiben bis auf weiteres offen. Aber ob, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen das der Fall ist, vermag wiederum nur Wissenschaft zu entscheiden. Wahrheiten und Irrtümer lassen sich nicht außerhalb ihrer Grenzen erwirken. Politische, rechtliche oder finanzielle Limitationen betreffen deshalb, zugespitzt formuliert, nur den Umfang der Problembestände, an denen sich die Autonomie der Wissenschaft beweisen kann, nicht diese selbst. Nicht die Forschungsfreiheit, der Forschungsumfang wird eingeschränkt, wenn das Recht bestimmte Tiere als Versuchsobjekte ausschließt oder die Politik bestimmte Apparaturen nicht mehr finanziert. Daß es hier kritische Werte des Umschlags von Komplexitätsin Autonomieverluste gibt, leuchtet ein. Wollte man jedoch in jeder externen Grenze einen Autonomieverlust vermuten, begänne diesseits unendlicher Ressourcenausstattung und vollkommener Experimentiererlaubnis bereits das Reich der Unfreiheit. Ideologen argumentieren so.


3. Freiheit wodurch?

Die Unterscheidung von Komplexität und Autonomie versucht nicht nur die Sprache der Werte an sozialstrukturelle Tatbestände zurückzubinden. Sie macht auch darauf aufmerksam, daß Gefährdungen der Forschungsfreiheit im engeren Sinne vielleicht eher wissenschaftsintern als wissenschaftsextern zu suchen sind. Historisch ist es jedenfalls aufschlußreich, daß die legendäre Befreiung der Forschung aus kirchlichen oder politischen Banden stets von der minder auffälligen Anstrengung begleitet war, sich von Unfreiheiten im wissenschaftlichen Erkenntnisstil loszumachen. So wird etwa im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte selbst hervorgebrachtes Wissen immer stärker gegenüber fremdbezogenem präferiert. Die Vorzugsstellung des Experiments im Verlauf wissenschaftlicher Ausdifferenzicrung ergab sich, weil es um die Herstellbarkeit großer Mengen selbsterzeugten, selbstkontrollierbaren und selbst variierbaren Wissens ging. Man kann und will nicht warten, bis die Natur sich aus eigenem Antrieb von ihrer erkennbaren Seite zeigt.

Heteronom wäre, so verstanden, nicht die politisch, rechtlich und finanziell bedrückte, sondern die methodisch und programmatisch abhängige Wissenschaft. Folgt man Überlegungen Rudolf Stichwehs, so sind Merkmale einer solchen Abhängigkeit z.B. eine ausgeprägte Quellenorientierung, enzyklopädisches und klassifikatorisches Denken, das vorgegebenes Wissen nur sortiert, aber auch die von Gaston Bachelard beschriebene Anlehnung der Forschung an 'lebensweltliche' Beobachtungskriterien. Heteronom wäre auch Wissenschaft, die Wahrheitschancen an sozialen Status binden würde oder deren Wahrheitsbegrifffür bestimmte Themen reserviert wäre.

Zu den sozialstrukturellen Stützen dieses Bedarfs der Forschung, sich von kognitiven Vorgaben ihrer Umwelt stärker unabhängig zu machen, gehört vor allem, daß Urteilskraft in Sachen Wissenschaft nur Wissenschaftlern zugesprochen wird. Das gilt für Themen, Methoden, Publikationen, aber auch für Karrieren. Die Wissenschaft rekrutiert sich selbst und verfügt in der Vergabe von Reputation über eine eigene Art von 'Währung', die zu bestimmen erlaubt, wer wofür in Frage kommt. Eine Währung, an der sich dann auch Politik und Wirtschaft orientieren, wenn es um die Vergabe von Forschungsmitteln geht. Diese Erzeugung von Reputation als Kontaktmechanismus zwischen Wissenschaft und anderen Sozialsystemen erfolgt 'autonom' auf der Ebene elementarer Operationen der Wissenschaft: Forscher schreiben für Forscher. Bereits im Begriff der 'Gelehrtenrepublik' wurde diese Gleichheit mit Freiheitsgefühlen verbunden.

Erst ein Vergleich dieses trivialen Befunds mit anderen Sozialsystemen macht ihn auffällig. Dort nämlich lassen sich stärkere Asymmetrien festhalten. Lehrer treffen auf Schüler ' und Eltern, Politiker auf Wähler und Protestbewegungen, Sportler aufzuschauer und Reporter, Dichter auf Leser und Sainte-Beuve. In soziologischer Terminologie: Leistun-gs- und Publikumsrollen werden stärker getrennt. Die Beteiligten treten nicht durchweg in beiden Rollen auf.

Daß es in der Wissenschaft anders ist, hat Folgen Air ihr normatives Selbstverständnis. Weder Konflikt noch Konkurrenz, sondern Kooperation erscheint vorderhand als die Sozialform des Erkenntnisgewinns. Wissenschaftliche Leistungen bauen aufeinander auf, schließen aneinander an, und selbst die Kritik dient nicht der Verfolgung unabhängiger Intentionen, sondern einer gemeinsamen Absicht. So jedenfalls die normative Erwartung. Sie mag zwar im Einzelfall heroisch sein, hat aber greifbare Folgen. Nur ein Beispiel: anders als im Bereich der Kunst ist es in bezug auf Wissenschaft bislang nicht zu etablierten Formen externer Kritik gekommen. Forscher würden die Idee eines 'Szientifischen Quartetts' vermutlich so lange als absurd abweisen, solange es nicht von ihnen selbst mit 'den besten Köpfen' besetzt würde. Für Schriftsteller und bildende Künstler steht hingegen die Formel, der Kritiker sei inkompetent, weil nicht selbst Artist, schon seit längerem nicht mehr zur Verfügung.

Diese Selbstbeurteilungsansprüche, die Wissenschaft-geltend macht, werden durch eine Reihe von Selbstbescheidungsnormen gestützt. Zu ihnen gehört etwa, daß wissenschaftliche Experten im Normalfall nicht von sich aas in politische Debatten, gerichtliche Verfahren oder Verwaltungsvorgänge intervenieren. Man hat sich fragen zu lassen. Dies fällt natürlich gerade dort schwer, wo es sich um Debatten der Wissenschaftspolitik einerseits, politische Auseinandersetzungen über wissenschaftsnahe Fragen der Technologiepolitik oder der Risikoverwaltung andererseits handelt. Vielleicht ist es kein Zufall, daß überall dort, wo Wissenschaftler in solchen Fragen selbst initiativ werden, undeutlich bleibt, ob sie ihre Präferenzen tatsächlich als Wissenschaftler vertreten wollen oder als Lobbyisten, d.h. politisch operieren.


4. Freiheit wovon?

Die skizzierten Besonderheiten der Ausdifferenzierung von Wissenschaft werden oft eindeutig als Freiheitsgewinne verbucht. Bereits ein Blick auf den Übergang vom 'gentleman amateur' zum Laborforscher erlaubt jedoch ein nuancenreicheres Bild. Denn der moderne, autonome Wissenschaftler ist nicht unabhängiger als seine Vorgänger. Im Gegenteil erscheint er in Hinsicht seines Finanzbedarfs oder Fragen politischer Duldung hochabhängig. Aber seine Abhängigkeiten sind stärker nach wissenschaftlich relevanten Aspekten ausgewählt. Die Form seiner Abhängigkeit ist an der Steigerung kognitiver Leistungsfähigkeit orientiert - vor allem an Spezialisierungsgewinn.en. Interessant ist es deshalb, auch die Verlustseite der Autonomie in den Blick zu nehmen. Nicht, als ob hier eine Revision zu erwarten oder auch nur wünschbar wäre. Aber vielleicht, um über der Mischung aus Expansionslust und Selbstbestimmungsanspruch, die den autonomen Erkenntnisgewinn charakterisiert, seine Probleme nicht zu vergessen.

Nur ein solcher Verlustaspekt sei hervorgehoben. Er bezieht sich auf die Leistungen, die der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn sich selbst zuschreiben kann. Wenn der Eindruck nicht täuscht, so hängen nämlich die Finanzierungs-, Legitimations- und Publizitätsprobleme gegenwärtiger Forschung auch mit einem historischen Wandel ihres Leistungsausweises zusammen. Anders formuliert: Die innige Verbindung von Wahrheit und Freiheit, die in Erzählungen vom Gang der neuzeitlichen Wissenschaft gerne hergestellt wird, täuscht vielleicht über Zäsuren in der Wissenschaftsentwicklung hinweg, die heute spürbar werden.

Als der systematische Erkenntnisgewinn in der Frühneuzeit allmählich festere Formen gewann, verstand sich Wissenschaft nicht nur als Suche nach bislang unbekannten Tatsachen. Ihr Pathos fand sie in der Negation überlieferter Irrtümer. Nicht so sehr die neue Erkenntnis als solche, als vielmehr die Destruktion der alten falschen Urteile bestimmte die Begründung jener Zumutungen, mit denen Forscher und Akademien auftraten. "Es kam nicht so sehr auf die Konstitution eines Systems von Wahrheiten an, als vielmehr auf die Dissolution eines Systems'von •'Vomrteilen', deren Kennzeichen insgesamt war, in der Welt mit Mächten zu rechnen, die nicht zu ihr gehörten und nicht unter ihren Gesetzen zu stehen schienen," faßt Hans Blumenberg diese frühaufklärerische Funktionsbestimmung der Wissenschaft zusammen. Bacons Polemik gegen die 'Idole' gehört ebenso in diesen Begründungskontext wie die Faszination durch den Begriff der 'kopernikanischen Drehung' bei Kant, der die Außerkraftsetzung des Augenscheinlichen durch die unwahrscheinlichen Abstraktionen der Wissenschaft meinte.

Aber, so Blumenberg, das System des 'Irrtums' war zu klein, um jenen einmal ausgelösten theoretischen Prozeß auf die bloße Auswechslung der 'Vorurteile' beschränken zu können. Es wurden Erkenntnisse gewonnen, die nichts mehr in bezug auf das Alte zu leisten vermochten. Die Eehre von der Elektrizität mochte sich noch als Beitrag zur Kritik der Mythologie des blitzeaussendenden Gottes verstehen. Die Entdeckung des Zitronensäurezyklus konnte nicht mehr als Zerstreuung vorwissenschaftlicher Vormeiflungen auftreten.. Das liegt einmal daran, daß insbesondere Religion und Politik vorsichtiger geworden sind, was die Errichtung von Wahrheitsansprüchen angeht. Das liegt vor allem aber an der forcierten Ausdifferenzierung des Erkenntnisgewinns. In bezug auf die meisten seiner Gegenstände gibt es gar keine 'lebensweltlichen' Vorurteile, es sei denn die früherer Forschergenerationen selbst. Wissenschaft, die autonom geworden ist und das Auflösungsvermögen nicht nur in bezug auf ihre Gegenstände, sondern auch in bezug auf ihre Probleme ins Subatomare vorangetrieben hat, rechtfertigt sich nicht mehr an vorgängigen Irrtümern.

Damit aber löst oder lockert sich zumindest der Zusammenhang von wissenschaftlicher Wahrheit und Befreiung von Täuschungen. Der Begriff der Forschungsfreiheit hat diesen Zusammenhang zwar nie direkt gemeint, aber er hat sich in seinem Pathos der unbedingten Zumutung an Wirtschaft, Politik, Erziehung oder Religion auf das Bestehen eines solchen Zusammenhanges stets verlassen. Noch die wissenschaftsreligiösen Haltungen des 19. Jahrhunderts bezeugen als Spätform diesen Zusammenhang. Die Verbindung von Wahrheit und Nützlichkeit stellt im Verhältnis dazu nur ein schwaches Surrogat zur Verfügung. Denn nützlich, das weiß man spätestens seit Nietzsche, können auch Irrtümer sein. Die gegenwärtigen Debatten über Finanzierbarkeit, Risiko und rechtliche Grenzen der Forschung sollten deshalb in Rechnung stellen, daß auch Begriffe wie 'Innovation' oder 'Wissensgesellschaft' es wohl nicht vermögen, das vergangene Pathos von Forschungsfreiheit als Bedingung für befreiende Wirkungen der Forschung zu renovieren.