fliegendeSchildkroeteHeft 12: EDITORIAL von Dieter Simon


'Mythos' ist ein schönes, ein geheimnisvolles Wort. Es gefällt mir schon seit Jahrzehnten. Als ich in die Schule kam, las meine bildungswillige Mutter Der Mythus des 20. Jahrhunderts von Alfred Rosenberg (23. Auflage, 1934). Ich habe nachgesehen, was sie da erfuhr:

"Die Werte des Charakters, die Linien des Geisteslebens, die Farbigkeiten der Symbole laufen nebeneinander her, verschlingen sich und ergeben doch einen Menschen. Aber nur dann in ganzer blutvoller Fülle, wenn sie selbst Folgen, Geburten aus einem Zentrum sind, das jenseits des nur erfahrungsmäßig (empirisch) Erforschbaren liegt. Diese nicht faßbare Zusammenfassung aller Richtungen des Ich, des Volkes, überhaupt einer Gemeinschaft, macht seinen Mythus aus. Die Götterwelt Homers war solch' ein Mythus. Der Mythus von der Schönheit des Apoll und der Kraft des Zeus, von der Schicksalsnotwendigkeit im Kosmos und des ihr geheimnisvoll verbundenen Menschenwesens war griechisches Wirken ..."

So war das also mit dem 'Mythus' bei Rosenbergs Deutschen und Griechen. Den Juden billigte er auch einen 'Mythus' zu. Aber das war kein "schöpferisches Traumgesicht", sondern ein "schmarotzerhafter Weltherrschaftstraum"!

Später lernte ich, dass 'Mythos' aus dem Griechischen kommt, weshalb die Gebildeten 'Mythos' und nur die Banausen 'Mythus' sagen. Rosenberg wäre, hätte er noch gelebt, vermutlich in meiner Achtung gesunken. Aber die Alliierten hatten ihn lobenswert inzwischen bereits als Kriegsverbrecher und "Urheber des Rassenhasses" aufgeknüpft, und von seinem 'Mythus' sprachen weder die Gebildeten noch die Banausen, sondern nur die Unverbesserlichen hinter vorgehaltener Hand.

Zur Frage, was man heute eigentlich meint, wenn man von einem 'Mythos' redet, trägt diese Geschichte nicht viel bei. Man kann allenfalls argwöhnen, dass es sich immer noch um etwas Qualmiges handelt, etwas Unausdrückbares, weil Unverstandenes, ein Kürzel für allerlei Ahnungen und Geraune.

Konsultiert man quellenbewusst ein klassisches Wörterbuch, hat man den Eindruck, dass schon die Griechen nicht genau gewusst haben, was sie meinten, wenn sie ihr klangvolles Wort 'Mythos' verwendeten. "Wort, Rede, Erzählung, Gespräch" wird dort angegeben. Aber auch: "Nachricht, Bericht, Bescheid, Befehl". Noch abstrakter: "Gedanke, Meinung". Dann wieder ganz konkret: "Sache, Begebenheit, Geschichte". Schließlich ins Ungewisse gewendet und damit ziemlich nahe beim zitierten 'Mythus': "Gerücht, Legende, Sage, Fabel, Märchen".

Scheint ziemliche Mühe zu machen, dieses Wort. Jedenfalls dem, der die Kontexte präzise entschlüsseln möchte, in denen der Mythos auftritt. Man könnte vermuten, das sei sein Geheimnis. Das Undurchsichtige als Schleier vor dem Wahrhaftigen. Verdunklung der hässlichen Realität durch Beschwörung des Mythos. Erhebung durch 'Mythologisierung'. Aber damit täte man, jedenfalls heute, dem schönen Wort unrecht. In Wahrheit wird es gegenwärtig meistens kritisch eingesetzt. Es stellt sich ein, wenn die Sachverhalte aufgeklärt sind. Vor Tische las man's anders - beim Nachtisch heißt es 'Mythos' im Sinne von 'Märchen'.

Drei Beispiele und Belege aus der Wissenschaft, um die es in unseren Heften immer geht:

• Wissenschaft ist auf Wahrheit codiert. Sie ist der Wahrheit verpflichtet, sagte man vorsystemtheoretisch. Ihr Ideal ist die Wahrheit. Nach ihr, der Unerreichbaren, strebt sie. Sie wird sie nicht erlangen können, jedenfalls nicht immer, aber annähern kann sie sich doch. Das Ideal ist verblasst und hat kaum noch Freunde und Anhänger. Erst wurde es durch 'Falsifizierbarkeit' ersetzt. Schon Charles Sanders Peirce hatte gesagt, der Glaube an die Unfehlbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse sei "unwiderstehlich komisch". Das 20. Jahrhundert ersetzte Wahrheit durch belastbare 'Plausibilität', das heißt eigentlich: durch 'Glauben'. Inzwischen heißt, was einmal 'Wahrheit' war, ungestraft 'robustes Wissen'. "Die einzige Wahrheit heißt: lernen sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien" (Umberto Eco). Wahrheit ist ein wissenschaftlicher Mythos, sagt der wissenschaftstheoretisch Versierte heute.

• Wissenschaft ist unpolitisch. Nicht jede Wissenschaft, aber doch die 'große' Wissenschaft - vorweg die Naturwissenschaft. Ihren Erfolg verdankt sie dem Umstand, dass sie sich von allen metaphysischen, politischen und weltanschaulichen Beimengungen reinigte. Selbst ihre Nützlichkeit ist sekundär und kommt, nicht unwillkommen, aber zufällig, lange nach der reinen Erkenntnis. Zweckfreiheit als Ideal. Die menschliche Neugierde als edelstes Movens. Auch diese Chimäre hat noch Anhänger. Aber die meisten sehen es anders. Sie sind der Meinung, dass eine enge Verflechtung mit ihren historischen, epistemischen und sozialen Kontexten die wissenschaftliche Normallage auszeichnet. Zweck- und Interesselosigkeit, Politikfreiheit und Metaphysikresistenz sind der überwältigende Mythos der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts.

• Wissenschaft verantwortet sich selbst. Eine mutige Behauptung. Sie ist noch nicht so alt wie die 'Wahrheit' und die 'Reinheit'. Zunächst war von Verantwortung schon deshalb nicht die Rede, weil Wissenschaft nur mit Ruhm und Ehre, vielleicht auch mit Unglück und Verzweiflung, aber nicht mit 'Verantwortung' in Zusammenhang gebracht wurde. Wer sich verantworten muss, hat Antwort zu geben auf unangenehme Fragen. Diese Fragen sind erst aufgetaucht, als man mancher Folgen ansichtig wurde, die sich an wissenschaftliches Tun knüpften. Das war zwar schon bei Sokrates in gewisser Weise der Fall und danach bei all denen, die die Weltordnung durch Nachdenken in Unordnung brachten. Aber weitläufig wurde das Verantwortungsproblem erst mit den Erfolgen der Naturwissenschaften. Da fragte man etwa, ob die Physiker es eigentlich verantworten könnten, dass ihre Arbeit die Erzeugung der Atombombe ermöglichte. Nach den Physikern kamen andere, die Mediziner, Ingenieure, Biologen. Und je heftiger die Fragen wurden, umso hartnäckiger antworteten die Wissenschaftler, dass sie die Verantwortung für die Richtigkeit und Wahrheit ihrer Ergebnisse übernehmen könnten und übernähmen, aber nicht für das, was ihre Umwelt mit diesen Resultaten anrichte. Das seien Folgen, die jene zu verantworten hätten, die wissenschaftliche Ergebnisse als Mittel zum Zweck instrumentalisierten. Nachdem diese Ausrede als Mythos vom auf die Wissenschaft begrenzten Ethos des Wissenschaftlers enthüllt war, taten die Betroffenen, was immer getan wird, wenn wieder einmal eine Einsicht zum Mythos deklariert wird. Sie seufzen tief, nicken und hoffen, dass sich noch eine Weile so weiterleben lässt wie bisher.

Man könnte noch längere Zeit in dieser Weise fortfahren. Etwa mit dem Gesichtspunkt 'Wissenschaft und Eliten' und damit auf den Mythos anspielen, nach dem sich in der Wissenschaft die Besten versammeln, wenn schon nicht im Hinblick auf den Charakter, so doch vielleicht im Hinblick auf den Verstand. Oder mit dem Stichwort 'Wissenschaft und Geld', wobei sich Bekanntes zu dem Umstand sagen ließe, dass Wissenschaft nach dem von ihr glücklich erarbeiteten Mythos unbestechlich ist. Zwar Geld braucht, aber ihm nicht folgt. Ihre Ergebnisse wohl mit Geld findet, aber nicht so, wie das Geld es wünscht. Kurzum: der Mythos der Unabhängigkeit. Aber auch der Mythos der Objektivität, der Mythos von der unstillbaren Neugierde, die den wissenschaftlichen Menschen ausmacht, oder der Mythos von der puren Rationalität des Forschers wären dankbare Aspekte.

Aber nach der Entzauberung des ganzen Systems verbreiten die Details mangels nennenswerter neuer Einsichten nur noch Langeweile.

Da jedoch 'Mythos' ein so konnotationsreiches Zeichen ist, haben wir Möglichkeiten genug gesehen, vermittelt und unvermittelt, nach seiner Präsenz in der Wissenschaft zu fragen und mit ihm als Referenz ein Heft zu füllen. Wir haben aufgesammelt und notiert, was auf den Fluren vor und nach den Vorträgen auf Podien räsoniert wird, wenn Mythen, aber auch Legenden, Bilder und religiöse Reste zum Vorschein kommen. Wo die Wissenschaft aufhört und die Mythen beginnen, haben wir bei dieser Gelegenheit nicht gelernt. Dass die 'Wissensgesellschaft' inzwischen verzweifelte Ähnlichkeit mit einer 'Glaubensgesellschaft' hat, ist uns schon länger bekannt.