Heft 26 - Siegfried Großmann: Forschung vernetzt
 

Der Forschungsbetrieb ist heute schon rein äußerlich anders geworden. Man sieht nicht mehr die Forschenden an ihren übervoll mit Büchern bepackten Schreibtischen grübeln und schreiben, findet sie nicht mehr in den Winkeln und Nischen der Bibliotheken, auch dort Papier beschreibend und ach so vieles davon wieder in den Papierkorb befördernd.

Streift man über die Flure, so sieht man sie heute überall auf ihre PC- oder Laptop-Bildschirme starren. Fast wie süchtig sehen sie manchmal aus, ihre Umgebung völlig vergessend. Beruhigend die Beobachtung, dass immerhin gelegentlich lebendige Diskussionen an den Wandtafeln zu sehen sind. Und auch die Kaffeerunden sind die alten. – Ach ja, ich vergaß zu sagen, ich beschreibe den Forschungsalltag der Theoretischen Physiker. Aber trifft man nicht fast überall woanders Ähnli-ches?

Forschung hat sich durch den Einzug der elektronischen Datenverarbeitung sowie parallel und dazu passend des Internets und seiner schier unendlichen Möglichkeiten in vielerlei Hinsicht gewandelt. Schritt für Schritt verlief dieser Prozess und wurde deshalb – wie üblich – zunächst kaum richtig wahrgenommen. Blickt man aber zurück, wie es nur wenige Dekaden vorher war, so ist der Wandel dramatisch. Das ist nicht als Wertung gemeint, sondern zunächst einmal eine schlichte Feststellung. Die Unterstützung unserer Forschungsarbeit durch Nutzung des Internets ist vielfältig. Ganz schnell merkt man, dass es einfach nicht mehr wegzudenken ist, wenn es mal aus technischen Gründen ausfällt.

Zu den fröhlich stimmenden Änderungen im Forschungsalltag gehören die Möglichkeiten der delokalen Zusammenarbeit mit gleich gesinnten anderen. Hat man diese erst einmal kennengelernt, ist es eigentlich ziemlich egal, wo sie ihrer Forschung (und Lehre oder anderen Dingen) nachgehen. Die Internetverbindung unterscheidet nicht des anderen Labor ein paar Zimmer weiter, einige Stockwerke darüber oder darunter, in anderen Häusern derselben oder anderer Universitäten oder Städte oder auch naher wie ferner Länder, Frankreich, USA, Japan, China.

Und man kann mit vielen von ihnen an einem interessierenden, spannenden Problem zusammenarbeiten, gleichzeitig. Man kann Gedanken ebenso austauschen wie numerisch erzeugte Datenkurven oder Filme oder Manuskriptentwürfe. In der Manuskriptphase geht das sogar besonders gut. Teilentwürfe sind nicht nur gleichzeitig, sondern praktisch momentan bei der Kollegin oder dem Kollegen, und zwar bei allen Beteiligten zugleich, jeder ist stets auf demselben Stand der Information. Und deren Antwort erfolgt prompt – wenn sie nicht zeitverschoben gerade noch schlafen. Gelegentlich erinnert man sich mit Schaudern an die Zeiten der gelben Post: Nicht nur war der reine Vorgang des Verschickens schon mühsamer als der heutige Mausklick; dann aber vergingen eine ganze Reihe von Tagen oder gar – je nach Zielland – Wochen, bis man eine Antwort hatte. Nicht selten musste man sich erst mühsam wieder in die unterbrochene Gedankenkette einarbeiten, wenn man das weitergeführte Manuskript zusammen mit seinen alten Notizen wieder auf dem Tisch hatte. Internationale Zusammenarbeit ist heute eine wunderbare Möglichkeit und zur Routine geworden; delokale Arbeitsgruppen sind keine Seltenheit, sondern eher der Regelfall.

Und wie viel einfacher ist die Submission von neuen Arbeiten, die (wiederum delokale) Bearbeitung der Referee Reports und die gut abzustimmende Korrektur von Veröffentlichungen; in Eile fühlt man sich hierbei ja immer, und die vernetzte Kommunikation ist praktisch verzögerungsfrei.

Einmal fertig, ist es nur ein Mausklick, um die neue Arbeit in der bekannten Community zu verbreiten und deren Anregungen und Kritik – ebenso schnell zurückgeschickt – zu erfahren. Wie mühsam und zeitraubend war es doch früher, Sonderdrucke zu verschicken, und wie aufwendig erst die Anforderung von Sonderdrucken, die man selber zu brauchen meinte. Wenn man sie dann endlich hatte, war das Interesse an ihrem Inhalt oft längst dahin.

Diese effektive Verbreitung unserer Forschungsergebnisse über das Internet ist übrigens auch der Grund, warum es eigentlich der ›Veröffentlichung‹ nach altem Stil im Grunde gar nicht mehr bedürfte. Herstellung und Verbreitung können wir Forschenden nunmehr leicht selber machen, weil wir alles Nötige sowieso tun müssen. Wenn es dennoch teure Zeitschriften gibt, die sich die Bibliothek oft nicht einmal halten kann, dann vornehmlich wegen der von außen abgefragten Leistungskriterien. (Vielleicht ist es ja deshalb auch richtig, dafür erneut zu bezahlen? Auch zum Leistbaren oder Nichtleistbaren der Referees ließe sich vieles sagen, aber das ist ein eigenes Thema.) Und natürlich sind die etablierten Journale auch wichtig zur zitierbaren Dokumentation und vor allem zur Archivierung. Denn für die Langzeitarchivierung haben wir leider noch keine überzeugende Lösung gefunden. Deshalb ist die Papierform am Ende des Forschungsprozesses trotz Internets vielleicht immer noch das Beste, zumindest vorläufig. Als PDF oder Ähnliches steht es ja außerdem zur Verfügung.

Wegen dieser intensiven Vernetzung der Forschung durch das Internet ist auch zu verstehen, warum die aktiven Forscher gegen alles, was diesen inzwischen lebenswichtigen Informationsaustausch behindert (zum Beispiel durch dazwischengeschaltete Rechteverwerter, die sich oft auch noch fälschlicherweise auf den Urheber und seinen angeblichen Schutz berufen), zunehmend allergisch reagieren. Open Access ist ein Elixier für den heutigen vernetzten Forschungsalltag. Aber das ist ja inzwischen oft genug gesagt worden.

In diesem Lichte wird man die Initiative zum 3. Korb der Neugestaltung des Urheberrechts sehr begrüßen, die auf die gesetzliche Fixierung des Zweitverwertungsrechts der Autoren gerade in dem Bereich abzielt, der für die Forschung besonders wichtig ist und der eo ipso nicht kommerziell ist. Es wäre außerdem eine Legalisierung dessen, was wir im Forschungsalltag sowieso oft tun.

Sonst liefe er eben nicht reibungsfrei.

Wie aus einer anderen Welt nimmt sich die Informationsbeschaffung via Internet aus. Es steht quasi ein Universum zur Verfügung. Die meisten relevanten Arbeiten findet man auf unseren Homepages, Suchroutinen sind

einsetzbar, Tabellen, Zahlen, Anleitungen stehen zur Verfügung, Fragen werden beantwortet, und dies alles zeitnah und nach aktuellem Bedürfnis. Nur eine traurig und nostalgisch stimmende Konsequenz ist nicht zu übersehen: Wir gehen kaum noch in unsere Bibliotheken, und wenn, dann ebenfalls via Netz. Dadurch aber sind Recherchen in Bruchteilen der früher verwendeten Zeit entweder erfolgreich oder werden als nicht realisierbar erkannt.

Forscher gehen oft mit riesigen Datenmengen um. Gewaltige Mengen von Messdaten fallen beispielsweise bei Großgeräten wie dem Large Hadron Collider beim CERN in Genf an. Ähnlich ist es bei numerischen Simulationen, heute oft parallelisiert, von Vielteilchensystemen, von Gittereichtheorien, von turbulenten Strömungen oder Ähnlichem. Man muss heute nicht mehr unbedingt am Ort der Maschine oder des Großrechners sein. Zugriff und Datenauswertung geschieht eben über ›das Netz‹. So wird manche moderne Forschung überhaupt erst möglich; und auch billiger, weil Reiserei wegfällt. Auch lassen sich durch das Internet verzweigte Nutzungen realisieren, Forschung also enorm erweitern, Großgeräte für mehr Wissenschaftler nutzbar machen.

Welche ungeahnten Möglichkeiten die Vernetzung geschaffen hat, um auch gegen den Forschungsmissbrauch und gegen wissenschaftliches Fehlverhalten zu protestieren, zeigt beispielhaft die jüngste Plagiatsdiskussion. Ulrich Schnabel formulierte das in Die Zeit (online, 3. März 2011, »Die Titelverteidiger«) so: »Es gab schon viele Politikerrücktritte. Es gab auch viele aus gravierenderen Gründen. Doch noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik (und wohl auch nicht woanders) ist ein Minister über wütende Wissenschaftlerproteste gestürzt.« Erst durch die Vernetzung der Forscher aber konnte dieser Protest so ungeheuer schnell wachsen und wegen der riesigen Zahl von Empörten sichtbar und damit politisch wirksam werden. Unsere Vernetzung im Forschungsalltag ist eben auch dafür höchst effektiv und geeignet: Zahlreiche Teilnetze vereinigten sich schnell und sammelten in ganz kurzer Zeit Scharen empörter Unterstützer dieses Forscherprotestes, um die Wahrhaftigkeit, Redlichkeit und das Vertrauen als tragende Fundamente unserer Forschung durch diesen Aufschrei zu verteidigen.

Viele Leser dieser Gedankenskizze werden das Vorbeiziehen und Anschwellen dieses Proteststurms in ihren Mailern miterlebt haben, die wütende Zustimmung und Verstärkung ebenso wie die beschwörende Mahnung zur Besonnenheit. Per Saldo wuchs die Welle in unglaublich kurzer Zeit massiv an, war nicht mehr zu übersehen oder gar zu ignorieren. Aber man wird auch darüber nachzudenken haben, wie leicht diese wirksame Vernetzung missbraucht werden könnte. Es bedarf unseres Vertrauens, unserer Integrität und unserer wissenschaftlichen Redlichkeit, dass auch dann die Vernetzung keinen Schaden anrichte!

Ist der erlebte Wissenschaftlerprotest nicht das im Grunde sogar weniger essenzielle Pendant zu den jüngsten Ereignissen in anderen Ländern, wo die Vernetzung eine neue Form revolutionärer Sammlung und Stärkung bewirkt hat? Und wo deshalb die Furcht davor überdeutlich sichtbar geworden ist? Und wo der Versuch der Behinderung dieser Vernetzung eine leider konsequente Folge ist? Das aber darf und wird die moderne Forschung in ihrem Bereich nicht zulassen!

Noch gar nicht richtig thematisiert, geschweige denn gedanklich durchdrungen worden ist die Frage, wie diese Vernetzung der Forschungsarbeit und ihre vielfältigen neuen Möglichkeiten auf ebendiese Forschung selbst rückwirkt. Bruchstückhaft gibt es dafür Anzeichen im Forschungsablauf, aber wie ist es inhaltlich? Eine spannende Frage!

Vernetzung ist aus Physikersicht wie eine »Wechselwirkung« zwischen den Atomen eines Vielkörpersystems, hier also zwischen den teilnehmenden Forschern. In der Natur wirken solche Wechselwirkungen oft ordnend, eine neue, »ausgerichtete« Phase definierend. Änderungen geschehen wie Phasenübergänge. Laufen nun auch wir Forscher wie die Lemminge alle in eine netzbestimmte Richtung? Zwar wird die Schöpfung einer originellen Idee, die Geburt eines neuen Verfahrens, einer neuen Einsicht nach wie vor ein individueller Akt bleiben. Aber wird vielleicht schon die Gedankenführung durch eine katalytische Wirkung infolge der Vernetzung verändert? Wie? Jedenfalls aber, wenn solche neuen Ideen reifen, dann tun sie es eben in einer vernetzten Welt. Welche Einflüsse hat das auf die Ausgestaltung? Versinkt eine Idee schnell in der Bedeutungslosigkeit oder wird sie aufgegriffen, schwillt sie an, entwickelt sie sich und wird erst dadurch richtig geboren? Jedenfalls werden all das selbstorganisierende Prozesse unter dem Einfluss der Vernetzung sein. Eine ebenso wichtige wie spannende Frage einer eigenen neuen Forschungsrealität gilt es zu analysieren.

Noch wissen wir viel zu wenig über die Konsequenzen der vernetzten Forschung. Aber eines wissen wir sehr gut: Das Werkzeug bestimmt von jeher auch das entstehende (Kunst- oder Geistes-)Werk. Ferner gilt: Loswerden kann man einmal erfundene Werkzeuge auch nicht mehr. Wir sollten also nachsinnen über die »Internet-Wissenschaft«. Nur dann können wir sie gestalten.