Heft 23: Wissenschaft trifft Kunst

Einführung und Dokumentation*
 

"Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück"
Karl Kraus
 

Es gab eine Zeit, da galt der Musenkuss nicht nur den Künstlern, sondern auch den Wissenschaftlern. Und in der Renaissance erlebte eine Figur, die man als ›Wissenskünstler‹ bezeichnen könnte, ihren eindrucksvollen Aufstieg: Leonardo, Michelangelo, Dürer oder Alberti beeindruckten ihre Zeitgenossen – und nicht nur die – ebenso mit ihren herausragenden künstlerischen wie auch ihren wissenschaftlichen Leistungen. In der Epoche der Klassik und Romantik wandelte sich dieser Typus zum ›Wissenschaftskünstler‹, verkörpert etwa durch Goethe, Herder oder auch Carl Gustav Carus, bekannt als Mediziner und Maler (und als Akademiepräsident der Leopoldina).

Mit der Zunahme und Ausdifferenzierung von Wissenschaftsdisziplinen seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts verschärfte sich die Abgrenzung der Wissenschaften von den Künsten. Die wissenschaftlichen und philosophischen Dispute über diese Frage wurden auf wechselnden Schauplätzen geführt – zum Beispiel in den Kontroversen um die Einschätzung von Begriff und Metapher für Wissenschaft und Kunst. Kant hatte bereits gegenüber Herder die »Pünktlichkeit des Begriffs« angemahnt (in seiner Rezension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit). Er attackierte und verwarf im Blick auf den Wissenschaftsdiskurs vor allem die Verwendung von Metaphern, jenen Abkömmlingen der künstlerischen Rhetorik und Poetik, die sich den Argumentationsgrund bloß »erschleichen« – so Kant –‚ also nur emotional überreden, anstatt rational zu überzeugen. Er sah demgegenüber allein die Kategorie und den Be- griff als wissenschaftstauglich, weil sie – die Abkömmlinge der wissenschaftlichen Logik – als Bausteine innerhalb einer Argumentation durch Vernunftgründe zu überzeugen vermögen. Dieser Streit um den erkenntnistheoretischen Vorrang von Begriff oder Metapher dauert bis heute an, und in der neueren Philosophie steht Nietzsche für jene Strategie ein, die Opposition zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Begriff und Metapher zu unterlaufen (wie er es vor allem in Die Fröhliche Wissenschaft vorgeführt hat).

Gegenwärtig sind in beiden Bereichen, sowohl den Künsten wie auch den Wissenschaften, verstärkt Tendenzen zu beobachten, Aspekte des gesellschaftlichen Kontextes in den Blick zu nehmen, etwa wenn Bedingungen und Folgen von Wissenschafts- und Kunstproduktion reflektiert werden. Die verwissenschaftlichte Welt zwingt die Kunst zur Auseinandersetzung mit der Wissenschaft, und die Frage nach dem eigenen Status bringt die Wissenschaft mindestens punktuell dazu, sich mit der Kunst auseinanderzusetzen. Annäherung und Kooperation zeigen sich vor allem in der Zunahme von gemeinsamen Problemformulierungen, die in der jüngsten Vergangenheit häufiger auch zu inter- und transdisziplinären Projekten geführt haben zwischen verschiedenen Wissenschafts- und Technikdisziplinen und den Künsten, etwa bei ökologischen Themen oder bei Fragen möglicher zukünftiger Gesellschaftsentwicklungen. Und institutionell beginnt sich an verschiedenen Orten die sogenannte ›künstlerische Forschung‹ zu verankern, die den Anspruch erhebt, mit künstlerischen Mitteln Wissen zu generieren.

Wen freut es nicht, wenn zwei zusammenfinden, die vom Publikum schon in der Antike als ideales Paar gesehen wurden: Schönheit und Wahrheit. Und das gilt vielleicht umso mehr, da beide sich im Laufe der Zeit gewandelt haben und außerdem seit Längerem eigene Wege gegangen sind (von dem ehemals Dritten im Bunde, dem Guten, ganz zu schweigen). Wissenschaften und Künste also kommen wieder zusammen, und die Gründe und Chancen, aber auch mögliche Risiken einer Wiederannäherung verdienen eine genauere Betrachtung. Aus diesem Grunde behandelten die GEGENWORTE bereits in den Ausgaben 9 (2002) und 20 (2008) angrenzende Themen. Aus der Vielzahl und Vielfalt der Berührungszonen stehen vor allem drei Orte des Zusammentreffens im Blickpunkt des aktuellen Heftes: zum einen die Museen als gemeinsamer Ort von Wissenschaften und Künsten, sodann das Thema künstlerische Forschung – ›Wissen schafft Kunst und Kunst schafft Wissen‹ – sowie schließlich das Wissen der Literatur, ihre Rolle im Kontext einer ›ästhetischen Folgeneinschätzung‹.

Immer wieder in der Geschichte sind Wissenschaften und Künste – unter jeweils verschiedenen Bedingungen und mit unterschiedlichen Resultaten – zusammengerückt. Ob ihr aktuelles Rendezvous auch dauerhafte Folgen haben wird, kann freilich erst die Zukunft zeigen. Dazu könnte ein Blick in die Vergangenheit erhellend sein: Die Dokumentation widmet sich jener Epoche, die eine beeindruckende und für die europäische Kultur so folgenreiche Konstellation beider Bereiche darstellte: der Renaissance.

*Einführung von Wolfert von Rahden