Heft 27: Grenzen der Wissenschaft: Moving Frontier

Einführung und Dokumentation
 

Im Jahre 1893 schrieb Frederick Jackson Turner seinen legendären Essay über die »Moving Frontier«.** Sie sollte als wandernde imaginäre Linie die fortschreitende Erschließung des ›Wilden Westens‹ markieren – akustisch unnachahmlich verdichtet in jenem »Westward ho!« aus dem Munde von John Wayne. Mit zunächst den Pionieren und Trappern, dann den Ranchern, Farmern und Minenarbeitern wanderte die Frontier mehrfach über den Kontinent, bis Western Union und Union Pacific schließlich die Eisenbahnschienen von der Ost- bis zur Westküste verlegt hatten. Auch die Pioniere der Wissenschaft haben neue Kontinente entdeckt und erschlossen, sie ›diszipliniert‹. Sie haben die Grenze immer weiter ins Unbekannte vorgeschoben und stießen dabei auf Hindernisse verschiedenster Art – nicht nur auf Noch-nicht-Gewusstes (und Unwissbares), sondern auf Ideologien, Politik, Religion, Ökonomie,Moral und Alltagswissen. Die außerwissenschaftlichen Zonen sind ihrerseits von Grenzen umschlossen, die sich ebenfalls in Bewegung befinden. Und auch die Binnengrenzen innerhalb des Kontinents der Wissenschaft variieren und verschieben sich ständig zwischen den einzelnen Disziplinen.

Mit Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft und Technik experimentiert auch die Literatur. Auf dem Felde der Science-Fiction freilich dominiert gegenwärtig die Dystopie, nicht die Eutopie. Apokalyptische Endzeitszenarien, Verbrechen und Wahnsinn erregen eben seit jeher die Aufmerksamkeit des Publikums mehr als ›schöne‹ Zukunftsentwürfe (und sind zudem verkaufsträchtiger). So war der von Hybris befallene (also ›grenzüberschreitende‹) ›Mad Scientist‹ seit den Doktoren Faust, Frankenstein und Moreau bis zu den Doktoren Jekyll, Mabuse und No ein höchst beliebtes literarisches und filmisches Motiv, und auch die »schöne neue Welt« Aldous Huxleys war bekanntlich alles andere als schön.***

Von den Zumutungen nicht- und außerwissenschaftlicher Instanzen an die Wissenschaften, also Grenzüberschreitungen von außen in die Wissenschaft hinein, gibt die Historie eine Vielzahl beredter Beispiele, etwa wenn im Namen von Religion, Klasse oder Rasse auf dem Terrain der Wissenschaften interveniert wird. Man denke – um nur einige Fälle herauszugreifen – an die Kirche gegen Galilei (»Ecclesia militans« vs. »häretische Irrlehre«), Lyssenko gegen Mendel (»proletarische« vs. »bürgerliche Wissenschaft«) oder »deutsche Physik« gegen Einstein (»arische« vs. »jüdische Wissenschaft«).

Mit den Grenzziehungen der Wissenschaften setzt sich gegenwärtig vor allem die wissenschaftliche Politikberatung auseinander, denn hier treffen die Grenzverläufe verschiedenster Gebiete zusammen und überschneiden einander: So tangiert die Wissenschaft etwa Bereiche der Politik, der Ökonomie und des Rechts sowie gesellschaftliche und individuelle Moralvorstellungen. Das Wissen um die Grenze gehört also zur Erkundung der Grenze des Wissens und der Wissenschaften.

Als Turner mit seinem Essay den Mythos der ›Moving Frontier‹ begründete, war diese Grenze bereits über den Kontinent gewandert, und sie existierte nur noch in der Erinnerung. Hollywood aber hat dem Mythos der Frontier mit dem ›Western‹ eine unverwechselbare Physiognomie verliehen und den US-Amerikanern damit zugleich eine eigene historische Identität gegeben. Zwar war die Frontier nun geschlossen – diese Grenze war nicht mehr in Bewegung –, aber es gab neue Räume zu entdecken wie vor einem halben Jahrhundert den Weltraum (und die ›High Frontier‹). Und auch in den Wissenschaften gab es ›Kontinentaldriften‹ und Blickwendungen, um neue Räume zu erschließen. Die Grenze wanderte zunächst gen Makrokosmos und dann in den Mikrokosmos: Atome und zunehmend Gene gerieten ins Blickfeld der Forschung, Nano- und Gentechnologen wurden die neuen Frontiersmen der Wissenschaft. Die Grenzen der Wissenschaften wandern weiter, und sie werden auch in Zukunft weiterwandern, allerdings wird der Pioniergeist des Forschers in der Regel – anders als im ›Wilden Westen‹ – nicht von Ross und Revolver flankiert, sondern von Labor und Laptop. Nicht das forsche »Westward ho« John Waynes, wohl aber das »Heureka« des Archimedes erweist sich als akustische Signatur des forschenden Pioniers der Wissenschaft.

Wolfert von Rahden

 

** F. J. Turner: »The Significance of the Frontier in American History«, in: Annual Report of the American Historical Association for 1893,Washington, D. C., 1893, S. 199–227; zur Kommentierung dieses Topos siehe auch W. v. Rahden: »Moving Frontier – Hidden Line. Über moderne und postmoderne Grenzverläufe«, in: Tumult: Der Planet, Heft 7 (1985), S. 63–71

*** Siehe hierzu ausführlicher Gegenworte: Zwischen Kassandra und Prometheus. Wissenschaft im Umgang mit Utopien und Dystopien, Heft 10 (2002)