Heft 19 - Peter Weingart: DIE ÖFFENTLICHKEIT DER WISSENSCHAFT: VORDERBÜHNE UND HINTERBÜHNE


Die Wissenschaft erhält (viel?) Geld aus Steuermitteln. Folglich muss sie zumindest in demokratischen Gesellschaften Rechenschaft darüber ablegen, was sie mit dem Geld Nützliches tut. Die fraglose Geltung dieses Prinzips hat die Wissenschaft der Privilegien des Standes beraubt und sie zu einer Lobbygruppe neben anderen degradiert. Der Grundsatz der Berichtspflicht gilt inzwischen allenthalben als oberstes Gebot einer 'good governance'. Aber anders als die großen Konzerne, die ihre Quartalsberichte in einfachen Zahlen an die Aktionäre melden und an der Börse auf schnelle Reaktionen hoffen können, ist es für die Wissenschaft nicht so einfach. Zwei Fragen stellen sich unmittelbar: Was soll berichtet werden und an wen?
 

Von der höfischen Gesellschaft zur massendemokratischen Öffentlichkeit

Ein kursorischer Blick in die Geschichte zeigt, dass die moderne Wissenschaft schon immer 'berichtet' hat, aber weder war sie selbst noch waren die Adressaten der Berichte dieselben wie heute. Im 17. und 18. Jahrhundert, als die Wissenschaft noch nicht in gleicher Weise ausdifferenziert war, bedurfte sie erst einmal der gesellschaftlichen Anerkennung und der Patronage. Die konnte nur der Adel gewähren. So ist das erste Publikum die höfische Gesellschaft. Ihr gegenüber führen die Naturforscher ihre Demonstrationen vor mit dem Hintergedanken, ein wenig Glanz möge auch auf sie fallen und ihnen größere Glaubwürdigkeit und Autorität verleihen. In einer Zeit, in der die Glaubwürdigkeit noch durch den sozialen Rang der Zeugen bestimmt wird, sind die Forscher auf ihre Zuschauer geradezu angewiesen. Im "goldenen Zeitalter der Amateurwissenschaft", dem 18. Jahrhundert, werden die Experimente mit Überraschungs- und Unterhaltungswert einem breit gefächerten Publikum vorgeführt, das vom vornehmen Salon bis zum Jahrmarkt reichte (Hochadel 2003).

Inzwischen hatten sich die Akademien als Orte der Forschung und der wissenschaftlichen Kommunikation herausgebildet, und die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft verlagerte sich auf die neue Institution. In dem Maß, in dem die Experimente komplexer und die Präzisionsinstrumente sensibler wurden, kam es zur "Trennung zwischen privater Ausführung experimenteller Handlungen und öffentlicher Aufführung von Tatsachen. Ein solcher Wandel in der experimentellen Praxis ging mit der Veränderung der Umgangsformen in der Akademie einher. Das Phänomen konnte nicht mehr [...] demonstriert werden, sondern es mußten Berichte über durchgeführte Präzisionsmessungen vorgelegt" werden (Sibum 1997, S. 257).

Die experimentelle Praxis wandert in geschlossene Laborräume ab, das zuvor geschätzte Publikum musste draußen bleiben. Dies ist der Augenblick, in dem sich die Berichterstattung aus der Wissenschaft aufspaltet: in eine primäre, die an die Wissenschaftler gerichtet ist, und eine sekundäre, die sich an ein breiteres Publikum richtet. Erstere findet in den Fachjournalen statt, Letztere in populären Darstellungen. Damit beginnen sich auch die disziplinären Fachsprachen herauszubilden, die tendenziell nur noch diejenigen verstehen, die mit denselben Methoden am selben Gegenstand arbeiten.

Mit dem Wandel der Öffentlichkeit zur bürgerlichen Gesellschaft im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert entsteht ein neues Publikum der Wissenschaft, das sich in einem regen Vereinsleben organisiert. Der populärwissenschaftliche Vortrag an ein bürgerliches Publikum wird im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur vorherrschenden sekundären Berichtsform der Wissenschaft. 1899 schreibt Ernst Haeckel im Vorwort zur siebten Auflage seines populärsten Buches Die Welträthsel: "Die vorliegenden Studien [...] sind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände bestimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des neunzehnten Jahrhunderts [...] gehört das lebendige Wachsthum des Strebens nach Erkenntniß der Wahrheit in weitesten Kreisen" (Haeckel 1901, S. III, meine Hervorhebung). Haeckel repräsentierte als erster Propagandist der neuen Darwin’schen Deszendenztheorie die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts, mit der die Wissenschaft nun identifiziert wurde. Unter solchen Bedingungen hat es die Wissenschaft leicht. Die allgegenwärtigen technischen Produkte wie zum Beispiel die elektrische Beleuchtung dokumentierten einer breiten Öffentlichkeit ihre Fortschrittlichkeit und Nützlichkeit. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Popularisierungsliteratur zu einem florierenden kommerziellen Markt entwickelt.

Dieses harmonische Verhältnis zwischen der Wissenschaft und ihrer Öffentlichkeit änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch. In den 1920er und 1930er Jahren, dem Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft zur Massendemokratie wird der bis dahin bestehende Respekt vor dem Publikum durch eine neue Vorstellung abgelöst. Das Publikum galt plötzlich als unwissend und desinteressiert. Popularisierung verlor ihre vorherige Anerkennung durch die Wissenschaft und galt mit einem Mal als untergeordnet und marginal, weil sie zur professionellen Forschungskommunikation nichts beiträgt.

Relativitätstheorie und Quantenmechanik standen für die neue Unanschaulichkeit, die jedoch nicht nur für die neue Leitwissenschaft, die Physik, sondern für alle Naturwissenschaften galt. Die Physik nahm nur insofern eine Sonderstellung ein, als die Relativitätstheorie eine Weltbildveränderung bewirkte. Aber anders als Darwins Theorie in der Mitte des 19. Jahrhunderts vermochte sie kaum Fortschrittsfantasien zu beflügeln, sondern beließ die Öffentlichkeit in ungläubiger Verständnislosigkeit und Schrecken über die Wirkungen der Atombombe. Die Leistungen der Naturwissenschaftler für die Produktion neuer Waffen waren zwar beeindruckend, aber nicht gerade imagefördernd. In den 1950er Jahren verflüchtigten sich die Reste der anfänglichen Faszination mit den Visionen der zivilen Nutzung der Kernenergie (etwa die großzügige 'Aushebung' von Häfen und Kanälen: Project Plowshare), bevor sie in die akute Sorge um die Risiken des wissenschaftlich-technischen Fortschritts umschlug. Die Distanz zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit wurde größer, und damit wuchs auch das wechselseitige Misstrauen. Da die Wissenschaft (in den USA und Westeuropa) während des Kalten Krieges mit der 'Freiheit' des Westens gleichgesetzt wurde, war sie von der Berichtspflicht weitgehend entbunden. Die heute als normal geltenden Erwartungen des ökonomischen Nützlichkeitsnachweises und seiner Dokumentation in Zahlen hätten noch bis in die Mitte der 1980er Jahre als sozialistisches Teufelszeug gegolten. Wo man sich dennoch gedrängt sieht, auf die Öffentlichkeit zuzugehen, geschieht dies von einer paternalistischen Position aus.

Die in dieser Zeit entscheidende Veränderung ist der 'Strukturwandel der Öffentlichkeit', nämlich die Ablösung der bürgerlichen Versammlungsöffentlichkeit des 19. Jahrhunderts durch eine massenmedial hergestellte Öffentlichkeit. Sie wird zuerst in den Zwischenkriegsjahren, sodann in den Propagandamaschinen der europäischen Diktaturen der dreißiger Jahre erkennbar, aber erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet sich diese Öffentlichkeit als Produkt der sich kontinuierlich zu großen Kapitalgesellschaften entwickelnden Medien. Die paradox erscheinende Konstellation ist nun, dass es diesen Medien nicht mehr um Aufklärung, um erbauliche Teilhabe und auch nicht um die Entgegennahme von Berichten aus der Wissenschaft geht. Für diese kommerzialisierten Medien ist die Wissenschaft vielmehr ein Bereich neben anderen, der dann und nur dann Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit wird, wenn er Nachrichtenwert hat. Diese Öffentlichkeit hat nichts mehr mit den 'Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände' zu tun, sondern sie ist ein amorphes und für die Medien nur aus den Leser- und Zuschaueranalysen sich erschließendes Publikum. Hauptsache ist, es sind möglichst viele, das heißt, die Quote ist hoch genug, um die Werbemittel einzutreiben (und gerade die Quote ist bei Nachrichten aus der Wissenschaft chronisch niedrig). Genau diese Öffentlichkeit ist nun Adressat der Berichte aus der ihrer Rechenschaftspflicht nachkommenden Wissenschaft.
 

Die Verselbständigung der Wissenschaftskommunikation

Nun könnte man denken, diese Beziehung sei im schlimmsten Fall folgenlos, doch das ist zu einfach und auch nicht der Fall. Zwei Entwicklungen lassen sich beobachten: Zum einen unterliegt die Wissenschaftsberichterstattung der gleichen Dynamik des Mediengeschäfts wie andere Bereiche auch. Die kommerziellen Medien bedienen ein Unterhaltungsbedürfnis des allgemeinen Publikums, das sie in der täglichen Quotenabfrage zu erkennen glauben, aber nicht wirklich kennen, weil gar nicht alle Möglichkeitsspielräume erkundet und folglich Aufklärungsüberraschungen nicht registriert werden können (die 'Sendung mit der Maus' ist unerklärlicher Kult). So folgen die Darstellungen der Wissenschaft den jeweils 'fashionablen' narrativen, zeitlichen und visuellen Gestaltungsprinzipien. Begriffe der PR-Macher wie Info- oder Edutainment verweisen auf den Rest des schlechten Gewissens, den zumindest diejenigen noch verspüren, die ihr Tun von guter Popularisierung unterscheiden können. Das Spektrum der Wissenschaftsdarstellungen reicht durchaus von ernsthaften Versuchen, an die große Tradition der Popularisierung anzuschließen (durch zunehmend professionelle Wissenschaftsjournalisten), bis zu absurden Formaten, auf denen zwar 'Wissen' draufsteht, aber nicht drin ist. Positiv ließe sich von Vielfalt sprechen, die immer gut ist. Kritischer gesehen sind gerade die teuersten Formate ('Einsteinjahr') diejenigen, die die Berichterstattung der Wissenschaft den PR-Agenturen überantworten. Die aber haben weder eine präzise Vorstellung von dem zu adressierenden Publikum noch ein Interesse an den Inhalten - Hauptsache: viel Aufmerksamkeit.

Dieser Modus der Kommunikation, der unter 'Rechenschaftspflicht' der Wissenschaft läuft und den Hochsicherheitsschutz politischer Korrektheit genießt, zeitigt nichttriviale Folgekosten. Unter denen ist hier relevant: Universitäten und Forschungseinrichtungen unterhalten inzwischen PR- und Marketingabteilungen und produzieren Hochglanzbroschüren, die denen der Industrie nicht mehr nachstehen. Ihre Kosten gehen pro Einrichtung in die Größenordnung mehrerer Wissenschaftlerstellen. Allein, die Wirkung dieser Maßnahmen ist unbekannt und tendiert wahrscheinlich gegen null, weil es das Publikum für diese Form der Berichterstattung gar nicht gibt (siehe zur Erfahrung amerikanischer 'law schools' Espeland/Sauder 2007, S. 26). Das Publikum sind wiederum nur die Medien selbst.

Die zweite Entwicklung ist in gewisser Weise die Radikalisierung der ersten. Das Postulat der Rechenschaftspflicht hatte von Anbeginn neben dem Aspekt der inhaltlichen Berichterstattung über neue Erkenntnisse der Wissenschaft den der Kontrolle und Bewertung. Die Behauptung der Wissenschaft, nur sie selbst könne beurteilen, welche Forscher gut, welche Universität exzellent sei, konnte in einem demokratischen Gemeinwesen nicht auf Dauer Bestand haben. Andererseits ist der Kern der Behauptung nicht zu bestreiten: Expertenwissen ist letztlich unhintergehbar. Wie aber sollte man angesichts der unübersehbaren Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse deren Qualität und die Exzellenz ihrer Urheber qualitativ verlässlich und überdies vergleichbar beurteilen? Schon Berufungskommissionen können die Literatur nicht lesen, die die Kandidaten produzieren. In dieser Situation kamen die Betriebswirte zur Hilfe. Wie in der Verwaltung großer Wirtschaftsunternehmen auch, setzen sie Kennzahlen ein, stellvertretend für die zu messende Sache selbst, leicht handhabbar, gut vergleichbar, ideale Instrumente für Außensteuerung. In der Wissenschaft geht es jedoch nicht (primär) um Geld. Bleibt der Weg über die viel zitierten Literaturmaße (Publikations- und Zitationsindikatoren). Der Einsatz dieser sogenannten bibliometrischen Indikatoren zur Leistungsbemessung einzelner Forscher (zum Beispiel bei Berufungen), von Fakultäten oder Universitäten (zum Beispiel für Rankings) bis hin zu ganzen Disziplinen enthebt die Evaluatoren der Aufgabe des Lesens. Das heißt, dass die Inhalte der betrachteten Wissenschaft für das relevante Publikum (Politik und Medien) uninteressant sind. Die wissenschaftsinterne Kommunikation wird in Stellvertreter ('proxies') transformiert, um sie dem externen Publikum überhaupt zugänglich zu machen.

Es waren nicht zufällig die Medien, die zuerst Interesse an dieser spezifischen Form der Berichterstattung aus der Wissenschaft angemeldet und sie massiv gefördert und beeinflusst haben. Unter dem Etikett der 'Transparenz' haben sie mit den von ihnen produzierten und publizierten Rankings den Nachrichtenwert 'Konkurrenz, Sieger, Verlierer = Sensation' bedient, gleichauf mit den Ligatabellen des Fußballs.

Es gibt sicher einen tatsächlichen Gewinn an Transparenz und kreativer Konkurrenz. Dem stehen allerdings die unkalkulierten und geflissentlich ignorierten Kosten eines breiten Spektrums von Anpassungs- und Manipulationsbemühungen seitens der öffentlich evaluierten Personen und Einrichtungen als unbeabsichtigte Folgen gegenüber. Ihre Erfassung ist inzwischen ein eigener Forschungszweig (systematisch zu Reaktivität Espeland/Sauder 2007). Das Publikum ist dreigeteilt: Studenten und ihre Eltern nutzen die Zahl für ihre Standortwahl, Politiker nutzen sie für ihre Steuerungsabsichten, und die Medien nutzen sie für die Erhöhung der Aufmerksamkeit.

Zusammenfassend auf eine zugegeben vereinfachte Formel gebracht: Im Verlauf von dreieinhalb Jahrhunderten ist Erkenntnisgewinn als gesellschaftliche Veranstaltung um etliche Größenordnungen gewachsen, damit ist die Erwartung an die Wissenschaft, Rechenschaft abzulegen, stetig gestiegen. Zugleich sind die Adressaten dieser Berichterstattung immer diffuser geworden, sie werden nur mehr von den Medien imaginiert und konstruiert, und die Inhalte der Berichte sind auf Kennzahlen eingedampft. Ein jeder mag für sich entscheiden, was davon zu halten ist, wenn es hinter einer glitzernden Vorderbühne gar keine Hinterbühne mehr gibt.