AchillHeft 14: EDITORIAL von Dieter Simon


Curriculum Vitae: der Lebenslauf. Jeder hat ein Curriculum, es ist in der Regel nur für den bemerkenswert, der es durchläuft oder durchlaufen hat.

Deswegen ruhen die Curricula Vitarum der meisten in den Schubladen und Gedächtnissen. Es gibt Gelegenheiten, zu denen die Daten hervorgekramt werden müssen. Der Tod ist eine solche Ausnahme. Wenn der Lebensläufer Geschichte geworden ist, erbittet der Pfarrer ein Curriculum, damit er am Grabe vertraulich werden kann. Auch die Nachrufschreiber, so es sich denn um eine Nachrufpersönlichkeit gehandelt hat, gieren nach Hinweisen. Wenn es beendet ist, wird jedes Curriculum wenigstens für einen Tag bedeutsam, für die Läufer hat es sich mit diesem Tag allerdings erledigt.

Das ist anders im prallen Leben. Etwa, wenn Preise verteilt werden, Beförderungen anstehen, öffentliches Lob ausgesprochen oder öffentliche Strafe verhängt werden soll. In diesen Fällen steht ein gutes Curriculum im Zentrum der Begehrlichkeiten. Und anders als am Ende kann und will der Eigentümer an seinem Curriculum noch gestaltend mitwirken. Deswegen wird das Curriculum zur Biografie stilisiert. Zufälle werden zum Plan. Wenn es um ganz Wichtiges geht: zum Lebensplan. Schulen und Fächer verschwinden, neue Ausbildungen tauchen auf. Ferien werden in Feldstudien verwandelt. Ein Besuch mutiert zum Forschungsaufenthalt.

Besonders wuchert die autobiografische Dichtung bei Bewerbungen aller Art. Und hier sind es wieder die Wissenschaftler, die durch Innovationskraft und transformierende Fantasie herausragen. Ihre Stellen sind, wie man weiß, außerordentlich knapp, die Konkurrenz ist riesengroß, und was erwartet wird, ist weithin und allgemein bekannt.

Im Curriculum Vitae (besser: CV, was hier unbedingt 'si wi' auszusprechen ist) häufen sich demgemäß die Kenntnisse fremder Sprachen. Jeder Grenzübertritt wird zum Auslandsaufenthalt, und jedes Vorwort rückt ein in das unendliche Heer der Publikationen. Die Auszeichnungen werden sorgfältig und chronologisch notiert, die Mitgliedschaften in jeder nicht verfassungswidrigen Vereinigung beweisen das vielfältige und gesellschaftlich wertvolle Engagement. Originell wäre lediglich noch ein 'si wi', in dem dargelegt würde, der Betroffene sei nicht gelaufen, sondern habe sich zu Hause durch Nachdenken perfektibilisiert.

Daraus werden Beobachter in künftiger, weiter Ferne auf endlose Homogenität, Gleichförmigkeit und Langweiligkeit der Lebensläufe unserer Wissenschaftler schließen. Aber die Wirklichkeit beugt sich zwar der Ökonomie, doch auf dem Papier ist Platz für mehr.

Und so kann man - trotz insgesamt magerer Elite-, Wissenschafts- oder Biografieforschung - getrost zwischen den Zeilen der Curricula von der Vielfalt und Farbigkeit der Lebensläufe heutiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Kenntnis nehmen. Und von den Veränderungen, denen sie unterliegen: von dem antiquarisch anmutenden Selbstverständnis angesichts durchnormierter, lochkartengeprüfter Arbeitswelten; vom völligen Verschwinden des Gelehrten; von der Forscherlust, die sich nicht demütigen lässt durch die Not, jede Frage in ein antragsfähiges 'Projekt' kleiden zu müssen; von den Nachdenklichen, die sich unversehens auf ihr 'Marketing-Konzept' befragt sehen; von den neuen Bringschuldnerinnen und ihrer Bedrängnis im Vielfrontenkampf gegen Machos, Befristung, Kinderwunsch und Imitationsdrang. Und vieles andere mehr.

Das 21. Jahrhundert stellt viele neue Anforderungen an die Forscher, und diese Neuerungen schlagen sich auch auf das Selbstbild der Wissenschaftler nieder. Wir haben - notgedrungen eklektisch - Beobachtungen, Reflexionen, Systematisierungsversuche gesammelt und, wie immer, versucht, nach Status, Fächern, Alter zu mischen. Diesmal konnten wir auch wieder mehr Frauen zu Wort kommen lassen. Wir haben einen Blick über die Grenzen auf das neue Europa riskiert, und neu ist, dass unser Maskottchen, die fliegende Schildkröte, eine wissenschaftlich (genauer gesagt: kunsthistorisch) fundierte Biografie bekommen hat. Nicht so neu sind die Bemühungen, auch elektronisch präsent zu sein und so den Disput auszuweiten.