Heft 21: BUCH ODER NETZ - IST DAS DIE FRAGE? Einführung und Dokumentation "Aut liberi aut libri?" - "Vel liberi vel libri!" Buch oder Netz? Im Deutschen wird dieses 'oder' intuitiv in der Regel als syntaktische und logische Weichenstellung für eine Alternative verstanden, etwa wie 'alles oder nichts', 'jetzt oder nie', 'Geld oder Leben' - ein dritter Weg wird nicht in Betracht gezogen. Das Lateinische kennt dieses ausschließende 'entweder ... oder' als doppeltes 'aut' - nicht nur den Asterix-Lesern in der Variante "aut Caesar aut nihil" vertraut -, aber es kann auch eine andere Möglichkeit, nämlich ein einschließendes 'oder' als doppeltes 'vel' sprachlich deutlich machen. Das Deutsche 'oder' erweist sich hier als zweideutig - will man im Sinne dieser zweiten Variante präzisieren, erfordert das den Rückgriff zum Beispiel auf ein 'und' oder das Konjunktionenpaar 'sowohl ... als auch'.
Dem Beobachter der gegenwärtigen Diskussion um wissenschaftliches Publizieren im Zeitalter des Internets drängt sich verstärkt der Eindruck auf, dass die vehement geführte Debatte in die Sackgasse dieser falschen Alternative zu geraten droht. Vor allem die polarisierende Kontroverse um Open Access gibt begründeten Anlass zu dieser Vermutung. Es stehen unterschiedliche Interessen gegeneinander, oder sie überlagern einander und überschneiden sich. Der Nutzer des Netzes will natürlich wenn schon nicht alles, dann aber doch so viel Information wie möglich erhalten, und zwar schnell und am besten kostenlos. Der Autor hingegen möchte vielleicht angemessen für die Online-Verwertung seines Werkes honoriert werden, Bibliotheken interessieren sich für erschwingliche Druckerzeugnisse oder Möglichkeiten der Internet-Archivierung, und Verlage wollen für ihre Investitionen vergütet werden und Gewinne erzielen. Besonders deutlich werden diese divergierenden Interessen bei der umstrittenen Google-Initiative, Bücher zu digitalisieren und weltweit ins Netz zu stellen, ohne zuvor Rücksprache mit den Rechteinhabern - also Autoren und Verlagen - gehalten zu haben. Zudem tut eine Differenzierung nach Texttypen und wissenschaftlichen Disziplinen not: Physiker, Mathematiker oder Chemiker haben andere Interessen als Editionsphilologen oder Archäologen, Ingenieurwissenschaftler andere als Mediziner oder Juristen. Es wäre viel gewonnen, wenn die Diskussion diese Differenzierung einschlösse und wenn sie eher die Integration beider Medien im Blick hätte, diese also als einander ergänzend begriffe, anstatt die Konfrontation in den Vordergrund zu stellen. "Omnia mea mecum porto" - so lautet jener selbstbewusste Ausspruch, den Cicero einem der 'sieben Weisen', dem griechischen Philosophen Bias von Priene, zugeschrieben hat, und der Denker meinte damit, dass er alles, was er brauche, stets mit sich führe. Offensichtlich waren mit "omnia mea" das Wissen und die Fähigkeiten gemeint, und die habe man im Kopf. Da hat’s der moderne Mensch leichter, möchte mancher denken. Denn heute vermag im Prinzip jeder, der über einen Laptop mit Internetzugang verfügt, sofort aufs Allerbequemste an (fast) jedem Ort zu (fast) jeder Zeit auf das virtuelle Archiv des Weltwissens zuzugreifen. Allerdings: Um dieses Wissen nutzen zu können, bedarf es auch in der Gegenwart vor allem des Kopfes - und das vielleicht nötiger als zu Zeiten der antiken Philosophen und ganz bestimmt unabhängig davon, ob man sich des gedruckten Buches oder des Internets als Wissensquelle bedient, oder? | |