Heft 22 - Günter Stock: DIE DEUTSCHE AKADEMIELANDSCHAFT IM UMBRUCH Als Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) im Jahre 1700 endlich seine Idee zur Gründung einer Akademie umsetzen konnte, wollte er sich nicht dem Modell der bereits einige Jahrzehnte zuvor in London und Paris gegründeten Akademien anschließen, die eine Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften ebenso wie die 1652 gegründete Leopoldina vorsahen, die diese Trennung bereits in der Bezeichnung als 'Academia Naturae Curiosorum' deutlich machte.
Es war nicht nur Leibnizens Anspruch, die Theorie mit der Praxis gemäß seinem Leitmotto Theoria cum praxi zu verbinden, sondern gleichzeitig möglichst alle Wissenschaften zu vereinen, denn Leibniz ging in einer sehr modernen Weise und auch zu Recht davon aus, dass die wichtigen Probleme einer Zeit nur in der Zusammenführung der verschiedenen Disziplinen zu lösen sind. Darüber hinaus war es ihm wichtig, der Wissenschaft einen neuen Ort, eine institutionelle Heimat zu geben, denn die Universitäten waren seinerzeit - wir erinnern uns - primär Lehranstalten. Für Leibniz gab es auch keinen Gegensatz zwischen den von manchen immer noch so genannten 'Zwei Kulturen', nämlich den Geisteswissenschaften auf der einen und den Naturwissenschaften auf der anderen Seite. Und heute, nach über 300 Jahren, stellen wir fest, dass das Konzept der Interdisziplinarität das wahrscheinlich einzig taugliche zur Gestaltung unserer Zukunft ist. Dabei haben wir dieses Wissen jedoch noch nicht so weit implementiert, dass nicht noch immer untaugliche Versuche unternommen würden, zunächst einmal technische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse umzusetzen, um erst danach in einem zweiten Schritt auf sozial- und geisteswissenschaftlicher Ebene über deren Folgen zu diskutieren - ein grundsätzliches Missverständnis, wie ich finde, denn Lösungen sollten vielmehr in zunehmendem Maße nicht sequenziell, sondern in einem parallel verlaufenden, gemeinsamen Prozess entwickelt und formuliert werden. In der Vergangenheit haben sich in Deutschland eine Reihe von Länderakademien gebildet, von denen heute acht in der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften zusammengeschlossen sind, nämlich die Akademien in Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Hamburg, Heidelberg, Leipzig, Mainz und München. Daneben gibt es noch eine Reihe reiner Gelehrtengesellschaften, die zwar nicht den Status wissenschaftlicher Akademien haben, denen aber allen gemeinsam ist, dass sie sich ebenfalls der Bewahrung und Pflege unseres kulturellen Erbes verpflichtet fühlen. Akademien sind in vielen Fällen zu Bewahrerinnen jener akademischen und universitären Disziplinen geworden, die in den letzten Jahren - verstärkt durch Profilierungs- und Fokussierungsnotwendigkeiten und gepaart mit akutem Geldmangel - an den Fakultäten nicht mehr angeboten werden können. Daher leisten Akademien der Wissenschaften nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht einen entscheidenden Beitrag sowohl in der geisteswissenschaftlichen Forschung als auch in der akademischen Ausbildung und curricularen Lehre. Bis vor Kurzem erschien die deutsche Akademienlandschaft mehr oder weniger festgefügt. Die Tatsache, dass Deutschland über keine nationale Akademie der Wissenschaften wie andere Staaten verfügte, die das Land in den wichtigen internationalen Institutionen der Forschungsförderung und Wissenschaftspolitik hätte vertreten können, wurde zwar im Ausland und in den europäischen und internationalen Gremien immer wieder mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, aber in Deutschland über eine lange Zeit ganz offensichtlich - zumindest seitens der Wissenschaft - nicht als Desiderat anerkannt. Diese Situation änderte sich, als der Wissenschaftsrat im Jahre 2004 die Einrichtung einer Nationalen Akademie der Wissenschaften in Deutschland empfahl und in seiner entsprechenden Empfehlung ("Empfehlungen zur Errichtung einer Nationalen Akademie in Deutschland") Wert darauf legte, eine Neugründung vorzusehen und nicht - aufgrund der unterschiedlich ausgeprägten, individuellen Schwächen in den einzelnen Organisationen - eine der bereits vorhandenen Institutionen zur nationalen Akademie zu erheben. Bereits zuvor hatte sich jedoch gezeigt, dass die deutsche Akademienlandschaft doch nicht ganz so festgefügt und monolithisch war, wie es bis dato schien, denn im Jahre 2000 erfolgte durch die gemeinsame Initiative der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina die Gründung der Jungen Akademie zur Förderung des hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchses. Und dem aufmerksamen Beobachter konnte es zudem auch nicht entgangen sein, dass mit der 1992/93 nach der Wiedervereinigung Deutschlands in der Tradition der Preußischen Akademie der Wissenschaften erfolgten Neukonstituierung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ein ganz anderer Akademientypus entstanden war: eine wirkliche Arbeitsakademie, die sich an die Arbeitsmethoden der kurz zuvor aufgelösten Westberliner Akademie der Wissenschaften anlehnte. Mit der Gründung des sogenannten Konvents der Technikwissenschaften, die maßgeblich auf eine Initiative der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste zurückging, konnte sich dann im Jahre 1997 bereits ein neuartiges Sprachrohr und Forum für die Belange der Technikwissenschaften und wichtiger Industrievertreter bilden. Dies führte 2008 schließlich zur Gründung einer ersten nationalen Akademie in der Bundesrepublik, nämlich der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften - eine Gründung, die sicherlich den Prozess der Reflexion über die Notwendigkeit zur Schaffung einer alle Wissenschaften umfassenden nationalen Akademie befördert hat, sieht man einmal ab von der bereits erwähnten Jungen Akademie als nationaler Institution auf der Ebene des wissenschaftlichen Nachwuchses. Nach einem mehrmonatigen, schwierigen und zum Teil kontrovers verlaufenen Selbstfindungsprozess innerhalb der Wissenschaft wurde Anfang 2008 schließlich die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina von der Politik zur Nationalen Akademie der Wissenschaften erhoben, die seitdem ihre Aufgaben in Kooperation mit acatech, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und den anderen in der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften zusammengeschlossenen Akademien wahrnehmen soll. Damit verfügte Deutschland mit einem Schlag nicht nur - wie viele andere Staaten - über eine Nationale Akademie für die Technikwissenschaften, sondern auch über eine alle Disziplinen einschließende Nationalakademie. Zu den genuinen Aufgaben der Nationalen Akademie gehört die Vertretung der deutschen Wissenschaft und ihrer Interessen in internationalen Akademiegremien, vor allem aber, wie es auch eine bedeutende Funktion anderer nationaler Akademien der Wissenschaften ist, die Politikberatung - vielleicht besser: Gesellschaftsberatung - in wichtigen Fragen, bei denen Wissenschaft involviert ist. Somit ist es möglich geworden, in relativ kurzer Zeit einen großen repräsentativen und mit hoher fachlicher Autorität ausgestatteten Kreis von Expertinnen und Experten für eine wissenschaftliche Politikberatung zu formieren und der Politik wissenschaftsbasierten Rat zu geben. In mindestens gleicher Dringlichkeit muss es aber darum gehen, den Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch den mündigen Bürgern Verständnis und Entscheidungshilfen zu geben, um sie politik-, urteils- und handlungsfähig zu machen. Wenn es richtig ist, dass Wissenschaft gesellschaftliche Entwicklungen vorbereitet und diese frühzeitig erkennt, dann ist es auch richtig zu erwarten, dass sich die Nationale Akademie der Wissenschaften zum Zweck der Gesellschafts- und Politikberatung vorrangig selbst beauftragt - und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem die Politik und die öffentliche Meinung bestimmte Entwicklungen selbst noch nicht spüren. Somit wäre die Wissenschaft zum Zeitpunkt des Eintretens und öffentlichen Wirksamwerdens bestimmter Probleme fähig, nicht nur Antwort zu geben, sondern in vergleichsweise kurzer Zeit auch qualifizierten Rat zu erteilen. Natürlich wird es stets auch Ad-hoc-Fragestellungen sowie gezielte Fragen aus der Politik geben, aber ich gehe davon aus, dass die Nationale Akademie der Wissenschaften die zu behandelnden Fragen und Probleme vorwiegend selbst definieren wird, denn erst dann entfaltet wissenschaftliche Politikberatung, die in Wirklichkeit primär eine Gesellschaftsberatung sein muss, ihre volle Wirkung. In einer Zeit, in der Wissenschaft alle unsere Lebensbereiche durchdringt und gestaltet, ist es von elementarer Bedeutung, dass die Wissenschaft sich so organisiert, dass sie rechtzeitig Rat geben und damit in die Mitte der Gesellschaft zurückkehren kann, indem sie gesellschaftliche Entscheidungsprozesse in einer Weise beeinflusst, die ihr bereits Leibniz mit seinem Leitmotiv Theoria cum praxi zugedacht hat, nämlich wissenschaftliche Erkenntnisse, wo immer möglich, zum Wohle der Gesellschaft und ihrer Menschen einzusetzen. Somit sind die deutschen Akademien der Wissenschaften auf neue Weise Bewahrerinnen und Interpretinnen unseres kulturellen Erbes und werden wieder zu Orten, an denen wichtige Zukunftsentwicklungen analysiert, reflektiert und interpretiert werden, um aus der Wissenschaft selbst heraus jene Entscheidungshilfen zu geben, die unabdingbar sind bei schwierigen und komplexen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert werden. Sollte dann die Entwicklung der Akademienlandschaft der letzten Jahre tatsächlich nichts anderes sein als eine Entwicklung zurück zu den Wurzeln? | |