11. Heft - Karsten Smid: WAS KINDER EINATMEN

Die Maß-Stäbe von Greenpeace


In Deutschland gibt es ein dichtes Netz von Luftmessstationen, die Luftwerte werden stündlich registriert, sie werden veröffentlicht, in dicken Berichtsbänden zusammengefasst, und inzwischen wird jede Überschreitung in Europa in Ländertabellen ausgewertet. Wozu dann noch eigene Messungen von Greenpeace? Lohnt sich da noch ein eine halbe Million Euro teurer Luftmessbus?

Deutsche Behörden nutzen bei Luftmessungen veraltete Normen und Messvorschriften, die einseitig auf die Belastung durch Industrieschadstoffe ausgerichtet sind. Auf diese Weise wird die heute dominante Schadstoffquelle, der Autoverkehr, vernachlässigt (Smid 1998). Anwohner verkehrsreicher Straßen atmen ständig eine Abgas-Mixtur der verschiedensten Schadstoffe ein. Der hohe Anteil an verkehrsbedingten Schadstoffen, darunter vor allem Krebs erregende Stoffe wie Benzol und Dieselruß, wird in unmittelbarer Nähe der Menschen ausgestoßen. Doch die offiziellen Luftmessstationen messen nicht dort, wo die Menschen atmen, sondern abseits der Straßen und in Höhen bis zu fünf Meter, und meist messen die Behörden in sicherer Entfernung von den Schadstoffquellen. Die Messdaten werden großflächig und in Mittelwerten erfasst. Das Ergebnis sind 'erträgliche' Werte und schöngefärbte Statistiken als Grundlage für politische Entscheidungen.

Absicht, Schlamperei oder einfach nur Bequemlichkeit? Das automatisierte Messnetz erfasst routine- und vorschriftsmäßig Tag für Tag die Werte der Luft. Messungen vor Ort sind dagegen anstrengend, personalintensiv, erfordern den persönlichen Einsatz und zwingen, sich mit den Menschen auseinander zu setzen.


Messen in Kindernasenhöhe

Greenpeace hingegen misst mit dem mobilen Messlabor mitten im Verkehrsgeschehen der Städte, dort, wo die Belastungen am größten sind, und in Regionen, in die der Smog der Ballungsräume treibt. Der Laborbus - programmatisch getauft auf den Namen 'Rudi Rüssel' - reiste bei internationalen Einsätzen schon viele Male um die Welt. Er wurde zu einem wichtigen Mittel für die Aufklärung der Bevölkerung über die tatsächliche Luftbelastung. Der Luftansaugstutzen befindet sich auf einer Höhe mit den Kindernasen: in 1,20 Meter Höhe und direkt neben der Straße (Smid 1992).

Die Schadstoffmessungen in 'Kindernasenhöhe' setzen sich mit dem Alltag auseinander und dokumentieren die typische Situation von Kindern auf ihrem Weg zum Kindergarten oder zur Schule. Die Schadstoffe haben sich in Bodennähe noch nicht verteilt, sind mit der Umgebungsluft noch nicht vermischt und sinken allein durch die Schwerkraft in Bodennähe. Die Konzentrationen schwanken erheblich: Kurzzeitige Belastungsspitzen treten häufiger auf und sind höher. So ist die Belastung in der Messhöhe von 1,20 Meter zuweilen doppelt so hoch wie in der amtlichen Ansaughöhe von 4,50 Meter. Die von Medizinern bewerteten Messergebnisse belegen, dass die Risiken durch Autoabgase bisher weitgehend unterschätzt worden sind.

Kinder reagieren auf Luftschadstoffe weitaus empfindlicher als Erwachsene. Wesentliche Gründe dafür sind, dass sie im Verhältnis zu ihrer Körpergröße eine deutlich höhere Atmungsaktivität haben als Erwachsene; sie reagieren auf Reizungen und kurzzeitige Belastungen erheblich rascher und intensiver, da körpereigene Abwehrfunktionen noch nicht so stark ausgebildet sind. Schwellungen der Lungenschleimhaut wirken sich bei Kindern besonders verhängnisvoll aus, weil der Durchmesser ihrer Lungenflügel erheblich kleiner ist als bei Erwachsenen. Kinder atmen Auspuffgase direkter ein als Erwachsene - einfach weil sie kleiner sind. Doch bei der Festsetzung der Grenzwerte wird bis heute ein gesunder, 70 Kilogramm schwerer Mann im besten Alter herangezogen.


Grenzwerte: Lizenz zum Nichtstun

In krasser Missachtung von Expertisen und Sachverständigen-Empfehlungen setzt die Bundesregierung Verordnungen und Grenzwerte durch, die mit dem Schutz der Gesundheit und der Umwelt nichts zu tun haben. Die Grenzwerte für Benzol und Dieselruß wurden den realen Werten so lange angepasst, bis sie knapp über den durchschnittlichen Werten liegen. Mit solchen 'politischen' Grenzwerten wird die Untätigkeit der Behörden gerechtfertigt, aber nicht die Gesundheit der Menschen geschützt. Die zuständigen Ausschüsse der Bundesländer sowie Experten, die Bundesregierung und Bundestag beraten, empfehlen beispielsweise Grenzwerte für Dieselruß, die um den Faktor 10 niedriger liegen als die derzeit gültigen.

Die Kommunen wiederum bleiben selbst bei besonders hohen Konzentrationen meistens untätig. Die verantwortlichen Politiker wagen es nur selten, dem Autoverkehr (der heiligen Kuh unserer Kultur) seine absolute Vorrangstellung streitig zu machen, obwohl bekannt ist, dass das Krebsrisiko für die Anwohner von Hauptverkehrsstraßen doppelt so hoch ist wie im bundesdeutschen Durchschnitt. Es liegt sogar noch um ein Vielfaches höher als in Schulen, die wegen Asbestverseuchung vorsorglich geschlossen wurden.


Blockieren ist gesund

Es gibt inzwischen mehrere Beispiele dafür, dass durch Umgestaltung von Hauptverkehrsstraßen die Luftschadstoffe deutlich vermindert werden konnten, ohne die eigentliche Funktion als Hauptstraße aufzuheben.

Im September 1992 wurde von der Bürgerinitiative 'Stresemannstraße' diese Hamburger Straße blockiert, um zu zeigen, dass es möglich ist, sich gegen den Autoverkehr zur Wehr zu setzen und die Immissionsbelastung zu reduzieren. Während der mehrstündigen Straßenblockade sank die Schadstoffbelastung deutlich auf erträgliche Werte - selbst in diesem innerstädtischen Bereich einer Großstadt (Smid 1995).

Schon wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit reduziert und dem öffentlichen Personennahverkehr, möglichst auf eigenen Spuren, absoluter Vorrang eingeräumt wird, können die Autoabgase vermindert werden. Eine Greenpeace-Aktion in der Leipziger Eisenbahnstraße lieferte dafür den schlagenden Beweis - mit einer Reduzierung von vier auf zwei Autospuren und der demonstrativen Einführung von Tempo 30. Greenpeace hatte auf dieser Haupteinfallstraße nach Leipzig eigenständig die Verkehrsberuhigung vorgenommen und die Schadstoffbelastungen während der Aktion - bei gleichen meteorologischen Bedingungen - mit den Messwerten des Vortags verglichen. Die Belastungen der Krebs erregenden Schadstoffe Benzol und Dieselruß konnten dadurch mehr als halbiert werden.


Messwertduelle im morgendlichen Stau

Unsere Messwerte wurden von den Behörden angezweifelt, die solche Kritik nicht auf sich sitzen lassen konnten. So kam es mehrfach zu Vergleichsmessungen zwischen den amtlichen Messbehörden und Greenpeace in den Straßenschluchten der Städte. Zum Beispiel in Leipzig im Sommer 1994: Das amtliche Messlabor und der Messbus von Greenpeace trafen in den Straßen zusammen und verglichen ihre aktuellen Messwerte im morgendlichen Stau. Die Ausdrucke der Messwerte wurden ausgetauscht und bewertet. Die Behörden mussten kleinlaut die Korrektheit der Besorgnis erregenden Werte bestätigen. So blieb als einzige Kritik: Unsere Messungen entsprachen nicht der DIN-Norm (die wir ja gerade kritisieren wollten), die das Ansaugen der Luft einen Meter über dem Messcontainer vorsieht. Angeblich sei die freie Anströmung der Luft nicht gewährleistet. Für Messungen in Straßenschluchten eine absurde Forderung.


Ozonsmog raubt Kurorten die Luft

Autoabgase, bestehend aus Stickoxiden und Kohlenwasserstoffen, treiben in einer riesigen Smogwolke aus den Ballungsräumen in ländliche Regionen. Unter intensiver Sonneneinstrahlung bildet sich aus diesen Substanzen das ätzende Reizgas Ozon. Da das Atemgift in der Luft relativ stabil ist, kann es bei beständigen Wetterlagen hohe Konzentrationen erreichen. Dieser gefürchtete Photosmog ist aus dem Ballungsraum Los Angeles gut bekannt.

Während die Fachleute noch theoretische Überlegungen anstellten, ob die meteorologischen Bedingungen vielleicht auch in Deutschland zur Bildung von Smog führen könnten, lieferte Greenpeace bereits im Jahr 1989 den Beweis. Messungen in dem ländlichen bayerischen Voralpengebiet wiesen massive Grenzwertüberschreitungen bei Ozon nach. Menschen suchen in den Luftkurorten Erholung und saubere Luft. An heißen Tagen schnellen aber gerade hier die Ozonwerte gefährlich hoch, 180 Mikrogramm Ozon pro Kubikmeter Luft sind keine Seltenheit. Den Luftkurorten wird das Wichtigste ruiniert, ihre gute Luft.

Doch anstatt die Bevölkerung zu informieren, wird der aktuelle örtliche Ozonwert in Kurorten gerne verschwiegen. In Bad Harzburg wurde die Messstation Ende 1995 abgebaut. In Bad Reichenhall wurde die Ozonmessstation auf dem 1600 Meter hohen Predigtstuhl vor Jahren demontiert, und nur die Station im Tal, die deutlich niedrigere Ozonwerte zeigt, blieb stehen. Bevor auf der Nordseeinsel Norderney im Jahr 1999 eine Messstation errichtet wurde, äußerten örtliche Vertreter erhebliche Zweifel. Sie befürchteten, dass das Image der Ferien- und Erholungsinsel durch die Bekanntgabe hoher Ozonwerte leiden könne.

In enger Zusammenarbeit mit Medizinern verglich Greenpeace die Messergebnisse mit neuen medizinischen Untersuchungen. Die von Greenpeace herausgegebene Studie Krank durch Ozonsmog bewies: Das Sommergift Ozon ist noch weitaus gefährlicher als angenommen. Es ruiniert die feinen Lungenverästelungen, verursacht chronische Entzündungen des Atemtrakts mit bleibenden Schäden, engt die Atemwege ein und provoziert schwerste Bronchitiserkrankungen und Asthmaanfälle mit Erstickungsängsten, die für die Betroffenen lebensbedrohend sein können. Betroffen sind vor allem Kinder, die sich im Sommer viel im Freien aufhalten und durch ihr Spielen und Toben einen besonders hohen Sauerstoffbedarf haben (Budinger).


Megastädte im Megastau

Mexiko-Stadt hat sich von einem ehemaligen Luftkurort in einen Smogkessel verwandelt (Mühlenberg). In Buenos Aires weist nur noch der Name auf die ehemals gute Luft hin. Der automobile Wahnsinn der westlichen Industrieländer wird - übertragen auf Millionen von Menschen und potenzielle Autofahrer in den Schwellenländern - die Umweltzerstörung potenzieren. Die enorme Verkehrszunahme hat die positive Wirkung des Katalysators bisher weitgehend aufgehoben. Die Messprogramme von Greenpeace in Mexiko-Stadt, Buenos Aires, São Paulo und Athen belegen auch hier die bedenkliche Luftbelastung, mit deutlich höheren Werten als behördlich verkündet. Bei einer Messkampagne in Athen im Juli 1998 hielt sich der giftige Abgasnebel - die Athener nennen ihn Néfos - über Tage, Hunderte von Menschen wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Auch ein Crew-Mitglied des Greenpeace-Luftmesslabors geriet in akute Atemnot und musste mit künstlichem Sauerstoff beatmet werden.

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Leider nicht. Die Gefahren werden von den verantwortlichen Politikern seit Jahren geleugnet und die Warnungen der Mediziner in den Wind geschlagen. Trotz nachgewiesener Krebsgefahr ist die Dieselrußbelastung in Städten nach wie vor unverhältnismäßig hoch. Zurzeit verweigert die deutsche Autoindustrie die Einführung eines Dieselrußfilters bei PKWs.

Ozonprognosen wurden verheimlicht und Ozonwerte heruntergespielt. Die damalige Umweltministerin Angela Merkel verhängte einen 'Maulkorberlass' und verhinderte die Veröffentlichung von Ozonprognosen. Mit dubiosen Grenzwerten und nutzlosen Verordnungen wird politisches Handeln vorgetäuscht. So gilt in Fachkreisen das Ozongesetz, das 1995 erlassen wurde und Ende 1999 auslief, als "Paradebeispiel symbolischer Umweltpolitik", das ausschließlich dem Zwecke diente, wirksame Maßnahmen zu verhindern (Hansjürgens und Lübbe-Wolf). Gesundheitsschäden von Millionen Menschen werden dabei billigend in Kauf genommen.


Erfolge der Messkampagnen

Trotzdem: In einigen Städten wurden nach der Kritik von Greenpeace verkehrsbezogene Sondermessprogramme in niedriger Messhöhe durchgeführt. Um die Stresemannstraße in Hamburg wird noch immer gekämpft. In der Leipziger Eisenbahnstraße ist Tempo 40 bereits eingeführt, im Jahr 2003 soll mit einer Verkehrsberuhigung der Straße begonnen werden.

In Buenos Aires wurden Messstationen eingerichtet, in Mexiko-Stadt und in São Paulo haben die Messungen die Stadtverordneten aufgeschreckt und Diskussionen über den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs angeregt.

Zwischen den Routinemessungen der Behörden und den problemorientierten Messungen von Greenpeace klaffen Welten. Wer sich den Fragen der Betroffenen und den Problemen vor Ort stellt, hat einen anderen Blick und kommt zu anderen Resultaten. Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Forschung sich zu weit vom Alltag entfernt oder an den Einzelinteressen - zumal denen von Autoindustrie und Verkehrsbehörden - ausgerichtet ist.