Heft 20 - Conrad Wiedemann: MUSS SICH ALLES, ALLES WENDEN? Diesmal war es besonders schwierig, Hegemann zu einem seiner Gegenworte für die GEGENWORTE zu überreden. Nicht weil sein Misstrauen gegen staatlich versorgte Kollegen und ihre schulgelehrten Themen gestiegen oder gar versiegt wäre (es ist zuverlässig gleich geblieben), sondern weil er nach 40 Jahren das Pfeifenrauchen aufgeben musste und seitdem nicht mehr schreiben, ja kaum denken könne. Aus Gewohnheit sitze er zwar weiterhin am Schreibtisch, starre aber nur untätig auf die Platane vor seinem Fenster. Der Entzug mache ihn sprachlos und misanthropisch. Lediglich das gleichbleibend schöne Bild der Platane bewahre ihn davor, gelegentlich auf jemanden loszugehen wie weiland Louis Althusser auf seine Ehefrau. "Lass mich draußen, ich passe gegenwärtig nicht in euer Spiel."
Ich: Du bist längst mittendrin. Hegemann: Wie das? Ich: Das Thema heißt Visualität und Wissenschaft. Es geht um den Iconic Turn und die Grundlegung einer allgemeinen Bildwissenschaft als Antwort auf die Überbilderung unseres Alltags. Das Bild also nicht immer nur als Kunstwerk, sondern als Passepartout unseres Weltverständnisses, als Veranschaulichung, als Psychagogie, als Erkenntnisrelais oder eben als Trieb- und Trauerregulator wie deine Platane. Verstehst du? Sie erklären dir deine Platane! H.: Meinetwegen! Irina versucht das ja auch. Also warum nicht deine beamteten Kollegen. Aber was mich wirklich stört, ist das Beben in deiner Stimme. Du sprichst ja wie ein Überläufer, wie ein Hans Liederlich, der will jede schöne Blum für sich! Als hätten dir Boehm+Belting+ Bredekamp den Stern über der Krippe gezeigt. Als altgedienter Philologe sollte dir aber das antisprachliche Ressentiment aufgefallen sein, das dort mitläuft. Bildliche Kommunikation überholt sprachliche! Zugegeben, Stern und Krippe sind Bilder, aber vom Gott in der Krippe behauptet der Evangelist, er sei das Wort, mit dem alles begänne und ohne welches nichts gemacht sei, was gemacht sei. Ich: Für einen entzugsgeschädigten Atheisten schlägst du ziemlich hohe Töne an. Genau dagegen, nämlich gegen die gottähnliche Rolle der Sprache in der westlichen Kultur, haben einige Bildwissenschaftler opponiert. Vielleicht zu Recht. Die überhebliche Botschaft des Linguistic Turn, dass das Authentischste unserer Erfahrung die Rede von ihr sei, kommt jedenfalls nicht mehr sonderlich an. Wir müssen uns damit abfinden, dass das Wort weiter an Einfluss verliert, das Bild weiter gewinnt und deshalb andere Fragen dran sind. Es gebe, so Boehm, jenseits der Sprache gewaltige Räume von Sinn, die keine Nachbesserung oder nachträgliche Rechtfertigung durch das Wort brauchen. Ansonsten habe ich bei B+B+B weder ein echtes Ressentiment gegen die Sprache gefunden, noch kann ich ihre wissenschaftliche Selbstverliebtheit so strategisch und kompetitiv bewerten wie du. Der Iconic Turn ist ja nur ein besonders überzeugender unter vielen anderen Turns. Und mir gefällt nun einmal das Ideen-Karussell, mit dem die alte philosophische Fakultät einerseits auf die medialen Umbrüche, andererseits auf die bürokratische Verwüstung ihrer Fächer reagiert. Was an Prätentionen und Albernheiten mitläuft, kann mich nicht schrecken. Hingegen begrüße ich, dass für das noch Unganze so schnell das neue Sammeldach der 'Kulturwissenschaften' gefunden wurde. H.: Hast du wirklich 'abfinden' gesagt? Abfinden mit dem Niedergang der Sprache? Was ist los mit dir? Du kommst mir vor wie der erschöpfte Impresario eines erschöpften Zeitgeistes. Déformation postmoderne oder "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen". Mir wäre lieber gewesen, du hättest vom Krachen im Gebälk der alten Autonomie- und Bildungsideen gesprochen und von dem, was die Brüder- oder Schwesternhorde der selbst ernannten Kulturwissenschaften außer Globalisierungsbeflissenheit zu bieten hat. Als die Turns noch Proteste hießen, waren Feminismus und Postkolonialismus plausible und starke Bewegungen. Aber wohin zielt deine kulturwissenschaftliche Wende? Warum ist sie multikulturell, aber monolingual? Meint sie nicht eher den Homo academicus als den Bürger? Und woher, wenn sie schon keinen Zusammenhalt braucht, kommen ihr die starken Ideen? Ich: Über das Innovationsspektrum der Kulturwissenschaften hast du ja Auskunft in Bachmann-Medicks Buch über die Cultural Turns gefunden. Woher die wichtigsten Impulse kommen, ist schwerer zu sagen. Ich glaube, vom Iconic Turn und der Bildwissenschaft. So sieht es wohl auch Frau Bachmann-Medick. H.: Das könnte richtig sein. Jedenfalls sind die Wortführer keine Kleingeister und keine Langweiler. Allerdings halte ich ihr Projekt nicht für Avantgarde, sondern für Nachhut. Es ist doch verwunderlich, dass die Kunsthistoriker erst jetzt, eine Generation nach 68 und dem Linguistic Turn, ernsthaft aus ihrem goldenen Käfig herauswollen - aus den Kirchen, Schlössern, Parks und Museen, wo es bis heute nach der höheren und feineren Welt duftet, aus der das alles kommt. Eigentlich schade. Die kunstgeschichtliche Vorlesung mit den Récamièren in der ersten Reihe war ja das letzte akademische Refugium der bürgerlichen Kunstreligion. Jetzt soll es offensichtlich zur Prüfzentrale des profanen Guckens werden. Glaubst du, dass das funktioniert? Ich: Warum nicht? Das eine schließt das andere ja nicht aus. H.: Da bin ich ganz anderer Meinung. Die Literaturwissenschaft hat vor 40 Jahren doch alles schon einmal durchgespielt. 'Öffnung des Textbegriffs' hieß das damals. Neben die hohe Literatur sollte die populäre treten und neben diese die Glanzlichter des Alltagsdiskurses. Erinnerst du dich noch an einen Text namens Bottroper Protokolle, der zwei Jahre lang berühmter als die Ilias war und danach im Nichts zerstob? Das Kolleg über Werbesprache war im ersten Jahr überfüllt, im zweiten schon ziemlich leer. Mit der Begeisterung für die biografischen Notizen von Schuhverkäuferinnen ging es ähnlich. Anderes, wie die Analysen politischer und publizistischer Rhetorik, war haltbarer, und am haltbarsten waren Sezessionsbegriffe wie 'Textwissenschaft' und 'Textsorten', obwohl auch sie heute verblasst sind. Wirklich geblieben ist ein größerer Aufmerksamkeitsgrad und ein freierer Ideenhandel zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft. Jetzt also geht es um die Öffnung des Bildbegriffs. Aus der Kunstgeschichte soll die Bildwissenschaft werden, aus dem Zuständigkeitsbereich der Bildkünste der der Bildwelten. 'Welten' ist nicht übertrieben, denn der Mensch ist ja vor allem zum Sehen und Fühlen geboren, weniger zum Sprechen. 80 Prozent, so pflegen die neuen Imagologen zu betonen, 80 Prozent der Gehirntätigkeit beruhen auf der Verarbeitung visuell-haptischer Eindrücke. Wer möchte sich das auf die Schultern laden? Mir fällt dabei Napoleon in Russland ein. Allerdings glaube ich nicht, dass B+B+B die Fehleinschätzungen ihrer philologischen Vorgänger wiederholen werden. Oder? Ich: Das glaube ich auch nicht. Als Forscher sind sie den visuellen Niederungen bislang nicht sonderlich nahegekommen. Und als Theoretiker verhalten sie sich eher generalstabsmäßig, indem sie einen systematischen Bildbegriff und eine Anthropologie der visuellen Erfahrung in Aussicht stellen. Als Rückhalt dienen Aby Warburg und seine 'Pathosformel', was gewährleistet, dass die hohe Kunst in Sicht bleibt. H.: Was das Generalstabsmäßige betrifft, so hast du das Wichtigste übergangen. Ich meine den Anspruch auf eine generelle Deutungshoheit in Bildfragen, ohne den die Ausrufung einer bisher nicht existenten Bildwissenschaft nicht verständlich wäre. Es geht also um eine Neuordnung der Zuständigkeit. Denn diese Zuständigkeit war bisher auf viele Instanzen verteilt, hatte ihren Schwerpunkt aber in der Philologie. Sie allein verfügte über eine historisch gewachsene Bildlichkeitstheorie. Aus ihr wuchsen nach und nach Theater-, Film- und Medienwissenschaft heraus. Und von ihr nahm noch in jüngster Zeit die Erforschung der Emblematik, des Flugblatts, des Comicstrips, des Zeremonialwesens, des Rituals und anderer Bildpraktiken ihren Ausgang. Ähnliches geschah eigentlich nur im gehobenen Feuilleton, wo die 'Mythen des Alltags' vom Starkult über die bedrohte Natur bis zum Endlosbild der Beobachtungskameras seit je kritisch kommentiert wurden. Verglichen damit blieb die klassische Kunstgeschichte ziemlich zurückhaltend. Ich: Warum missgönnst du eigentlich der neuen Bildwissenschaft die Abnabelung von der Philologie? Deine historischen Hinweise mögen zutreffen, aber die Zeiten haben sich geändert, und der Versuch, eine autonome Bildhermeneutik zu begründen, ist ihnen höchst angemessen. H.: Ich missgönne nicht. Ich habe das Gefühl, dass eine Emanzipation in diesem Fall gar nicht gelingen kann. Ich: Kannst du das epistemologisch begründen? H.: Nein, um Gottes willen, nein. Das überlasse ich Reinhard Brandt. Aber vielleicht nimmst du ja mit meinen sprachpsychologischen Improvisationen vorlieb. Sie betreffen die Mode des Bilderlesens und die Anziehungskraft der Turns. Ich: Ich höre. H.: Mit der Marotte der alten Strukturalisten, die Welt nicht zu betrachten, sondern zu 'lesen', geht es sonderbar. Sie hört nicht auf und ist auch bei den jungen Kulturwissenschaftlern quicklebendig. Landschaften, Städte, Bilder, Gesichter, Verhaltensweisen werden gelesen. Fast alles. Bildwissenschaftler, die nach fachlicher Autonomie streben, müssten den Ausdruck eigentlich bekämpfen. Aber da 'sehen', 'anschauen', 'betrachten' nicht angenommen werden, bedürfte es eines Ersatzwortes, das sich offensichtlich nicht einstellt. Ich: Ich würde vorschlagen: erleben. H.: Ich auch, und dazu: erfahren, erleiden, genießen, ablehnen, lieben, hassen usf. Einem der Sterndeuter scheint das ebenfalls vorzuschweben: das Bild und die Emotionen. Aber das ist vielleicht nicht cool genug. Ich: Zu viel 19. Jahrhundert. Zu viel Dilthey. H.: So bleibt nur der Schluss, dass das ikonische Fußvolk etwas Richtiges spürt. Sie wollen nicht allein sein mit den wortlosen Bildern. Wer liest, verwandelt die Zeichen in Wörter. Wer Bilder liest, will, dass sie sprechen. Sie suchen instinktiv den Rückhalt der Philologie, der Rhetorik, der Sprachtheorie, wo von Aristoteles bis Blumenberg und Rorty die Fragen gehortet sind, an die die neuen Bildtheoretiker nur anknüpfen müssen. Es bedarf keiner Wende, sondern der Kontinuität. Ich: So konservativ? H.: In diesem Falle schon. Aber um ehrlich zu sein: Seit ich Bachmann-Medick gelesen habe, ist mir der 'Turn'-Begriff zutiefst verdächtig. Hast du nicht bemerkt, dass sie ihr neues Schibboleth der Kulturwissenschaften ganz und gar aus Turns zusammensetzt, ohne den Begriff ernsthaft infrage zu stellen? Sie nennt mehr als 30 davon. Hast du einen Reim darauf? Ich: Ja, steht ja da. Es geht um demokratische Offenheit und Vielfalt, um Dynamik. H.: Ich spüre etwas ganz anderes. Wo jede noch so windige Idee und Absichtserklärung vom zitternden Wunsch nach einem Turn, einer Wende, also einem Neuanfang geleitet ist, herrschen für mich nicht Dynamik, Aufbruch, Selbstgewissheit, sondern die Angeberei der um ihr Selbstbewusstsein Gekommenen, der kleinen Leute. Mir fällt dabei ein, dass vor ein paar Jahren das Gedicht "Die linden Lüfte sind erwacht" als beliebtestes deutsches Gedicht aller Zeiten ermittelt wurde. Eine ziemlich langweilige Reimerei, von der nur der Schluss in Erinnerung bleibt: "Nun, armes Herz, vergiß der Qual! Nun muß sich alles, alles wenden." Tschüs, ich muss zurück zu meiner Platane. Vielleicht weiß sie, ob die Techniker und Naturwissenschaftler ihre fulminanten Erfolge auch immer gleich als Turns verkaufen. Ich: Keinen Rückfall. H.: Darüber wacht Irina. | |