Heft 23 - Ingeborg Reichle und Frank Rösl: WISSENSCHAFT UND KUNST: EINE INTERDISZIPLINÄRE ANNÄHERUNG
 

Grenzwächter

Betrachtet man die streng bewachten Demarkationslinien zwischen Kunst und Naturwissenschaften, so scheint es fast, als ob gegenwärtig beide Seiten versuchten, ihre Grenzen zu überschreiten, um auf das Terrain des jeweils anderen zu gelangen. Die Gründe für die momentan zu beobachtende Annäherung sind sicherlich überaus komplexer Natur und überaus vielschichtig. Ein Grund ist gewiss in der zunehmenden Spezialisierung der Naturwissenschaften und der dynamischen Wandlung der modernen Forschungslandschaft von der ›Little Science‹ hin zur sogenannten ›Big Science‹ zu suchen, um ein Begriffspaar von Derek de Solla Price zu bemühen.1 Diese Dynamik, mit der sich heute viele Forschungsbereiche entwickeln, führt in immer kürzeren Zeitintervallen zu immer weiter reichenden Erkenntnissen. Dies wird von manchen Forschern eher als prekär empfunden, da es zugleich an interdisziplinären Diskussionsforen mangelt, auf denen sich Naturwissenschaftler zuweilen auch mit fachfremden Themen auseinandersetzen und dazu Stellung beziehen können.

In den Künsten hat sich in den letzten Jahrzehnten hingegen eine entgegengesetzte Entwicklung vollzogen: Heute gibt es kein Medium, keine Technologie und kein Material mehr, das nicht von der Kunst aufgegriffen wird. Bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren waren in der Kunst Impulse zu beobachten, sich von den traditionellen Kunstgattungen abzuwenden und neue Materialien zu erproben sowie neue Repertoires an Ausdrucksformen zu erarbeiten. Die Kontexte, in denen sich die Kunst traditionellerweise abspielte, wurden durch entgrenzende Experimente infrage gestellt. Es kam zu einer kaum mehr überschaubaren Fülle an inhaltlichen und formalen Erweiterungen, in der sich Multimedialität, Performance, Happening, Interaktion und offene Arbeitssituationen als legitime Gattungen oder Produktionsweisen etablierten.

Wenn von einer gegenwärtigen Annäherung von Naturwissenschaft und Kunst die Rede ist, so bedeutet dies im Umkehrschluss, dass bislang zwischen beiden Disziplinen offenkundig eine gewisse Distanz oder Kluft bestand. Und in der Tat ergaben sich noch bis vor Kurzem nur selten wirklich innovative Berührungspunkte, wenn Kunst und Wissenschaft aufeinandertrafen. Es zeigte sich vielmehr eine höflich distanzierte Nachbarschaft, wobei eine Verbindung von Wissenschaft und Kunst dennoch weitgehend von beidseitigem Unverständnis geprägt war. Jede Disziplin definierte sich über ihre eigenen Methoden, Terminologien und Ismen, was im Gegenzug stereotype Vorstellungen und Intoleranzen der jeweiligen ›Gegenseite‹ evozierte und folgerichtig eine Syntheseleistung erschwerte.

In zahlreichen Institutionen wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Naturwissenschaft und Kunst inzwischen vorangetrieben, und es scheint, dass beide Seiten gegenwärtig zu solch einem Experiment bereit sind. Diese Bereitwilligkeit äußert sich in Artist-in-Residence-Programmen, die zahlreiche naturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen ausrichten, und vielen Künstlern, die im Bereich des sogenannten Artistic Research Arbeiten und PhD-Programme absolvieren.2 Solche Initiativen gewährleisten, dass Kommunikation und öffentliche Diskussion außerhalb von Forschungsinstituten stattfinden und dass bei hinreichendem Interesse auch Kooperationen mit Nachbardisziplinen eingeleitet werden.

Kunst aus dem Labor

Besonders große Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren ein Bereich der zeitgenössischen Kunst erfahren, den man als Kunst aus dem Labor bezeichnen könnte.3 Forschungsinstitute im Allgemeinen und wissenschaftliche Laboratorien im Speziellen lassen sich als Heterotopien im Sinne Michel Foucaults begreifen,4 in denen eigene Grundsätze, spezielle Terminologien sowie bestimmte Handlungsmuster gelten. Diese erschließen sich in der Regel zwar den dort beschäftigten Personen, sind aber für Vertreter anderer Disziplinen kaum verständlich und demnach nicht beeinflussbar. Pionierarbeit im Einbeziehen von Künstlern in die alltägliche wissenschaftliche Arbeit im Labor leistet seit vielen Jahren die Zürcher Hochschule der Künste ZHdK mit ihrem Programm Swiss Artists-In-Labs.5 Gleiches gilt für SymbioticA – Centre of Excellence in Biological Arts, ein Forschungsinstitut der Universität von Westaustralien in Perth, das sich aus künstlerisch-holistischer Sicht mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis auseinandersetzt.6 Die Zusammenarbeit mit Künstlern in einem Labor ist also kein intellektueller Offenbarungseid für die fehlende Kreativität des naturwissenschaftlichen Gastgebers, sondern es können sich gemeinsame Ideen entwickeln, welche das Potenzial des Einzelnen vielleicht übersteigen. Wie innovativ solche Kooperationen sein können, zeigte sich kürzlich, als in Nature, einer der weltweit renommiertesten naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften, ein von Biologen und einem Medienkünstler entwickeltes Verfahren beschrieben wurde, durch das Bakterien aufgrund einfacher Lichtbestrahlung zur Synthese eines bestimmten Farbstoffs angeregt werden.7 Dies ist nicht nur für den Künstler überaus spannend, da hier ein neues Trägermedium für die Herstellung von ›lebenden‹ Bildern benutzt werden kann, sondern auch für den Wissenschaftler, der jetzt in der Lage ist, die Expression von Genen einfach durch Einund Ausschalten von Licht zu kontrollieren.

Neue Wege gehen

Es stellt sich gegenwärtig die Frage, inwieweit eine Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern mit Geistes- und Kunstwissenschaftlern bzw. Künstlern bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten, bei der Kontextualisierung und Visualisierung von Forschungsergebnissen sowie bei deren Interpretation förderlich sein könnte. Die Bereitwilligkeit zum Dialog, die Bereitschaft, eine gemeinsame verstehbare Sprache zu finden, sich zu öffnen für fachfremde Themen, Erfahrungsräume zu schaffen, dies wären die Voraussetzungen für eine interdisziplinäre Annäherung. Denn Forschung basiert im Wesentlichen auf individueller Kreativität, deren Entfaltung allerdings oft durch den vorgegebenen wissenschaftlichen Diskurs und Denkkollektive eingeschränkt wird. Die treibenden Kräfte für innovative Fortschritte sollten demnach nicht ausschließlich von Ambition und Wissbegier einzelner Forscher abhängig sein, sondern es sollte gewährleistet sein, dass diese sich auch neuen konzeptionellen Denkansätzen und Methoden öffnen können. Glaubt man dem Neurophysiologen Ernst Pöppel, dann ist es nur durch eine intensive Einbindung geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen wie Philosophie, Wissenschaftsforschung, aber auch von Kunst in die Bereiche der ›Lebenswissenschaften‹ künftigen Forschungskonzepten möglich, sich der geistigen Gefangenschaft in die Methodik der eigenen Disziplin zu entziehen.

Gerade bei Untersuchungen der Phänomene ›Leben‹ oder ›Krebs‹ wird deutlich, dass das klassische Konzept des Reduktionismus, das heißt die Zurückführung und das Verstehen des Ganzen durch die Analyse seiner Teile und damit das Prinzip der linearen Kausalität, nicht mehr wie bisher auf belebte Systeme anwendbar ist.8 Systemtheorie, Nichtlinearität, Dissipation sowie Emergenz sind heute Forschungskonzepte,9 mit denen man versucht, lebende Zellen als vielschichtige adaptive Netzwerke sowie als dynamische oszillierende Systeme zu verstehen. Die außerordentliche Vielschichtigkeit von Netzwerken zwingt uns, darüber nachzudenken, wie sich die Welt und die Natur gestalten und welche Gesetzmäßigkeiten sich daraus ableiten lassen. Der Gedanke, eine Schnittstelle zwischen Natur- und Geisteswissenschaft und den Künsten zu schaffen, ist sicherlich nicht neu, wohl aber immer noch hochaktuell, vor allem im Hinblick auf die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Ideen durch eine anzustrebende interdisziplinäre Zusammenarbeit mit kulturwissenschaftlichen Institutionen. Im Rahmen einer solchen Vernetzung ist es durchaus legitim zu fragen, inwieweit Wissenschaftler und Künstler (aber auch Geisteswissenschaftler allgemein) direkt voneinander lernen können. Hierbei lässt sich etwa an die Erzeugung neuer Sichtweisen belebter molekularbiologischer Prozesse durch die Konstruktion alternativer wissenschaftlicher Modelle denken, aber auch an die Schaffung neuer Kunstformen. Denn nicht nur Künstler, sondern auch Wissenschaftler arbeiten mit Bildern, Symbolen und Metaphern, bedienen sich der Intuition und nutzen Zufälle. Es gibt unzählige Beispiele in der Wissenschaftsgeschichte, bei denen Zufälle eine nicht unerhebliche Rolle im Erkenntnisprozess gespielt haben.

Die Bereitwilligkeit, den eigenen wissenschaftlichen Erfahrungshorizont auch für alternative Konzepte zu öffnen, führte kürzlich zu einer Zusammenarbeit des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg mit Volkhard Stürzbecher, einem forschenden Künstler, der sich zusammen mit Mathematikern, Informatikern und Biologen intensiv mit der Erforschung dynamischer Systeme und der Selbstorganisation von Naturprozessen beschäftigt, die selbstständig Muster bilden: Wellen, Blasen, Verästelungen, oszillierende Strukturen.10 Diese Bilder, die sich im Grunde selbst malen, bezeichnet der Künstler als »evolutionäre Malerei«. Um künstlerisch motivierte Visualisierungsprozesse zu veranschaulichen wie auch unter ästhetischen Gesichtspunkten wissenschaftliche Bilder zu dokumentieren und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, organisierte das DKFZ in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie der Pfalz im April 2005 die Ausstellung »Science and Art – Kunst aus dem Labor« im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen. Präsentiert wurde die fantastische Strukturenvielfalt wissenschaftlicher Abbildungen aus den Labors des DKFZ, aber auch Visualisierungen von Stürzbecher. So entstand eine Anordnung von Bildern, die nicht nur die Regelmäßigkeit und Harmonie zellulärer Systeme visualisierte, sondern zugleich zeigte, dass eine wissenschaftliche Abbildung durchaus als biologisches ›Ready made‹ im Sinne Marcel Duchamps verstanden werden kann, bei dem der kreative Akt zwar nicht bewusst vom Wissenschaftler vollzogen wird, im Auge des Betrachters jedoch durchaus zum Kunstwerk werden kann. Eine Möglichkeit, die durch diese Ausstellung am DKFZ ausgelöste Debatte über den Status von Bildern in Kunst und Wissenschaft weiterzuführen, fanden die beiden Autoren in der interdisziplinären Arbeitsgruppe »Bildkulturen« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die seit 2008 Bildkulturen in einer interdisziplinären und transkulturellen Perspektive untersucht.

Obwohl sich der Erfolg solcher Kollaborationen längerfristig erst noch erweisen muss, ist es wichtig, Zeichen zu setzen und derlei Ergebnisse publik zu machen und zu versuchen, neue Wege zu gehen, sei es entweder durch das direkte Einbeziehen von Künstlern ins Labor oder durch die Teilnahme von Naturwissenschaftlern an interdisziplinären Diskussionsforen. Es bleibt zu wünschen, dass trotz der herkömmlichen Berührungsängste von Kunst und Wissenschaft sich künftig ein lebendiger Dialog zwischen diesen Disziplinen entwickeln wird. Der Fokus ist allerdings gegenüber der klassischen Verbindung ein anderer: Kunst wird vonseiten der Wissenschaft immer noch häufig als bloßes Vehikel betrachtet, das wissenschaftliches Gedankengut lediglich in die Öffentlichkeit transportiert; man denke etwa an die berühmte Doppelhelix als Ikone unseres biotechnischen Zeitalters. Doch Kunst vermag mehr: Sie kann heute vor allem dazu beitragen, traditionelle Sehgewohnheiten, Wahrnehmungen und Interpretationsräume aufzubrechen und neue Ideen zu entwickeln. Kunst kann ermutigen, neue Wege zu gehen. Sie kann Impulse geben. Impulse, die in der Wissenschaft zur Überschreitung der Grenzen ihrer eigenen Welt führen können.

 

1 D. de Solla Price: Little Science, Big Science. New York 1963

2 J. Elkins (Hg.): Artists with PhDs. On the New Doctoral Degree in Studio Art. Washington, D. C. 2009

3 S. Anker und D. Nelkin: The Molecular Gaze. Art in the Genetic Age. New York 2004; I. Reichle: Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience. Wien 2005

4 M. Foucault: »Andere Räume« [Des espaces autres], in: Architectures, Mouvement, Continuité 5 (Oktober 1984), S. 46-49

5 J. Scott: Artists-In-Labs: Processes of Inquiry. Wien 2006; www.artistsinlabs.ch

6 www.symbiotica.uwa.edu.au

7 A. Levskaya u. a.: »Synthetic biology: Engineering Escherichia coli to see light«, in: Nature 438 (2005), S. 441–442

8 M. H. V. van Regenmortel: »Reductionism and complexity in molecular biology«, in: EMBO Reports 5 (2004), S. 1016–1020

9 D. Chu u. a.: »Theories of Complexity«, in: Complexity 8 (2003), S. 19–30

10 www.stuerzbecher.de