Heft 24 - Karl-Heinz Kohl: Wissenschaft, Ritual und Initiation
 

I.

Die Aranda der zentralaustralischen Wüste, deren systematische Erforschung bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, gehören mit zu den am besten untersuchten ethnischen Gruppen des fünften Kontinents. Vor allem ein Zug dieser Gesellschaft von Sammlern und Jägern hat die Aufmerksamkeit von Ethnologen, Soziologen und Psychoanalytikern bis heute erregt: ihre ausgefeilten Initiationsriten. Wollte ein Aranda ein vollwertiges Mitglied seines Totemclans werden, dann hatte er sich über Jahre hin den unterschiedlichsten körperlichen Zurichtungen zu unterziehen. Je nach Einweihungsgrad musste er Zirkumzision und Subinzision über sich ergehen lassen, musste er ertragen, dass die Ältesten seine Kopfhaut blutig bissen, ihn sexuell missbrauchten und ihm die Daumennägel herausrissen. Die Initiationsriten der Aranda waren ein integraler Teil ihrer überlieferten Wissenskultur. Denn jeder dieser schmerzhaften Akte war mit einer Einweihung in die geheimen mythischen Erzählungen der einzelnen Clane verbunden. Sie bezogen sich auf besonders hervorstechende Punkte der Landschaft, die die Aranda auf der Suche nach Jagdbeute durchstreiften. Jeder der roten Tafelberge, jeder Hügel, jede ungewöhnliche Gesteinsformation und jede Wasserstelle war ein Ort, an dem sich bei den Wanderungen ihrer totemistischen Ahnen ein bestimmtes Ereignis zugetragen hatte. Die Mythen, die sich wie ein Netz über die Landschaft zogen, stellten durch ihre Bindung an bestimmte Örtlichkeiten eine Art geografisches Lehrwerk dar. Die Erzählungen über das Urzeitgeschehen halfen, sich die für das Überleben in einer kargen und menschenfeindlichen Umwelt wichtigen Plätze zu merken. Sie waren zugleich Besitzurkunden, konnte doch nur der den rechtlichen Anspruch auf ein bestimmtes Jagd- und Sammelterritorium erheben, der auch dessen Geschichten kannte. Die körperlichen Mutilationen hatten insofern auch eine mnemotechnische Funktion. Den Neophyten – also jenen, die sich in dieser ›Schwellenphase‹ befanden – wurde das Wissen ihrer Kultur gewissermaßen auf den Leib geschrieben.

Initiationsriten spielen bei der Ausbildung von Wissensträgern in den meisten Kulturen eine wichtige Rolle. Doch tritt ihre pragmatische Bedeutung nur selten ähnlich klar zutage wie bei den Aranda. Denn in vielen Fällen haben sie sich gegenüber den Wissensbeständen, deren Bewahrung sie dienen, bereits verselbstständigt. Von dem Umgang mit Wissen, sei es nun sakral oder profan, scheint oft eine gewisse Gefährdung auszugehen. Mit der Verwissenschaftlichung von Wissen hat sie noch zugenommen. Rituale aber helfen Ängste bewältigen. Von daher gesehen verwundert es nicht, wie zählebig sich solche eher archaischen Bräuche gerade im Universitätsmilieu erhalten haben. An die Mannbarkeitsriten autochthoner Kulturen erinnern die Mutproben, denen sich die Mitglieder von Burschenschaften an den deutschsprachigen Universitäten unterziehen mussten. Das blutige Duell war öffentlich schon lange geächtet, als ihm Studenten auf den Paukböden immer noch nachgingen, um sich unter streng regulierten Bedingungen gegenseitig Initiationsnarben beizubringen. Das unter Einhaltung fester Regeln erfolgende Trinken großer Mengen von Alkohol, das im sogenannten ›Komasaufen‹ der Jugendlichen heute eine Wiederkehr erfährt, zählte ebenfalls zum rituellen Repertoire der Verbindungen. Der Auftritt der Professoren in Talaren bei allen Feierlichkeiten des akademischen Jahreszyklus, der Ablauf der akademischen Prüfungen, die feierliche Überreichung der Promotions- und Habilitationsurkunden, Anredeformeln, Antrittsvorlesungen und vieles mehr waren Zeremonien, die zum Teil noch aus dem Mittelalter stammten und sich bis in das späte 20. Jahrhundert hinein erhalten konnten. Neben den Kirchen, den traditionellen Trägern des sakralen Wissens, waren es vor allem die Universitäten, die am althergebrachten zeremoniellen Gehabe zäh festhielten.

In Deutschland sind die meisten universitären Rituale vor etwa 40 Jahren abgeschafft worden. Die Studentenbewegung nahm sie als Symbole für den verkrusteten und autoritären Charakter der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Tatsächlich war der Kampf gegen diese Rituale aber nur Teil eines umfassenden antiritualistischen Programms, das sich gegen nahezu alle konventionellen Umgangsformen richtete, von der Kleiderordnung angefangen bis hin zur kirchlichen Trauung. Erkennen ließ sich allerdings schon damals, dass dieser Kampf wiederum eigene Rituale erforderte, die entweder aus der Geschichte der Arbeiterbewegung bezogen oder, wie die Teach- und Sit-ins, neu erfunden wurden. Im akademischen Milieu errang die Bewegung einen überwältigenden Sieg. Anzug und Krawatte, Mitte der sechziger Jahre auch noch von den meisten Studenten getragen, verschwanden aus den Universitäten. In den Hochburgen der Protestbewegung waren Studenten und Dozenten rein äußerlich kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Der Einheitstracht entsprach in den seinerzeit politisch modischen Disziplinen das gegenseitige Duzen, das eine Egalität behauptete, die so auch damals nicht existierte. Talare und lateinische Titulaturen wurden an fast allen Universitäten abgeschafft, Promotionsfeiern und andere Initiationsrituale folgten wenig später.

Obgleich studentische Verbindungen an einigen Universitäten der alten Bundesrepublik nach 1945 verboten worden waren, hatten sie in der Nachkriegszeit an Attraktivität kaum eingebüßt. Nach 1968 sah die überwiegende Mehrzahl der Studierenden sie nur noch als ein Relikt aus alten Zeiten an. Sie galten als eine der letzten Bastionen der Rechten. Selbst heute noch kann man den Zeitungen entnehmen, dass schon allein der Verdacht, ein Spitzenpolitiker könne einer schlagenden Verbindung nahestehen, sich als Hemmschuh für seine weitere Karriere erweisen kann. Das überrascht, da man schon seit geraumer Zeit eine Revitalisierung alter Rituale und Formen beobachten kann. Ihre einzelnen Etappen lassen sich nirgends besser ablesen als am äußeren Erscheinungsbild eines der prominentesten Grünen-Politiker, der zu seiner ersten Vereidigung als Landtagsabgeordneter in Turnschuhen erschien, um den dunklen Anzug mit Weste und Krawatte am Ende seiner Karriere nur noch abzulegen, wenn er vor den Mitgliederversammlungen seiner eigenen Partei sprach. Was die ostentative Formlosigkeit anbelangt, erscheinen die Universitäten heute als einer der letzten Horte eines Unkonventionellen, das schon selbst längst zum Teil eines neuen Konformismus geworden ist

 

II.

Als die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften drei Jahre nach der Wiedervereinigung als Nachfolgerin der alten Preußischen Akademie gegründet wurde, hatte der Umschwung vom Antiritualismus zum neuen Gefallen am Althergebrachten schon einzusetzen begonnen. Die ersten aus der alten Bundesrepublik stammenden Mitglieder der Akademie aber waren vom Denken der studentischen Protestbewegung noch geprägt, die das universitäre Klima in der Zeit ihrer eigenen wissenschaftlichen Sozialisation beherrscht hatte. Das war auch dann der Fall, wenn sie die Ziele der linken Studentenschaft nicht geteilt hatten, dafür aber umso beharrlicher an einer gemäßigten Version der neuen Umgangsformen festhielten, die aus der Zeit des allgemeinen Umbruchs hervorgegangen waren. Das abstrakte, aus farbigen Rauten bestehende ›Logo‹, das sich die »BBAW« gab und das erst knapp 20 Jahre später durch ein traditionelleres Bildsymbol ersetzt wurde, sollte Modernität und Nüchternheit signalisieren. In dieser Hinsicht folgte sie nur dem Weg, der ihr von ihrer DDR-Vorgängerorganisation vorgegeben worden war. Denn für überlebte altertümliche Formen war auch in einer sozialistischen Akademie der Wissenschaften kein Platz.

Den harten Kehraus der Nachkriegs- und Wiedervereinigungszeit hat allerdings ein Ritual weitgehend unbeschadet überstanden: das Ballotieren. Die schwarzen und die weißen Kugeln sollen zwar kleiner geworden sein, als sie früher waren, doch geht die Zuwahl neuer Mitglieder in den einzelnen Klassen und die Wahl des Präsidenten auch heute noch in dieser altüberlieferten Form vor sich. Bei der Ballotage handelt es sich um eines der ältesten Rituale der Preußischen Akademie. Eingeführt wurde es durch ein am 24. Januar 1744 verabschiedetes Statut, in dem es in Abschnitt 16 wörtlich heißt:

»Mit der Aufnahme neuer Mitglieder soll es folgendergestalt gehalten werden: Wenn sich eine fähige und durch abgelegte tüchtige Proben bekannte Person angiebet, so soll dieselbe derjenigen Claße, zu welcher sie sich zu bekennen Willens ist, vorgeschlagen werden, welche Claße dann zuförderst eine Wahl durch die Mehrheit der Stimmen anstellen wird. Daferne solche Wahl zum Besten des Candidaten ausgefallen, wird derselbe von dem Directore der Claße dem Directorio zur Approbation vorgetragen, und nachdem die Einwilligung des Directorii erfolget, so wird gedachter Candidatus der General-Versammlung vorgestellet, welche über deßelben Aufnahme gehörig ballotiret und der Sache den endlichen Ausschlag giebet, auch das nötige Diploma darüber ausfertigen wird, welches der Vice-Praesident und der Director der Claße, wohin es gehöret, unterschreibet.«1

Es ist anzunehmen, dass Friedrich II., der bekanntlich stark an der Akademie interessiert war, an der Einführung dieses Wahlverfahrens persönlichen Anteil hatte. Denn er kannte es aus den Aufnahmeritualen der Freimaurer, die auf diese Weise schon immer ihre Zuwahlen vorgenommen hatten. Was eingangs über das Verhältnis von Wissen und Ritual festgestellt wurde, trifft auch auf den unter den Aufklärern damals ungemein populären Geheimbund zu. Die Mitglieder der Freimaurer-Logen verstanden sich als eine Gemeinschaft von Wissenden. Zu ihr wurde nur zugelassen, wer bereit war, sich bestimmten Ritualen zu unterwerfen. Nicht nur mit ihrem Namen, sondern auch mit ihren geheimen Zeichen, ihren Zeremonien und ihrer dreigliedrigen Hierarchie von Lehrlingen, Gesellen und Meistern knüpften die Logen an das mittelalterliche Bauhüttenwesen an. Der ausgeprägten Symbolik von Licht und Dunkelheit, die zugleich für Wissen und Nichtwissen stand, entsprach dabei ein Wahlmodus, in dem die Farbe Weiß für Zugehörigkeit, die Farbe Schwarz aber für Ablehnung stand.

Die im vierten Regierungsjahr Friedrichs II. in die Preußische Akademie der Wissenschaften eingeführte Ballotage oder Kugelung ist jedoch noch entschieden älter als Freimaurertum und Bauhüttenwesen. Das Abstimmen mithilfe von schwarzen und weißen Bohnen oder Kugeln war früher schon an vielen Universitäten und bei der Wahl der venetianischen Dogen üblich. Dieses Verfahrens hatten sich um 800 bereits Benediktinerklöster bei der Abtwahl bedient. Die historischen Wurzeln dieses Brauches lassen sich noch weiter in die Vergangenheit zurückverfolgen. Denn auch die athenische Volksversammlung stimmte mit schwarzen und weißen Bohnen ab, mit farbigen Steinchen und gekennzeichneten Erzkügelchen. Aristoteles widmete dem entsprechenden Abstimmungsmodus bei Gerichtsprozessen in seiner Schrift über den Staat der Athener eine ausführliche Schilderung.2 Doch das Verfahren war vermutlich auch damals schon alt. Das behauptet zumindest Ovid, der es sogar in die mythische Vorzeit zurückverlegt. Im XV. Buch seiner Metamorphosen berichtet der römische Dichter von einer Anklage, die die Bewohner von Argos gegen Myscelus erhoben, dem von Herkules im Traum befohlen worden war, sein Vaterland zu verlassen und sich an der süditalienischen Küste niederzulassen. Auswanderung aber war in seiner Heimatstadt bei Todesstrafe verboten. Ovid zufolge stimmten die Mitglieder des Gerichts durch Ballotieren ab, wobei die weißen Steinchen für den Freispruch und die schwarzen für das Todesurteil standen. Alle Richter legten schwarze Steinchen in die Urne. Als man sie aber zum Auszählen öffnete, hatte die Gottheit die schwarzen Steinchen in weiße verwandelt.

Ovids Wiedergabe dieser mythischen Überlieferung enthält einen wichtigen Hinweis darauf, wie das Abstimmungsverfahren ursprünglich wohl zu verstehen ist. Offensichtlich hat es sich bei ihm nicht nur um einen demokratischen, sondern auch um einen divinatorischen Akt gehandelt. Anstatt namentlich abzustimmen, delegieren die Wähler ihre Stimmen gewissermaßen an das Schicksal, wenn sie sie in Form von anonymisierten weißen und schwarzen Steinchen in eine verschlossene Urne legen. Auf diese Weise wird den transzendenten Mächten Gelegenheit gegeben, die Entscheidung in der ihnen genehmen Weise zu beeinflussen, was der Sohn des Jupiter in der Myscelus-Episode denn auch tut. Edward E. Evans-Pritchard und andere Ethnologen haben mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass in einigen afrikanischen Gesellschaften divinatorische Praktiken vor allem in den Fällen eingesetzt werden, in denen das westliche Denken als verursachende Macht den Zufall bemüht. Zufall aber ist eine im Prinzip leere, ja irrationale Kategorie, die keinerlei kausalen Erklärungswert hat. Gerade bei Abstimmungen aber spielt der ›Zufall‹ eine wichtige Rolle, bestimmt er doch nicht nur über die An- und Abwesenheit der Wähler, sondern auch über andere Faktoren, von denen die Entscheidung abhängen kann, wie etwa deren Laune und Gemütsverfassung. Nicht von ungefähr sehen daher die Satzungen selbst höchster demokratischer Gremien heute noch vor, dass bei Stimmgleichheit auf das archaische Divinationsritual des Loseziehens zurückgegriffen werden soll.

Die Myscelus-Episode aus dem XV. Buch der Metamorphosen ist noch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Denn aus ihr wird auch die Farbsymbolik des Kugelns evident: Weiß stand beim Gerichtsverfahren der Bewohner von Argos für den Freispruch und das Leben, Schwarz aber für die Verurteilung und damit für den Tod. Ein ›Zufall‹ ist es nun sicher nicht, dass dieses Oppositionspaar ausgerechnet beim alten Aufnahmeritus der Akademie eine Rolle spielt. Zahlreiche von Altertumswissenschaftlern und Ethnologen untersuchte Initiationszeremonien zeigen nämlich, welche Bedeutung der Todes- und Lebenssymbolik bei Übergangsritualen zukommt. Bereits Arnold van Gennep hat auf deren Dreigliederung aufmerksam gemacht: Auf die Phase der Trennung folgt die Übergangsphase und auf diese wiederum die der Wiederangliederung an die Gemeinschaft, die mit der Übernahme eines neuen und höheren Status einhergeht. In vielen Gesellschaften und Geheimbünden wird dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Neophyten einen symbolischen Tod erleiden, nach welchem sie eine gewisse Zeit in einer Art von Schwellenzustand verbringen; die Erlangung des neuen Status wird dementsprechend symbolisch als Wiederauferstehung von den Toten bzw. Rückkehr zum Leben inszeniert.

Dafür, dass die Schwellenphase auch bei den neu aufzunehmenden Mitgliedern der Akademie eine Zeit lang andauert, sorgen die eingangs aus dem Statut von 1744 zitierten komplizierten bürokratischen Regeln, die im Wesentlichen auch noch dem heutigen Procedere zugrunde liegen. Die Mitteilung über die erfolgte Zuwahl durch die Mitglieder der Klasse an den Kandidaten, das Vorgespräch mit Klassensekretar und Präsident über den genauen Status der Mitgliedschaft, die endgültige Aufnahme bei der nächstfolgenden Versammlung: Das und anderes mehr kann nicht nur bis zu einem Jahr dauern, sondern ist auch für den Neuling wenig transparent. Aber genau das ist ein Zug, den das Aufnahmeverfahren der Berlin-Brandenburgischen Akademie mit klassischen Initiationsritualen teilt. Auch der Aranda-Neophyt weiß ja nicht, was ihm bevorsteht, wenn er von den Stammesältesten in den heiligen Bezirk seines Totemclans geführt wird. Ritualforscher wie etwa Turner haben gezeigt, dass die Liminalitätsphase, also dieser Übergangszustand, eine Art von zweiter Sozialisation darstellt. Die Regeln des neuen Status sind den Neophyten nicht bekannt. Sie erlernen sie erst dadurch, dass sie sie überschreiten und dafür von den Initiationsmeistern bestraft werden. Die Formen haben sich in modernen Aufnahmeverfahren zwar abgemildert, sind residual aber immer noch vorhanden. Auch der akademische Neophyt kann im Stadium der Liminalität gegen die ihm im Einzelnen gar nicht geläufigen Regeln dieses Zustands verstoßen, was vom Zeremonienmeister bei seiner Vorstellung und endgültigen Aufnahme vor der Versammlung dann auch – der rituellen Backpfeife bei der Priesterweihe vergleichbar – öffentlich angemerkt werden kann.

 

III.

Der Antiritualismus, der vor vielen Jahren durch die Studentenbewegung in die Universitäten Eingang fand, hat also keineswegs auf der ganzen Linie gesiegt. Vielmehr hat er nicht nur im allgemeinen öffentlichen und privaten Leben, sondern auch im akademischen Bereich Leerstellen erzeugt und so das Verlangen nach neuen Regularien wachgerufen. Einmal mit großem Aplomb Abgeschafftes, wie etwa die Talare akademischer Würdenträger, lässt sich nicht ohne Weiteres wieder einführen. Rituale gänzlich neu erfinden zu wollen wäre nicht besonders sinnvoll, zumal zum Begriff des Rituellen ja gerade das Althergebrachte, seit Generationen Überlieferte und Befolgte gehört. Nun weiß man aber aus ethnologischen, religionswissenschaftlichen und soziologischen Untersuchungen, dass rituelle Vorgaben unser Verhalten umso stärker bestimmen, je selbstverständlicher sie uns sind. Das heißt umgekehrt aber auch, dass man ein Ritual überhaupt erst einmal als solches identifizieren muss, um es kritisieren oder gar abschaffen zu können. Einem aufmerksam auf die eigenen gesellschaftlichen Institutionen gerichteten Blick wird nicht entgehen, dass wir gegenwärtig die Herausbildung eines neuen Ritualkodexes beobachten können. Das meiste geht dabei eher unbewusst vor sich. Restbestände alter Rituale werden zu Kristallisationspunkten von neuen. Diese Tendenzen zeigen sich nicht von ungefähr gerade dort, wo es um den Zugang zu gesellschaftlich relevanten Wissensbeständen und den Positionen geht, die deren Kontrolle ermöglichen.

 

Literatur

M. Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt am Main 1974

E. E. Evans-Pritchard: Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande. Frankfurt am Main 1978

A. van Gennep: Übergangsriten. Les rites de passage. Frankfurt am Main/New York 1986

P. Ovidius Naso: Metamorphosen, hg. u. übers. v. G. Fink. Düsseldorf/Zürich 2004

B. Spencer und F. J. Gillen: The Native Tribes of Central Australia. London 1899

V. W. Turner: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. Harmondsworth 1976

H. Zinser: Mythos und Arbeit. Studien über psychoanalytische Mytheninterpretation. Wiesbaden 1977

 

1 Frau Dr. Vera Enke vom Archiv der BBAW danke ich dafür, dass sie diese Stelle ausfindig gemacht und mir übermittelt hat.

2 Vgl. hierzu auch Eva Regenscheidt-Spies: »Ein Plädoyer für die Kugelung. Seit 1786 wählt die Bayerische Akademie der Wissenschaften ihre Mitglieder mit weißen und schwarzen Kugeln«, in: Akademie aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 2 (2009), S. 20–22, mit den entsprechenden Belegen