Heft 26 - Günter Stock: »Zweckfreie Forschung« – eine im 21. Jahrhundert taugliche Begrifflichkeit?
 

Was hätte wohl Gottfried Wilhelm Leibniz, der Gründer und Spiritus Rector unserer Akademie, auf die Frage der Gegenworte (so diese denn schon existiert hätten), ob es eine »zweckfreie Forschung« gebe, geantwortet? Leibniz, dessen Grundanliegen es war, die Vielzahl der wissenschaftlichen Ansätze unter dem Dach einer (!) Akademie zusammenzuführen – übrigens ganz im Gegensatz zu den rein naturwissenschaftlich ausgerichteten Akademiegründungen in Paris (Académie des sciences), London (Royal Society) und Schweinfurt (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina); Leibniz, dessen Ziel es war, Theorie und Praxis – in Leibniz’scher Terminologie: »theoria cum praxi« – miteinander zu vereinen, und dessen höchstes Bestreben darin bestand, Forschung und deren praktische Anwendung zum größtmöglichen Nutzen für die Menschheit zusammenzuführen.

Es dürfte somit wohl ziemlich klar sein, dass Leibniz mit dieser Frage nicht viel anzufangen gewusst hätte. Es wäre für ihn wohl auch nicht leichter geworden, wenn man zwischen »Grundlagenforschung« und »angewandter Forschung« unterschieden hätte. Wobei wir selbst in den vergangenen Jahrzehnten ja unsererseits gelernt haben, dass die Grundlagenforschung – also die »zweckfreie Forschung« (was für ein Wort!) – in den allermeisten Fällen zu einem späteren Zeitpunkt sehr wohl die Basis für bedeutende und zukunftsweisende Anwendungen bildete.

Für die 1990er Jahre wurde in einer US-amerikanischen Studie untersucht, wie viele der eingereichten Patentanmeldungen sich im Bereich der Hochtechnologie auf klassische Arbeiten der sogenannten staatlich finanzierten Grundlagenforschung stützten. Die Antwort ist verblüffend: 75 Prozent aller in den Patentanmeldungen angeführten Originalpublikationen, die schließlich zum Patent geführt haben, basierten auf Originalarbeiten, die der sogenannten staatlich geförderten Grundlagenforschung zuzurechnen sind.

Ist also die Grundlagenforschung der Bereich der Forschung, welcher nicht Anwendungsforschung ist, es aber eines Tages werden kann? Oder bedeutet »zweckfreie Forschung« gar noch mehr? Ist die Beantwortung von interessanten wissenschaftlichen Fragen wirklich zweckfrei oder nur frei vom Zwang unmittelbarer Anwendung?

Eine zweite, ebenfalls aus den 1990er Jahren datierende US-amerikanische Studie machte deutlich, dass etwa 50 Prozent aller Forschungsprojekte, die bei öffentlichen Geldgebern als Projekte der Grundlagenforschung beantragt waren, im Ergebnis zu anwendungsnahen Problemlösungen führten, umgekehrt sich aber zunächst als anwendungsorientiert deklarierte Forschungsarbeiten während der Projektlaufzeit und nach Abschluss der Forschungsarbeiten als veritable Grundlagenforschungsarbeiten herausstellten.

Wie sollte man schließlich Forschungsarbeiten zur Beschaffenheit von neuen Materialien bezeichnen, die dringend notwendig sind, um technische Problemlösungen voranzutreiben? Und wie sollte man Arbeiten im Bereich der Lebenswissenschaften, insbesondere der Medizin, charakterisieren, wo alles Streben darauf gerichtet ist, die Funktionsweise des menschlichen Organismus besser zu verstehen, um ihn dann im Krankheitsfall besser diagnostizieren und therapieren zu können? Wie hilfreich sind also in der modernen Wissenschaft solche lieb gewordenen Begrifflichkeiten wie »Grundlagenforschung« und »angewandte Forschung«?

Es ist zutreffend, dass es eine Zeit gab, in der sich die einzelnen Disziplinen oft geradezu stürmisch, fast in Isolation zueinander entwickelten, in der viele Forschungsansätze, die man klassischerweise dem Grundlagenbereich zuschrieb, in öffentlich geförderten Institutionen betrieben wurden, wobei dann quasi eine Stabübergabe an die Industrie erfolgte, die sich ihrerseits um die anwendungsnahe Forschung und Entwicklung sowie die technische Realisierung kümmerte.

Dies ist ein Bild, das heutzutage in vielen Disziplinen der Vergangenheit angehört. Gerade im Bereich der Medizin, wenn es um die Bearbeitung und Auffindung neuer Wirkstoffe geht, gibt es diese institutionelle Grenze nicht mehr. Wer heute Struktur und Funktion eines Gens aufklärt, das dazugehörige Protein synthetisiert und daraus dann entweder einen Wirkstoff oder ein Zielmolekül für die Wirkstofffindung generiert, arbeitet sowohl im akademischen, staatlich geförderten Bereich als auch in der Industrie. Industrielle Forschung, das heißt »Anwendungsforschung«, kann gar nicht mehr darauf verzichten, möglichst frühzeitig – also bereits auf der Ebene des Gens oder des Proteins – Patente anzumelden, um das Recht der Bearbeitung zu sichern, um somit wiederum im internationalen Wettbewerb an der Spitze mithalten zu können. Ebenso sorgt sich der Grundlagenforscher heute aus ganz eigenem Interesse um seine Werte, um mit Blick auf eine mögliche spätere Anwendung eine auch aus wirtschaftlicher Sicht solide Basis zu haben.

Bei all diesen Aspekten wird deutlich, wie schwierig die begriffliche Unterscheidung zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung im Bereich der Medizin ist. Die Frage lautet also: Was wollen wir eigentlich sagen, wenn wir von »zweckfreier Forschung« sprechen? Wollen wir damit der einen Forschungsrichtung ethische Unbedenklichkeit, der anderen hingegen eine geringere ethische Unbedenklichkeit zuschreiben? Wollen wir damit hoheitliche Aufgaben beschreiben, eine Finanzierung der zweckfreien Forschung durch den Staat, hingegen keine öffentliche Finanzierung der nicht ganz so zweckfreien Forschung? Wollen wir die verschiedenen Forschungsanteile institutionell verorten und künstlich voneinander abgrenzen?

Ich meine, nein! Ich bin stattdessen dezidiert der Meinung, dass diese Art von Begrifflichkeit überholt ist und dass natürlich die Unterscheidung zwischen ›guter‹ und ›schlechter‹ Forschung etwas zu einfach geraten ist. Aber es sollte mit jeder Art von Begrifflichkeit Sorge dafür getragen werden, dass hier keine mentalen Hürden aufgebaut und damit ethische Werturteile verbunden werden. Wie bereits dargelegt, führt Grundlagenforschung innerhalb unterschiedlich langer Zeiträume (die unter Umständen auch sehr kurz sein können) zu exzellenter Anwendung. Umgekehrt führen Fragen, die aus der sogenannten Anwendungsforschung kommen, zu ganz exquisiten Fragestellungen in der sogenannten Grundlagenforschung, die unser Wissen wiederum außerordentlich bereichern.

In einer Welt, die auf Wissenschaft angewiesen ist, in einer Welt, die in außerordentlicher Weise dieses neu gewonnene Wissen umsetzen kann, sollten wir neue Kriterien finden und nicht in den alten, mit vielen Konnotationen verbundenen Schemata verharren. In Deutschland pflegen wir die Differenzierung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung in einer Weise, die auf viele Bereiche der Wissenschaft nicht mehr zutrifft und die auch nicht wirklich hilfreich ist, die aber möglicherweise dazu führt, dass wir ein gleichsam geistiges Werkzeug an der Hand haben, mit dem wir Erkenntnisfortschritte fast uneingeschränkt befürworten, aber gleichzeitig ihre Umsetzung in die technologische Praxis mit äußerstem Misstrauen betrachten.

Die Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach haben meinem Wissen nach noch nie ergeben, dass die Deutschen in besonderer Weise wissenschaftskritisch, gar wissenschaftsfeindlich seien. Gleichwohl gibt es eine Reihe von neuen Technologiefeldern, die von der Öffentlichkeit mit außerordentlicher Sorge oder gar Angst betrachtet werden. Vielleicht wäre es hilfreich, eine neue Betrachtung der »zweckfreien« oder Grundlagenforschung und der »angewandten Forschung« zu betreiben und im Anschluss daran Begrifflichkeiten zu finden, die der Dynamik in den modernen Wissenschaften gerechter werden. Im Übrigen ist dies eine Semantik, die – so meine ich – auch im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften einer Überarbeitung bedarf.

»Theoria cum praxi« – Forschung und deren praktische Anwendung zum größtmöglichen Nutzen für die Menschheit: Dies war Leibnizens Wunsch, und sein Postulat ist für uns nach wie vor dienlich und zugleich verpflichtend. Eine kluge Fragestellung, dessen bin ich sicher, und deren seriöse wissenschaftliche Bearbeitung führen zu einer durchaus tauglichen Problemlösung und sind heute genauso vonnöten wie zu Leibnizens Zeiten, denn Probleme, die es zu lösen gilt, gibt es mindestens in gleicher Zahl und Schwere wie damals.