Heft 12: VOM UMBAU IN DEN WISSENSCHAFTEN

Einführung


Als alles noch übersichtlich schien, konnten auch Wissenschaft und Mythos, Ratio und Glaube streng voneinander getrennt werden. Die Einheit der Wissenschaft, pure Vernunft, überprüfbare Experimente, die Suche nach Wahrheit, das Gebot der Objektivität und zweckfreie Forscherneugier bestimmten das Bild von Wissenschaft und wohl auch das Selbstverständnis der Wissenschaftler. Inzwischen wird der Fortschrittsglaube dem 19. Jahrhundert zugerechnet und das Dilemma des 20. Jahrhunderts nicht selten mit dem Wort 'Wissenschaftsgläubigkeit' beschrieben - als Glaube mit absolutem Machtanspruch ... der wie alle Religionen, auch seine Ketzer hervorgebracht hat. Ob Wissenschaft und allgemeines Wohl immer eine glückliche Verbindung eingehen, wurde schon seit dem Ersten Weltkrieg bezweifelt; seit Lévi-Strauss den Mythos rehabilitiert und die Wissenschaftsforschung entdeckt hat, dass auch in den Hard Sciences individuelle Vorlieben, Erwartungshaltungen und 'Konstruktionen' eine mehr und weniger prägende Rolle spielen, werden diese tradierten Gegenüberstellungen gern mit Fragezeichen versehen. Mythos ist nicht mehr 'das Andere' der Vernunft; wer das 'Haus der Weisheit' betritt, kann sich zwischen den Wissenschaftsdefinitionen hoch differenzierter Spezialgebiete schnell verirren. Zurzeit lernt Wissenschaft damit zu leben, dass sie kein festes Gehäuse hat, dass im Haus der Wissenschaften jedenfalls nicht nur eine Vernunft und Wahrheit und Objektivität wohnen.

Beim Sichten der Literatur über Wissenschaft und Mythen, Ratio und Glaube könnte der Eindruck entstehen, dass heute die Skepsis gegenüber all den wissenschaftlichen Tugenden vorherrscht. Der Eindruck täuscht schon deshalb, weil es zum Handwerk der Naturwissenschaften gehört, dass sie nicht diskutieren, sondern tun - die Entdeckungen der Biologie, Mathematik, Physik und Mikroelektronik (und erst recht der aus Fächerkombinationen entstandenen neuen Wissenschaften) stützen den Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten der Wissenschaft. Es lässt sich zwar nicht mehr so bestimmt wie im 19. Jahrhundert sagen, was Aufklärung, was Vernunft und Glaube ist, aber das Selbstbewusstsein der Zweifler ist angesichts der Fortschritte der Wissensgesellschaft samt Marginalisierung der Humanities geknickt.

Identitätsstiftende Erzählung mit Legenden über Gründung (der Welt, des Landes, eines Volks), mit Ritualen und Geboten, die ebendieses Land und Volk zusammenhalten, wurde traditionell dem Mythos zugeordnet. Aus diesem Verständnis von 'gemeinschaftsbildenden Konstruktionen' nährt sich der polemische Vergleich mit den Mythen der Wissenschaft, ihren (all)mächtigen Peers, ihren Codes und Heiligen, die das Selbstverständnis der Disziplinen prägen. Die Um- und Neubauten im Haus der Wissenschaften haben manche Legende erschüttert. Die Grenzen - und die Übergänge - werden derzeit neu verhandelt.

Pessimisten sehen alles weiter auseinander driften, Optimisten meinen, dass sich neue Gemeinsamkeiten entwickeln können - im Umgang mit der Ambivalenz, im Austausch, in der Praxis der Zusammenarbeit oder durch Öffnung gegenüber Wissensformen, die in Academia zuvor fremd waren. Wodurch diese unterschiedlichen Haltungen zustande kommen, ist noch nicht im Einzelnen erforscht.