Heft 22 - Carsten, Ferdinand und Tim Hucho: VON DER BIODIVERSITÄT DER FORSCHUNG


Innovativität, Interdisziplinarität, Internationalität - das sind die Pigmente, die den Naturwissenschaften unserer Tage Farbe geben. Getragen werden sie in unserem Lande von drei Säulen, den Universitäten, den Außeruniversitären Wissenschaftsgesellschaften und den Akademien. Die Pigmentierung der drei Säulen ist nicht gleichmäßig, sodass ein buntes Kolorit entsteht. Es wird auch durch die sich ausbreitenden Rostflecken Kommerzialisierung, Bürokratisierung und finanzielle Auszehrung nicht wirklich beeinträchtigt.

Wirklich nicht? Das System lebt von der Vernetzung, vom Austausch, von Lastenausgleich, Arbeitsteilung und gegenseitiger Inspiration. Und das muss immer wieder in fairem Diskurs erarbeitet werden, damit aus der Buntheit der drei Säulen nicht dreifache monotone Einfarbigkeit wird. Jeder Bereich hat seine besonderen Kompetenzen, die sich nicht operativ entfernen und in einen anderen Bereich transplantieren lassen.

Innovationen zum Beispiel können nur dort sprießen, wo kreative Köpfe die nationalen und internationalen Partner finden; Projekte, deren Ergebnisse schwer planbar sind, sogenannte Risikoforschung, lassen sich nur mit langfristiger finanzieller Sicherheit durchführen. Und Forschungen zur Produktoptimierung lassen sich ideal in enger Kooperation mit der Industrie realisieren.
 

Bröckelt die erste Säule? Integration, nicht Ausgrenzung
Die forschungspolitisch gewollte Entwicklung hin zu immer größeren Vorhaben birgt die Gefahr, dass die Universitäten mit ihren durch fundamentale Aufgaben außerhalb der Forschung begrenzten personellen Kapazitäten von zentralen Projekten ausgeschlossen werden. Elementarteilchen- und Schwerionenforschung zum Beispiel, Astrophysik und Weltraumforschung können nicht im Rahmen von Doktorarbeiten neben Lehrverpflichtungen quasi 'mit-erledigt' werden. Darüber hinaus binden Großprojekte gewaltige Mittel. Die vom Regierungskoordinator für die deutsche Luft- und Raumfahrt, Peter Hintze, vorgeschlagene deutsche Mondlandung etwa kostet so viel wie Hunderte von universitätskompatiblen Kleinprojekten. Während nicht einmal der Prestigegewinn solch einer (zuweilen als 'Peterchens Mondfahrt' verspotteten) Idee sicher ist, sind der wissenschaftliche Gewinn und das Maß an neuer Erkenntnis oder auch 'nur' technologischer Innovation vermutlich ebenfalls eher als gering einzuschätzen. Gibt es eine Statistik darüber, wie viele naturwissenschaftliche Großprojekte, die industrienah angesiedelt sind, ihre Fördermittel überhaupt wieder einspielen (okay, MP3! und zweitens?)?

Man muss hier also nicht in den abgenutzten Ruf nach mehr Geld einstimmen. Vielmehr geht es um die sinnvolle Aufteilung vorhandener Ressourcen.

Die einfache, der Politik leicht zu vermittelnde Lösung: Man gründet für das Großprojekt ein spezialisiertes außeruniversitäres Institut mit klar definierter Aufgabe und vergleichsweise unbegrenzten Mitteln. Aus Sicht der Universitäten kann man das Outsourcing nennen. Die etwas kompliziertere Lösung: Man fordert zur Gründung von Forschungsverbünden, von Konsortien auf, die dezentral mit immer noch erheblichen (Bundes- oder - zunehmend - EU-)Mitteln kooperativ ein großes Thema bearbeiten. Oder man vergibt die Aufgabe gleich an die Industrie.

Ausgliederung aus den Universitäten, Konsortialforschung, Industrieförderung mögen kurzfristig die Effizienz steigern. Sie bergen aber auch Gefahren:

  • Universitätsferne bedeutet einen Verstoß gegen das durchaus bewährte Humboldt’sche Postulat der Verbindung von Forschung und Lehre. Sie begünstigt die Degeneration der Universitäten zu höheren Lehr- und Berufsausbildungsstätten. Nur Integration der Universitätsforschung in die außeruniversitären Großprojekte rettet die Universitäten vor Verödung.
  • Konsortialforschung bedeutet Zwang zum Konsens, also Ausschluss des Widerborstigen, des vielleicht gerade wirklich Originellen - kein guter Nährboden für Innovationen. Auch hier bieten sich die zweckfreien Nischen universitärer Forschung als Korrektiv an.
  • Industrieforschung bedeutet Primat der Anwendbarkeit, die der riskanten Suche nach dem grundsätzlich Neuen entgegenstehen kann. Universitäts- und Industrieforscher dürfen nicht auf Distanz gehen und sich in Konkurrenz definieren. Sie müssen vielmehr zusammenrücken, den Weg zwischen 'zweckfreier' Idee und Nützlichkeit verkürzen und den Vorteil der Koexistenz nutzen.

Der Wind bläst den Universitäten ins Gesicht. Forschungspolitisch motivierte Großprojekte drohen die Universitäten auszuschließen, der vor seiner Vollendung stehende Bologna-Prozess steigert und formalisiert ihre Lehraufgaben in forschungshinderlicher Weise und lähmt die Studierenden, die ja gerade zu Mobilität animiert werden sollten (dabei gibt es wohl keinen Beleg für die Vermutung, dass die neuen, optimierten Hochschulabgänger sich als bessere Forscher oder wenigstens als effizienteres Industriepersonal erweisen), und die immer kürzeren Innovationszyklen der naturwissenschaftlichen Methodiken treiben die Universitätskanzler an den Rand der Verzweiflung. Hatte man früher eine Neuberufung mehr oder weniger für ein Forscherleben auszustatten, reicht die Erstausstattung, zum Beispiel eines Biowissenschaftlers, heute gerade einmal für die ersten fünf bis zehn Jahre. Danach sind die Mikroskope, Massenspektrometer, Sequenziermaschinen veraltet - ohne millionenschweren Ersatz droht der einst hoffnungsvolle Jungprofessor früh zum alten Eisen zu werden.
 

Hält die zweite Säule? Der lange Atem
Besser geht es der zweiten Säule deutscher Forschung, den außeruniversitären Instituten. Sie können im Rahmen ihres Profils kleine und große Projektgruppen einrichten und vor allem auch sogenannte Risikothemen bearbeiten. Dies ist nur mit einer soliden Grundfinanzierung möglich. Außeruniversitäre Institute können daher das, was Universitäten nicht können. Sie forschen mit relativ üppigen Mitteln, frei von überbordenden Nebentätigkeiten wie Lehre oder Verwaltung. Sie haben die Bürokratisierung - noch - ganz gut im Griff. Sie können sich flexibel an Konsortien, Sonderforschungsbereichen und Kooperationen mit anderen Instituten beteiligen. Nicht nur Innovativität ziert sie, auch und gerade die Internationalität ihrer Kooperationen und ihres Forschungspersonals sind Grundlage ihrer Erfolge.

Die außeruniversitären Institute stehen allerdings häufig stärker als die beiden anderen Säulen unter dem Druck des Postulats nach Anwendbarkeit (Nützlichkeit) ihrer Produkte. Wird diese Nützlichkeit mit der einfachen Maßzahl 'erteilte Patente' gemessen, dann kann das zum Innovationshindernis werden. Das misstrauisch beäugte Innovation-Gap, das genau die Lücke zwischen kleinteiligen Patenten (Inventions) und wirklichen Innovationen beschreibt, ist eine Folge solcher institutionell begünstigter Ängstlichkeit. Wenn schon die Zahl der Patente ein Institut auszeichnet, dann verleitet dies zu 'mutwilligen Patentierungen', zu kleinen Erfindungen im Mainstream, zu 'Knowledgelets'. Dann wird anwendungsorientierte Forschung schnell als Optimierungsforschung missverstanden und Grundlagenforschung als akademisch, als elitär denunziert. Dann ist Fortschritt und Innovation nicht Teil des Konzepts. Die außeruniversitären Institute können ihren (finanziell) weiteren Zeithorizont nutzen, um über Grundlagen nachzudenken, die neue Anwendungen ermöglichen.

Ein zugegebenermaßen konsensfähiger Indikator für hervorragende Grundlagenforschung ist eine Ehrung durch einen Nobelpreis. Aber die mit Nobelpreisen gekrönten Erkenntnisse sind keineswegs nur schmückender Zierrat des akademischen Elfenbeinturms. Sie haben immenses wirtschaftliches Potenzial, das den Forschern oder ihren Geldgebern kaum vorab bekannt, niemals garantiert und wohl selten Antrieb war. Die mit dem Nobelpreis geehrten "Untersuchungen über Halbleiter und die Entdeckung des Transistoreffekts" (1956) öffneten einen Multimilliarden-Markt, der zuvor nicht einmal erahnt wurde. Was ist der Wirtschaftsfaktor der durch reine Neugier getriebenen Untersuchungen eines Herrn Röntgen (Nobelpreis 1901), welche Industrieförderung hatte Lise Meitner eingeworben, um die Kernspaltung zu verstehen? Wollte Philipp Lenard einen Fernseher oder auch nur ein Oszilloskop bauen, als er über Kathodenstrahlen forschte (Nobelpreis 1905)? Diese genialen Männer und Frauen forschten, um die Natur zu verstehen. Es ist vielleicht nicht einmal übertrieben, wenn man konstatiert: Jede wirklich neue Erkenntnis, die der Natur abgerungen wird, birgt das Potenzial, einen riesigen Markt zu öffnen. Nicht am Montag nach der nobelpreisverdächtigen Entdeckung; vielleicht erst einige Dekaden später.

Heutige Anwendungsforschung zäumt ein altes Zirkuspferd von hinten auf. Es gibt Geld für ein Projekt, das feinkörnig in überschaubare Meilensteine gegliedert ist. Diese Meilensteine müssen natürlich erreichbar - und somit vorhersehbar - sein. Besonders originell ist das nicht. Ist es innovativ? Was hätte ein angewandtes Forschungsprojekt zur Verbesserung von Glühbirnen ergeben? Kleinere Glühbirnen, vielleicht effizientere. Kaum wäre so die Leuchtdiode erfunden worden. Angenommen, man hätte im letzten Jahrhundert riesige Summen investiert, um die Elektronenröhren zu verbessern. Sie wären kleiner geworden, vielleicht haltbarer, etwas schneller auch, hätten einen höheren Wirkungsgrad. Ein Transistor wäre dabei nicht herausgekommen.

Wird Anwendungsforschung verstanden als 'Anwendungen inspirierende Forschung' ('device inspiring research'), wird man dem Potenzial der außeruniversitären Institute eher gerecht, als wenn man sie als Optimierer missversteht.

Innovation kann und darf keinesfalls mit Größe und Finanzvolumen gleichgesetzt werden. Die opulente finanzielle Ausstattung eines Forschungsprojektes ist zwar auch nicht per se ein Innovationshemmnis, doch der Wunsch des Zuwendungsgebers nach messbaren Erfolgen, nach einem nachweisbaren 'Return On Investment' wächst verständlicherweise mit der eingesetzten Summe und kann den Verlauf eines solchen Projektes vorhersehbar, unoriginell und wenig innovativ werden lassen. Folgt - so gesehen - daraus nicht etwa 'small is beautiful'?
 

Die 'Biodiversität' der Forschung
Wissenschaft ist keine extensive monokulturelle Bewirtschaftung, die durch die klare Korrelation von eingesetztem Mittel und Ertrag bewertet und optimiert werden kann. Vielmehr wird der wissenschaftliche Fortschritt durch die Vielzahl der kleinen, oft nicht explizit nachvollziehbaren und vor allem im Gewusel der unterschiedlichen Konzepte nicht vorhersehbaren Neuerungen errungen. Hier gleicht die Wissenschaft eher dem Dschungel mit seiner durch unendliche Kombination hervorgerufenen genetischen Vielfalt, erworben durch langsame genetische Drift sowie durch unerwartete Eruptionen neuer Formen durch Rekombination bestehender Systeme und deren Auslese im nicht notwendigerweise objektiven Kampf mit der Umgebung.

Beide Säulen, Universitäten und außeruniversitäre Forschungsgesellschaften, haben schon längst Farbe durch Internationalität gewonnen. Studenten, Lehrkörper, Forschungsteams sind bunte Mosaike, multikulturelle Gesellschaften der fröhlich-kreativen Art. Die EU-Forschungsförderung will genau das, und die Naturwissenschaften spiegeln diese Praxis ohnehin längst wider.
 

Die dritte Säule - Oase der Seligkeit?
Das dritte Pigment, die Interdisziplinarität, gibt die Grundfarbe für die dritte Säule, die Akademien. Naturwissenschaftler verstehen dabei unter Interdisziplinarität Kooperationen zwischen Biologen, Medizinern, Physikern, Mathematikern, also zwischen naturwissenschaftlichen Disziplinen, und immer noch nur in beschränktem Maße zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. In der Wahrnehmung und Alltagspraxis ist diese Interdisziplinarität nicht eigentlich transdisziplinär.

Naturwissenschaftler sind in den Akademien zahlenmäßig hervorragend vertreten. Der Ruf nach Nützlichkeit und Abgrenzung erreicht sie hier weniger laut. Sie partizipieren am Leben der Akademien aber nicht eigentlich mit ihren fachwissenschaftlichen Forschungsprojekten, sondern als Partner der Geistes- und Sozialwissenschaftler, wenn es um die juristischen, ethischen und gesellschaftlichen Implikationen ihres Tuns geht. Die zur

Nationalakademie avancierte Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina besteht ganz überwiegend aus Naturwissenschaftlern und hat eben deshalb den Auftrag im Rahmen ihrer öffentlichen Aufgaben, aktiv die Kooperation mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften acatech zu suchen. Drei der fünf Klassen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die Mathematisch-Naturwissenschaftliche, die Biowissenschaftlich-Medizinische und die Technikwissenschaftliche Klasse, sind naturwissenschaftlich-technisch definiert, bringen sich jedoch in die interdisziplinären Arbeitsgruppen der Akademie als Juniorpartner mit Expertenwissen ein und nicht als experimentell Forschende. In diesem Sinne interdisziplinär ringen sie um den notwendigen Überbau oder auch das gesellschaftliche Fundament der Naturwissenschaften.

Diese zentrale Aufgabe der Akademien, so wenig 'anwendungsfreundlich' und patentierbar ihre Forschungsergebnisse auch sind, wird im politischen Raum noch immer nicht angemessen gewertet. Ein Grund dafür mögen die Zeitskalen sein: Akademieprojekte überschreiten meist die Zeitgrenzen von Legislaturperioden, und gerade darin muss man ihre Existenzberechtigung sehen: Wo sonst kann man zum Beispiel Editionen großer Lebenswerke bewerkstelligen; wo eine ganze Sprache lexikalisch erfassen?

Die Farbenlehre der Wissenschaftssäulen ist eindeutig: Bei aller Buntheit müssen die Grundfarben sichtbar bleiben; der Mischton 'Braun' aller Pigmente muss ebenso vermieden werden wie die Einfarbigkeit: Keine der Säulen kann ohne den Geist der Innovation leben, keine darf ohne den 'Blick über den Zaun' der Disziplinen arbeiten; und in der Enge nationaler 'Autarkie' ist es allzumal grau und dunkel. Dennoch sollte jede Säule ihre vorherrschende Farbe pflegen, zum Nutzen des Ganzen, zur Evolution einer ungeahnten neuen Farbigkeit.