Heft 24: Die Macht der Rituale Einführung und Dokumentation* Jonathan Swift lässt im 4. Kapitel von Gullivers Reisen seinen Ich-Erzähler aus Liliput berichten, dass der Kaiser eine Verordnung erlassen habe, »die all seinen Untertanen bei schweren Strafen befahl, die Eier am spitzen Ende aufzuschlagen [...] Man schätzt, daß im Laufe der Zeit elftausend Personen lieber den Tod erlitten haben, als daß sie sich damit abfanden, die Eier am spitzen Ende aufzuschlagen«, denn traditionsgemäß pflegte die Bevölkerung die Eier am stumpfen Ende zu öffnen. Es tobte ein lang andauernder Krieg zwischen den ›Spitzendern‹ und den ›Stumpfendern‹, begleitet von einem erbitterten Gelehrtenstreit darüber, welches Eieröffnungsritual das richtige sei. Diese Geschichte verrät einiges über die Macht der Rituale. Aber nicht nur in Religion und Politik erweisen Ritualisierungen ihre Bedeutsamkeit. Auch unser alltägliches Leben wird von Ritualen bestimmt: Taufe und Heirat, Jubiläen und Geburtstage, Beerdigungszeremonien, medizinische, juristische und militärische Abläufe ebenso wie Sportveranstaltungen sind heute weitgehend ritualisiert, auch wenn es dem Einzelnen nicht immer bewusst sein mag. Und die Wissenschaft? Im Akademischen erfreuen sich die Talare nicht mehr jener Beliebtheit, die sie ehedem erfuhren, als dieses Gewand eine Haltung repräsentierte, mit der Universitäten und Akademien selbstbewusst auf ihre Tradition und auf den Zusammenhang von Riten und Meriten verwiesen. Der Entritualisierungsschub, den die 68er-Studentenbewegung – freilich nicht zuletzt mit eigenen Gegenritualen – im Akademischen einleitete, als sie gegen ›erstarrte Wissenschaftsrituale‹ angetreten war, blieb hier nicht folgenlos. Gleichwohl deutet sich an, dass auch der Wissenschaftsbetrieb zunehmend die Rituale wiederentdeckt: Universitäten pflegen immer häufiger ihre Erstsemester zeremoniell zu begrüßen, und auch Studienabschlüsse werden verstärkt mit offiziellen Feierlichkeiten gewürdigt. Und ebenso wächst die Zahl der wiederkehrenden wissenschaftlichen ›Events‹, der Wissenschaftsjubiläen und der Wissenschaftsjahre, der Geburtsund Todestage auch von Wissenschaftlern, die nicht unbedingt ersten Ranges waren oder sind. Es gibt noch einen Nachtrag zum Bericht aus Liliput: Die streitenden Parteien beriefen sich in ihrem Glaubenskrieg um das richtige Ritual auf ein Schlüsselzitat in der Schrift des Propheten im 54. Kapitel des »Blundecral«. Dort heißt es: »Alle wahren Gläubigen schlagen ihr Ei am passenden Ende auf.« Wie man sieht, ist das Ende offen – ebenso wie in der Wissenschaft. Rituale wandeln sich, verschwinden und entstehen neu. Sie überleben nur dann, wenn sie ›irgendwie‹ passen. Ob Rituale in den Wissenschaften ›passen‹ oder wie sie hier passen könnten – einer Antwort auf diese Fragen versucht das vorliegende Heft sich aus unterschiedlichsten Blickwinkeln anzunähern. *Einführung von Wolfert von Rahden | |