Heft 14 - Conrad Wiedemann: DER TRAUM EIN LEBEN oder: Die Germanistik nach dem Biografie-Verbot I. Saure Kutteln sind Innereien (für Berliner!), ein vom Aussterben bedrohtes Traditionsgericht. Ich bestelle sie in einem schwäbischen Weinlokal in der Eisenacher Straße, wo sie als Delikatesse angeboten werden und wo wir anfangs zu sechst oder siebent saßen, jetzt aber nur noch zu zweit, Hegemann und ich. Weggeblieben sind die Jüngeren, die Maultaschen-Esser, angeblich, weil man im Dunst der Innereien nicht über Barthes, Derrida, Butler oder Luhmann reden kann, aber in Wirklichkeit wohl wegen meiner Lebensläufe, von denen ich, wenn die Kutteln aufgetragen sind, nicht lassen kann. Den Vorschlag, in ein Lokal zu wechseln, das näher am Institut liegt, habe ich deshalb strikt abgelehnt, was nur der stets blasiert wirkende, aber von irgendeiner uneingestandenen Leidenschaft vibrierende Hegemann verstehen konnte. Er hasst die Nähe von Instituten und liebt meine Lebensläufe, die im Übrigen nicht irgendwelche, sondern die der wunderbaren Berliner Stadtneurotiker von 1800 sind. Leider erübrigt sich, seit wir allein sind, das Erzählen, denn H., der alles über Berlin weiß und nichts dort geworden ist, kennt sie ohne Ausnahme: von Wilhelmine Encke, Salomon Maimon und Karl Philipp Moritz über Rahel Levin, die beiden Humboldts und Kleist bis zu E. T. A. Hoffmann, Schinkel und David Ferdinand Koreff, so dass wir, Fachleute unter sich, gleich höher ansetzen und die Klischeeproduktion der Historiker verhöhnen, die Quellen durchmustern und die Akzente richtig setzen können. Wir schreiben die Geschichte in der Eisenacher Straße neu. Was die Rollenverteilung betrifft, so brauchen wir uns dort nicht zu verstellen. Also nicht das alte akademische Schofel-Prinzip 'Spiel du den Blöden', sondern solides Charakterdrama, hier gestimmt auf Gnade und Ungnade.
Die tieferen Gründe für H.s gnadenlosen Blick auf die Historie und ihre Verwalter sind mir unklar. Denn was die eigene Person betrifft, hält er es mit Voltaires anfechtbarem Wort, dass "der Hochmut der Kleinen darin besteht, immer, der der Großen, nie von sich zu sprechen". Ich weiß deshalb nicht mehr über ihn, als dass er mir eine Berliner Kindheit und ein paar intellektuelle Freunde in New York voraushat. Die Ungeduld, um nicht zu sagen: Unduldsamkeit seiner rebellischen Fantasie geht immerhin nicht so weit, dass er meine vom langen Universitätsdienst gehärtete Versöhnlichkeit und Neigung zum beredten Staunen nicht gelten ließe. Ich weiß nicht, wovon er lebt, und wie ehrlich seine Liebe zu den Kutteln ist, wage ich nicht zu beurteilen. II. Einig sind wir uns allerdings darin, dass es mit den nach-fritzischen und nach-kantischen Intellektuellen-Biografien von Berlin etwas Besonderes auf sich hat. Natürlich ist uns klar, dass es auch vorher und andernorts wild bewegte Künstlerschicksale in Deutschland gegeben hat, aber hier, in der rauen Morgenluft einer kaum noch erkannten Großstadtszenerie, scheint uns so etwas wie ein kollektiver Eigensinn am Werk. Eben was Goethe den "verwegenen Schlag" genannt hat. Jeder, der damals auf seine Intelligenz oder seine genetische Mitgift vertraut (und das sind nicht wenige), will etwas riskieren, etwas ausprobieren, eine Wette auf sich selbst abschließen. Das Stichwort heißt 'Lebensplan'. "So lange ein Mensch", so Kleist an seine sträflich unterschätzte Braut, "noch nicht im Stande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, so lange ist und bleibt er unmündig [und] unter der Vormundschaft des Schicksals." Geisteswissenschaftler lieben solche Sätze. Sie bringen Ordnung in den unübersichtlichen Geschichtsprospekt und sind Ausgangspunkt weiterführender Deutungsmuster, die die Ordnung verbessern und vergrößern. Solche Deutungsmuster heißen Emanzipationsschub, kulturelle Revolution oder idealistische Mobilisierung und sind wiederum Teil übergeordneter Deutungsmuster, die etwa 'Strukturwandel der Öffentlichkeit' oder 'Übergang von der ständischen zur funktionalen Gesellschaftsordnung' heißen. Natürlich sind Entwirrungshilfen dieser Art ein historiografisch-didaktischer Segen, aber H. und ich haben beschlossen, sie zu ignorieren, jedenfalls solange wir in der Eisenacher Straße kontaminierte Innereien verzehren.
Einverständnisse mit H. sind hart erfochten. Ich versuche ein Gedächtnisprotokoll: H.: Entwirrungstheorien ruinieren die Geschichte, sie treiben ihr das Leben aus. Ich: Ich befürchte, du hast Recht. Aber es geht nun einmal nicht ohne Begriffs- und Strukturbildung. H.: Aber Strukturgeschichte pur ist die Pest, niemand, der Zeit und Ort schmecken will, liest sie. Sie wird im Doktorandenkolloquium dahinsiechen. Die Rückkehr der Bio-Historie ist so sicher wie die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka. Ich: Mir scheint, die Frage 'Struktur oder Erzählung' ist schon seit langem wieder aktuell, und was Odysseus betrifft, so ist mir sein Reiseleben wesentlich sympathischer als sein blutiger Auftritt in Ithaka. H.: Aber seine Irrfahrt ist ein Märchentext und seine Rückkehr nach Ithaka eine Rückkehr in die historische Wirklichkeit. Der Traum ein Leben. Interpreten, die diesen Widerspruch mit einem Strukturargument applanieren, interessieren mich nicht. Lebensläufe sind nur von ihren neuralgischen Punkten aus zu verstehen. Nichts Öderes als die biografischen Archive, die in beamtengeführten Instituten ab- und fortgeschrieben werden. Die wenigen sensiblen Revisionsversuche entsorgt man dort in den bibliografischen Schutthalden. Ein Desaster. Wir brauchen so etwas wie eine neue Quellenerotik. Ich: Meinst du Dekonstruktion? H.: Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber dann muss man seine Handikaps vor dem Spiel klären, nicht, wie Derrida in seiner Autobiografie, nachher. Ich: Also, Quellenerotik klingt gut, obwohl ich mir nur Ungenaues darunter vorstellen kann. Bestenfalls, dass mir die Sätze von Rahel und Kleist unter die Haut und Fichtes Berliner Reden auf die Ketten gehen. Aber ich bin auch schon angetan, wenn mir auffällt, dass Kleists Lebensplan-Pathos eine nachträgliche Selbstrechtfertigung war. Er wusste ja erst spät, was er wirklich wollte, und bis dahin war nichts planloser als sein ständig umgeplantes Leben. Biografisch klar und entschieden ist nur, was vor den 'Plänen' passierte, das intuitive Loslassen der Halterungen, sein Ausstieg aus der Militärlaufbahn mit unbestimmtem Ziel. Ähnlich war es mit Rahel, als sie ihr Judentum verabschiedete, ohne die Folgen zu bedenken und ihre Bestimmung zu kennen. Und ähnlich war es auch mit den Humboldt-Brüdern, als sie "Schloß Langeweile" und die Zurichtung für eine preußische Beamtenkarriere preisgaben, um - zunächst insgeheim - ihr nicht unbeträchtliches Vermögen für ziemlich unklare 'höhere' Absichten einzusetzen. Wilhelm suchte 20 Jahre herum, bis ihm die Universitätsgründung gelang, und noch etwas länger, bis ihm die Sprachwissenschaft angewachsen war. Bei Alexander ging es schneller, aber auch er betrieb zehn Jahre lang Ideen-Lotto, bevor er 1802 auf dem Chimborazo stand. Und so Moritz, Maimon, Gentz, Pauline Wiesel, Louis Ferdinand, Varnhagen, Fouqué, Arnim, Chamisso, Zelter, Hoffmann, ja im Grunde auch die Staatsdienstler Stein und Scharnhorst, Schadow und Schinkel - alles Gelände- und Orientierungsläufer. H.: Einverstanden. (Seltener Glücksmoment!) Man kann in diesen Biografien etwas finden, das über vergleichbar riskante Selbstentwürfe wie die von Lessing, Winckelmann oder Heinse hinausgeht. Ich meine den Hiat zwischen Aufbruch und gefundener Bestimmung als den beiden biografischen Fixpunkten. Dieser Hiat ist in den stadtbürgerlichen Biografien von Berlin nicht nur größer, sondern auch unbestimmter. Oder anders gewendet: Wenn du mir zustimmst, dass die Lebensläufe von Lessing, Winckelmann, Heinse, aber auch die von Jean Paul und Hölderlin und - wenn ich's genau bedenke - erst recht die der vier großen Weimarer Goethe, Herder, Wieland und Schiller etwas Unbeirrbares haben, dann darf für die von dir genannten Berliner wohl die Diagnose der Beirrbarkeit gestellt werden. Das, was sie auf sich eindringen sehen und lassen, macht sie zu Routiniers des Unsteten. Du weißt, dass es im damaligen Berlin, anders als in Weimar, Tübingen und Jena, keinerlei Schulenbildung gibt. Ja selbst Gruppenbildungen im Grunde nur dann, wenn man wieder einmal aufeinander einschlägt. Man kennt sich, man trifft sich fast ständig in den unterschiedlichsten Clubs und setzt sein Selbstbild immer neu zusammen. Keine Biografie gleicht der anderen, kein Werk gleicht dem anderen, keine Beschädigung gleicht der anderen. Vor allem Letzteres scheint mir symptomatisch. Es gibt, bei aller Werk- und Ichbesessenheit, keine Beruhigung, keine Gnade in diesen Lebensläufen. Ich: Ich muss dich unterbrechen, bevor du auf deine Lieblingsspur kommst. Lass mich noch einen Gedanken einfügen, der sich mit deiner These von der 'Beirrbarkeit' trifft. Er lautet etwa so: Die Beobachtung, dass die lauthalse Selbstbestimmungsrede sich im Grunde nur im Negativen, also im Akt des Ausstiegs, und kaum im Positiven, also einem klaren strategischen Konzept, erfüllt, muss durch das Bild der intellektuellen Stadtlandschaft ergänzt werden. Nichts darin ist homogen. Einheimische und Fremde, Deutsche, Franzosen und Juden, Hof, Adel, Bürger, Soldaten und frei schwebende Intelligenz. Öffentlichen Einfluss haben vor allem die Spätaufklärer der Mittwochsgesellschaft, doch daneben kursiert eine Menge Attraktives und Unfertiges: Klassizismus, Neuhumanismus, Transzendentalphilosophie, Idealismus und eine Esoterik, die sich bald Romantik nennen wird. Man kann dies die Freiheit des Durcheinanders oder die Freiheit der Wahlmöglichkeiten nennen. Ich plädiere für Letzteres. Nimm die Geschwister Tieck als Beispiel. Ludwig, Sophie und Friedrich, nur wenige Jahre auseinander, machen es zunächst wie ihre Generationsgenossen. Sie quittieren ihre Herkunft aus einem Handwerkerhaus in der Roßstraße und tauchen völlig ungesichert und ungerichtet ins Intellektuellen- und Künstlermilieu der Stadt ein. Das vollzieht sich, entsprechend Alter und Geschlecht, nach unterschiedlichem Zeittakt, doch irgendwann (es ist der Sommer 1795) finden wir sie in einem Gartenhaus am Stadtrand, wo sie, drei junge WG-Wilde, das reichlich ungewisse Neue simulieren. Da Ludwig als der Älteste und Begabteste der Wortführer ist, kann dieses Neue eigentlich nur das 'Romantische' sein, das Ludwig als ein zunächst subversiv gegen Aufklärung und Neuhumanismus gerichtetes Lebensgefühl erprobt hat und nun zu einem Berliner Manifest erheben will. "Die Phantasie an die Macht". Tatsächlich scheint dies, nach Auskunft der Quellen, das einzige Thema im Gartenhaus gewesen zu sein. Doch das Erwartbare tritt nicht ein. Aus dem Tieck'schen Familienunternehmen Romantik kann nichts werden, weil die biografischen Optionen der Geschwister weit auseinander gehen. Ludwig wird - schmerzensreich, aber quasi unaufhaltsam - zum "König der Romantik", übrigens auch darin, dass er als Erster die romantische Stadtflucht praktiziert. Friedrich, der Jüngste der drei, entscheidet sich für die Bildhauerei und wechselt damit zwangsläufig ins Lager des Klassizismus, denn eine romantische Bildhauerei gibt es nicht. Er wird kein ganz Großer in seinem Metier, aber immerhin der Favorit Goethes und Schinkels. Der interessanteste Fall ist für mich Sophie. Als literarische Schülerin und Zuarbeiterin Ludwigs bewegt sie sich zwar relativ lange in romantischen Gleisen, doch scheint es angesichts ihrer mäßigen Begabung wenig sinnvoll, sie als Romantikerin abzufertigen. Nicht als solche ist sie bemerkenswert, sondern als Frauenrechtlerin avant la lettre. Natürlich teilt sie das Schicksal aller emanzipierten Frauen ihrer Zeit, nämlich 'durch Männer hindurch' leben und diesen wieder entrinnen zu müssen (hier der Große Bruder, der erste Ehemann Bernhardi und August Wilhelm Schlegel). Ein eigenes Profil gewinnt sie aber erst durch ihren Scheidungsprozess, der, obwohl selbst von ihren Schicksalsgenossinnen zum bloßen 'Skandal' degradiert, realiter eine verbissene und fintenreiche Auseinandersetzung mit dem neuen Preußischen Landrecht war, die ihr am Schluss das Sorgerecht wenigstens für einen ihrer Söhne einbrachte. Drei Geschwister, drei Optionen, drei Lebenskämpfe. H.: (reichlich herrisch) Auf das Letztere kommt es an. Der 'Weg ins Freie', mit dem deine viel zu verklärten Berliner Lebensläufe alle beginnen, ist der Weg in eine mehr oder minder unkalkulierbare, protodemokratische und von der Geschichte heimgesuchte großstädtische Gesellschaft, die wenig verbietet, aber auch wenig schenkt. Das ist neu und ziemlich beängstigend für die deutschen Intellektuellen, die ja normalerweise dazu neigen, das bisschen Gesellschaft, das ihnen begegnet, zu fliehen und für ein Geistesasyl einzutauschen. So ist Weimar konstruiert, aber auch die vielen kleinen Universitäten, einschließlich Königsberg und Jena. Nur in Berlin istman mit einer Gesellschaft konfrontiert, die diesen Namen verdient (haben Goethe und ich doch schon längst gesagt), und kaum einer, der von dieser Konfrontation nicht beschädigt worden wäre. Nennen wir es das Kleist- oder Rahel-Syndrom. Es kommt also alles darauf an, die Keimzellen, die Quellpunkte dieser Traumatisierungen freizulegen. Kennst du Koreff? (Ja). Kennst du Oppeln-Bronikowski? (Ja, wie könnte man K. ohne O.-B. kennen.) Unterbrechung des Protokolls: David Ferdinand Koreff (1783-1853) war ein jüdischer Arzt und Bel Esprit, Mitglied des Berliner Nordstern-Bunds, dann als reisender Causeur und Mesmerianer eine europäische Berühmtheit (Paris, Italien, Wien, Berlin), nach 1815 Serapionsbruder und einflussreicher Günstling Hardenbergs, der ihn zum Gründungskurator der Universität Bonn machte. Liberaler Geist. Nach seinem politischen Sturz Rückzug nach Paris. H. (weiter): Oppeln-Bronikowskis Biografie, die mit dem missgünstigen Scharlatan-Mythos aufräumt, ist ein Labsal. 156 Seiten Lebenslauf, 610 Seiten Dokumente. In den Dokumenten findest du die kleinen Schwelbrände, um die es mir geht. Ich möchte dir drei anbieten. Zunächst die Anekdote, dass Koreff, Gast beim Wiener Kongress, dem russischen Zaren (Alexander) in der Kärntner Straße einen Stockschlag verpasst habe. Von hinten wohlgemerkt, also versehentlich - dafür aber derb. Der Informant ist Adolphe de Custine, der Sohn seiner Geliebten. Dessen Quelle wiederum ist Koreff selbst, der in solchen Dingen als nicht sonderlich genau galt. Die zweite Unterstreichung habe ich für dich in dem Schreiben Hardenbergs gemacht, das Koreff zum Vortragenden Rat bestellt und dessen Schlusssatz lautet: "Übrigens haben Sie sich die Uniform der Vortragenden Räte bei meiner Person anzuschaffen." Die letzte Stelle findet sich in Hoffmanns Serapionsbrüdern, wo Vinzenz, d. i. der Rollenname Koreffs, von sich sagt: "Ich kann [...] mich wie der kleine Schotte Donald Monro für einen Spiegel halten und alle Blicke, Grimassen, Posituren dessen nachmachen, der mir ins Gesicht schaut." Was hältst du von dieser Zusammenstellung? Ich könnte noch das eine oder andere ergänzen, aber mir scheint, im Schnittpunkt solcher Stellen liegt das Geheimnis. Ich: Welches Geheimnis. H.: Das Geheimnis seiner Biografie, ihr Unglück. Ich: Ich habe Koreff zwar für einen relativ komplizierten, aber nicht sonderlich unglücklichen Menschen gehalten. Doch ich werde deine Vorschläge überlegen, die Historische Kommission braucht es ja nicht zu erfahren. H.: Mir scheint, ich habe dich überfordert. Ich: Kann sein. Vielleicht interessiert dich, das Rahel einmal geschrieben hat: "Mir fehlt Koreff und Gesundheit." III. Mir scheint, zwischen Hegemann und mir geht es zu Ende. Er hat unsere Spielregeln verletzt. Er wüsste jetzt, so H., warum ich mich für die alten Berliner Lebensläufe so begeisterte.
Ich: Bitte, ich höre. H.: Du denkst doch über deine Biografie nach? Ich: Jeder arbeitet ständig an seiner Biografie, Gott sei Dank publiziert sie nicht jeder. Ich werde in einem Jahr emeritiert. H.: Mir graut vor Germanistenbiografien. Gott sei Dank reichen sie nur selten über ihre Institute hinaus. Ich: Ich kenne deine Vorbehalte gegen die akademische Zunft und kann sie dir nicht verargen. Aber es gibt viel zu tun. Wir sind für die Studenten da. H. (der mir ein Bündel Zeitungsausschnitte über den Tisch schiebt): Leider. Ich glaube, die da haben nicht ganz Unrecht. "Die erschöpften Germanisten", "Buhmann der Nation", "die Literatur aus den Augen verloren", "sklavisch dem Weg der 68er-Generation gefolgt". Ich: Ich kenne das Zeug. Du bist zum Feuilleton übergelaufen, in dem übrigens auch meine Kollegen schreiben, und nicht selten glänzend. Aber was hat das alles mit mir zu tun? H.: Ich wünschte mir, wenig. Aber mit deinem Germanistenleben kannst du unmöglich glücklich sein. Ihr habt euren Gegenstand preisgegeben für drei Dutzend geliehener Theorien. Keine davon ist auf eurem Mist gewachsen, wie schon die Ballett-Figuren der 68er: Go-in, Sit-in, Teach-in, Hand-out. Ich: Die Welt ist durchlässiger geworden. Sollen wir wieder einen Jargon der Eigentlichkeit sprechen? H.: Einen Jargon der Sinnlichkeit. Euren Nachwuchs erkennt man daran, dass er seine Sätze mit dem Namen eines Theoretikers beginnt anstatt mit einem Schriftstellernamen und dass er seine lateinunkundigen Schüler zwingt, 'stratifikatorisch' anstatt 'ständisch' zu sagen. Ich: Ich glaube, du übertreibst und warst schon sehr lange mehr in keinem Seminar. Unser Nachwuchs sagt: Beobachtung, Wahrnehmung und Fantasie (mit Verlaub) und erwärmt sich für Goethe, Moritz, E. T. A. Hoffmann, Rameaus Neffen und Elfriede Jelinek. Aber noch einmal: Was hat das alles mit mir zu tun? H.: Ich spüre, dass du unter eurer Austreibung des Lebens und des Geistes leidest und dich jetzt, wo es zu spät ist, an der Vital-Utopie deiner Berliner Lebensläufe hochziehst. Ich fürchte, es funktioniert wie im schlechten Klassizismus: den griechischen Faltenwurf über die vertrockneten Hof- und Kommerzienratsschultern. Ich (aufstehend): Du bist beleidigend. Und gesetzt, du hättest Recht - wie scheinheilig ist dann eigentlich dein Evangelium vom authentischen Leben aus dem beschädigten? H.: Ja, ich bin ungerecht. Verzeih. Aber Lessing war auch ungerecht, und ich kann schwer ertragen, dass seine "geliebte Irrascibilität" von Beamten gepriesen wird. Ich: Du vergisst, dass ich die Eisenacher Straße erfunden habe. H.: Da kommen die sauren Kutteln. | |