Heft 18 - Astrid Epp: IM SCHATTEN DES MEDIENSPEKTAKELS

Kaum beachtete Alltagsrisiken


"Die Diskussion über die verschiedenen Punkte zeigte deutlich, dass Kenntnisse über Kunststoffe bei den meisten der Sitzungsteilnehmer nicht vorhanden waren. Der Vertreter des Ministeriums meldete sich zu Wort und erklärte, der Regierung sei von der ganzen Problematik nichts bekannt."
Sitzungsnotiz Kunststoffkommission 1957


Im Mai dieses Jahres feierte die 'Kommission für die gesundheitliche Beurteilung von Kunststoffen und anderen Polymeren im Rahmen des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches', kurz 'Kunststoffkommission' (KuKo), ihr 50-jähriges Bestehen. Aufgabe dieser Institution ist es, gesundheitliche Risiken zu bewerten, die sich aus Lebensmittelverpackungen für Verbraucherinnen und Verbraucher ergeben könnten.

Die Öffentlichkeit hat von diesem Jubiläum keine Notiz genommen, und auch im Bereich der Science Policy Studies wurde dieses Jubiläum nicht gewürdigt. Das erstaunt zunächst nicht. Nicht nur der zugegeben etwas sperrige Name dieses Gremiums, auch der Gegenstand, mit dem es sich beschäftigt, scheinen wenig geeignet, in der allgemeinen wie auch der fachlichen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen. So kann die Migration von Kunststoffen aus einer Lebensmittelverpackung in den Käse oder die Wurst zwar ein Risiko für Verbraucherinnen und Verbraucher darstellen, wirklich aufregen tut das in der Öffentlichkeit aber niemanden. Bei genauerem Hinsehen erstaunt dieses mangelnde Interesse dann aber doch, handelt es sich bei der Kunststoffkommission doch um ein Gremium, das im Auftrag wechselnder Ressorts seit nunmehr einem halben Jahrhundert die Frage bearbeitet, wie Kunststoffe, die im Lebensmittelverkehr Anwendung finden, vom gesundheitlichen Standpunkt aus zu beurteilen sind. Kurz: Es geht um Risikoeinschätzungen und damit um ein Thema, das nicht mehr nur in gesellschaftlichen Nischen, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit Resonanz erzeugt.

Eine große Zahl der Studien, in deren Zentrum die Frage nach dem Umgang mit Risiken im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit steht, beschäftigt sich mit Themen, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden. Ein äußerst populäres Beispiel sind hier die Untersuchungen, welche die gesellschaftlichen Folgen der Einführung der Gentechnologie analysiert haben, in deren Verlauf ein enormes gesellschaftliches Konfliktpotenzial freigesetzt wurde. Aufgrund der Qualität möglicher Folgen des Einsatzes dieser Technologie, die vor allem unter dem Stichwort der 'Irreversibilität' diskutiert wurden, trat die Frage in den Vordergrund, wie damit zu verfahren sei, dass - so die Kritiker - es kein ausreichendes Wissen gäbe. Dieses fehlende Wissen kann allerdings sowohl als Argument für wie auch gegen den Einsatz dieser Technologie angeführt werden. Sichtbar wurde hier aber vor allem, dass riskante Entscheidungen deshalb riskant sind, weil sie unter Einsicht in die Begrenztheit oder Unzulänglichkeit ihrer Grundlagen getroffen werden müssen.

Festzuhalten bleibt: Die Frage nach dem Umgang mit dem, was (noch) nicht gewusst wird, ist zentral für den Umgang mit Risiken, gleich welcher Art.

Die Virulenz dieser Frage, die zugleich auch die Grenzen der Wissenschaft ins Bewusstsein hob, blieb nicht ohne Folgen für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Insbesondere die Legitimation durch Sachverstand geriet ins Wanken; zum einen wurden die Grenzen des Sachverstands deutlich, zum anderen sprach die Wissenschaft häufig nicht mehr mit einer Stimme. Experten sahen sich Gegenexperten gegenüber, und eine Gruppe bezweifelte jeweils die Aussagen der anderen - auch öffentlich. Eine Folge dieser krisenhaften Erscheinungen war die Forderung, riskante Entscheidungen dadurch zu entschärfen, dass man neben Experten auch Betroffene oder zumindest Vertreter der Betroffenen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen am Entscheidungsprozess teilhaben lässt.


Ist die Krise der Wissenschaft eine Krise der wissenschaftlichen Politikberatung?

Zumindest hat die Krise der Wissenschaft die wissenschaftliche Politikberatung prekär erscheinen lassen, verlangt die Politik ebenso wie die Öffentlichkeit doch nach verlässlichem, gesichertem Wissen. Auch die Pluralität der Expertenmeinungen hat den öffentlichen Glauben in die Wissenschaft erschüttert, und so scheint zugleich die wissenschaftliche Politikberatung infrage gestellt.

Die Studien, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, berücksichtigen jedoch häufig nur die prominenten, weil öffentlichkeitswirksamen Risikothemen wie die Gentechnologie oder eben neuerdings die Nanotechnologie. Diese stellen indes nur einen relativ kleinen Bereich der alltäglichen Praxis der wissenschaftlichen Politikberatung dar. Daneben gibt es auch einen alltäglichen, routinierten und zugleich weniger öffentlichen Umgang mit Risiken. So existiert im Schatten jener kontrovers diskutierten Themen, welche die öffentliche Debatte dominieren, eine Praxis wissenschaftlicher Politikberatung, in der sich über Jahrzehnte Routinen für den wissenschaftlichen Umgang mit Risiken entwickelt haben. Die eingangs erwähnte Kunststoffkommission ist nur ein Beispiel für ein Gremium, das seit Jahrzehnten in aller Stille Risiken 'bearbeitet' und Empfehlungen zum Umgang mit diesen Risiken an die Politik gibt.


Risikobewertung als Routine

Eine Institution, für die der Umgang mit Risiken nicht nur Routine darstellt, sondern zugleich auch identitätsstiftenden Charakter hat, ist das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), das im Jahr 2002 gegründet wurde. Es beschäftigt sich mit Risiken aus dem Bereich des gesundheitlichen Verbraucherschutzes, also Risiken, die im Zusammenhang mit Chemikalien, Lebensmitteln und Produkten auftreten und daher eine Gefahr für Verbraucherinnen und Verbraucher darstellen können.

Im Rahmen einer Bewertung wird ein Risiko definiert als "das Produkt aus Ausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens. Grundlage für die Ermittlung der Eintrittswahrscheinlichkeit bilden Expositionsdaten" (BfR 2005). Damit handelt es sich hier um einen 'rein' naturwissenschaftlichen Risikobegriff, es ist gemäß dieser Definition relativ gut fassbar. Die Praxis der Risikobewertung folgt der Frage "[w]elche gesundheitlichen Risiken eines Stoffes, eines Produktes, einer Stoff- oder Produktgruppe oder einer mikrobiellen Gefahr [...] aufgrund des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes abgeleitet werden" können (BfR 2005). Bearbeitet wird diese Frage nach einem relativ strengen Muster, das in einem Leitfaden "Format für gesundheitliche Bewertungen" niedergelegt ist. Danach wird zunächst das Agens (Gefahrenquelle, etwa Produkt, Stoff, Erreger) und danach das mit diesem Agens verbundene Gefährdungspotenzial dargestellt, wozu unter anderem auch Angaben zur Dosis-Wirkungs-Beziehung gemacht werden. Daran schließt sich die Abschätzung der Exposition an, der Angaben zu exponierten Bevölkerungsgruppen und/oder zur Verbreitung des Agens zugrunde liegen. Abschließend wird das Risiko umfassend charakterisiert, das heißt, Aussagen über das Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Schäden werden getroffen.

Gemäß diesen Vorgaben entstehen nahezu täglich Aussagen über Risiken, die zur Grundlage politischer - also kollektiv bindender - Entscheidungen werden. Nur zur Illustration: Im BfR wurden im ersten Quartal dieses Jahres insgesamt 772 schriftlich niedergelegte, fachliche Stellungnahmen verfasst, die an die Aufsicht führenden Bundesministerien, an die EU, an die WHO und OECD sowie an Behörden und Gerichte gingen, zu Themen wie isolierte Isoflavone, Tätowierungen und Permanent Make-up, Uran in Trink- und Mineralwasser und Kadmium in Schokolade.

Warum das hier so ausdrücklich erwähnt wird? Sicher nicht, um auf die Geschäftigkeit des Hauses hinzuweisen, sondern vielmehr, um den Blick dafür zu schärfen, dass Risiken zum Alltagsgeschäft wissenschaftlicher Politikberatung gehören.

Die Kunststoffkommission, aber auch die geschilderte, leitfadengeführte Bewertung eines Risikos sollen zum einen daran erinnern, dass der Umgang mit Risiken im Bereich der wissenschaftlichen Politikberatung nicht neu ist. Im Gegenteil: Nichtwissen aufseiten der Politik war der entscheidende Auslöser für die Entstehung wissenschaftlicher Politikberatung. Zum anderen soll aber auch darauf hingewiesen werden, dass der Umgang mit Risiken insbesondere aus Perspektive derjenigen, die sich routinemäßig damit befassen, in der Regel wenig prekär ist. Risikobewertungen gehören zum beruflichen Alltag und entstehen nicht selten unter Zeitdruck. Somit werden die geschilderten Routinen nur selten reflektiert.


Fazit

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Forschung über Politikberatung sich nicht gerade diesen alltäglichen Routinen der Risikobearbeitung widmen sollte, anstatt sich immer wieder solchen Themen zuzuwenden, die zwar in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert werden, für die eigentliche Praxis der Politikberatung aber eher ein Thema von geringerer Bedeutung sind. Sonst könnte der Eindruck entstehen, dass die Auswahl der Themen vor allem die öffentliche Debatte spiegelt, Themen also gemäß dem öffentlichen Trend ausgesucht werden. Damit aber säße diese Forschung der Logik ihres eigenen Gegenstandes auf, denn die Untersuchung solcher öffentlichkeitswirksamen Themen erscheint vor allem dann sinnvoll, wenn man etwas über den Zusammenhang von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit erfahren möchte. Gilt das eigentliche Interesse aber dem engeren Verhältnis von Wissenschaft und Politik, so sollte man sich auch solchen Themen zuwenden, die weniger in der Öffentlichkeit als vielmehr in den wissenschaftlichen Fachbehörden verhandelt werden. In den Institutionen der wissenschaftlichen Politikberatung wird zunehmend Reflexionswissen benötigt - die Debatten über wissenschaftliche Unsicherheit und den Umgang damit haben, hier tatsächlich allen Routinen zum Trotz, diese Institutionen längst erreicht und verursachen dort, zumindest in begrenztem Umfang, Irritationen.

Zusammenfassend betrachtet könnte die Hinwendung der Forschung zu weniger spektakulären Risikofeldern noch zwei weitere Vorteile haben.

Erstens: Die Untersuchung alltäglicher Praktiken des Umgangs mit Risiken und Unsicherheit und eine soziologische Analyse dieser Praktiken könnten zum Beispiel zu einer Identifizierung institutioneller Heuristiken im Umgang mit Unsicherheit führen (so wie es Gigerenzer für Individuen gezeigt hat). Neben den Aussagen über den jeweiligen Fall könnten dann auch bisherige Erkenntnisse aus Studien zu den prominenten Themen Bio- und Nanotechnologie in dem Sinne untermauert werden, dass diese Ausnahmefälle die Praktiken 'in der Regel' bestätigen.

Zweitens: Mit der Untersuchung von Themen, die im Alltag der Politikberatung eine größere Rolle spielen als die spektakulären, könnte die Forschung überdies eine größere Anschlussfähigkeit an die Praxis der Politikberatung erreichen. Es könnte dann gelingen - was auch eines ihrer Ziele ist - die Praktiken der Politikberatung nicht nur wissenschaftlich zu reflektieren, sondern diese auch zu beeinflussen und, wenn nötig, zu verändern.