Heft 26: Zweckfreie Forschung? Einführung und Dokumentation Bernard de Fontenelles »Totengespräche« waren Thema in den Pariser Salons der frühen Aufklärung. Darin lässt er berühmte Tote über wichtige Fragen disputieren, selbstverständlich auch über die Wissenschaft, ihre Aufgaben und den Umfang ihrer Freiheit. So muss sich der Scholastiker Raimundus Lullus die Frage gefallen lassen, warum er, ein Mann von Verstand, der »Phantasterei« verfallen sei, den »Stein der Weisen« gesucht zu haben. Die Auskunft verlangt Artemisia II., Schwestergemahlin des Königs Mausolos, die vor allem deshalb der Nachwelt in Erinnerung blieb, weil sie nach dem Tode ihres Gatten 353 v. Chr. das »Maussolleion« zu Halikarnassos errichten bzw. vollenden ließ – ein Grabmal von solcher Größe und Pracht, dass die Antike es bekanntlich zu den sieben Weltwundern zählte. Der tatkräftigen Herrscherin gegenüber verteidigt Raimundus Lullus seine »Träumerei«: »Es ist wahr, daß man den Stein der Weisen nicht finden kann, aber es ist gut, daß man ihn sucht. Indem man ihn sucht, entdeckt man sehr wertvolle Geheimnisse, die man selbst nicht suchte.« Und er fährt fort: »Alle Wissenschaften haben ihr eigenes Trugbild, hinter dem sie herlaufen, ohne es fassen zu können, aber sie fangen unterwegs andere sehr nützliche Kenntnisse ein. Wenn die Chemie ihren Stein der Weisen hat, hat die Geometrie ihre Quadratur des Kreises, die Astronomie ihre astronomischen Längen, die Mechanik ihr Perpetuum mobile. Es ist unmöglich, das alles zu finden, jedoch sehr nützlich, es zu suchen.«* Das wissenschaftliche Forschen erweist sich also als ein stetes Suchen, und das kann von internen ebenso wie von externen Zwecken geleitet sein. Und das Erste wird gewöhnlich der Grundlagen-, das Zweite der Anwendungsforschung zugeordnet. Für die Grundlagenforschung wird gemeinhin die Suche nach Wahrheit als entscheidend angenommen, ohne dabei auf den Nutzen zu schielen, während für die angewandte Forschung üblicherweise der praktische und ökonomische Zweck als prägend gilt. Dabei kann sich die Suche nach Wahrheit durchaus als Jagd nach einem Trugbild, nach einer Schimäre erweisen und doch Nützliches hervorbringen – gerade so, wie es Fontenelle seinem Protagonisten Raimundus Lullus in den Mund legt. Aber die Frage nach Zweck und Nutzen der Forschung stellt sich unter verschiedenen historischen Bedingungen und auch für die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen immer wieder neu und kann nicht ein für alle Mal beantwortet werden. Auch der vermeintliche »Stein der Weisen« hat verschiedene Seiten, obwohl sich natürlich jeder wünscht, dass Einstein und nicht Frankenstein die Forschung bestimmen möge. Und Laboratorien, Teilchenbeschleuniger, Sternwarten, Archive und Bibliotheken sind keine Mausoleen, keine prunkvollen artemisischen Denkmäler, die den Ruhm der Vergangenheit zementieren, sondern sie bilden das unabgeschlossene Gebäude der Wissenschaft, das auf veränderliche Bedingungen mit Umbauten reagiert und sich stets aufs Neue zukunftsoffen konfiguriert. Wolfert von Rahden * B. de Fontenelle: Gespräche im Elysium [1683]. Aus dem Französischen übertragen und hg. von W. Langer. Hamburg 1989, S. 197 | |