Heft 27 - Hans-Jörg Rheinberger: »Das Wesen der Forschung besteht im Übersteigen von Grenzen«. Ein Gespräch mit Wolfert von Rahden über historische und aktuelle Grenzverläufe der Wissenschaften Gegenworte: Grenzen der Wissenschaft, der Wissenschaften werden zum einen nach außen gezogen, als Abgrenzung zu anderen Bereichen des kulturellen Lebens, zum andern als Binnengrenzen entweder innerhalb einer Disziplin oder als Grenzen zwischen einzelnen Wissenschaften oder Wissenschaftstypen. Die Grenzverläufe verschoben sich immer wieder im Gang der Geschichte, besonders zu Umbruchzeiten. Von den Zumutungen außerwissenschaftlicher Instanzen an die Wissenschaften, also Grenzüberschreitungen von außen in die Wissenschaft hinein, gibt die Historie eine Vielzahl beredter Beispiele (Stichworte: Inquisition gegen Galilei, Lyssenko gegen Mendel, »deutsche Physik« gegen Einstein). Sind das alles bloße Gespenster der Vergangenheit, oder besteht auch heute noch die Gefahr von Zumutungen an die Wissenschaft(ler) durch außerwissenschaftliche Instanzen, wie Politik oder Ökonomie? Rheinberger: Ich glaube, man sollte nicht der Illusion aufsitzen, dass diese Zugriffsversuche auf Wissenschaft heutzutage obsolet seien, sie finden ja de facto in vielfältiger Weise statt. Im Grunde genommen haben erhebliche Teile unseres Wissenschaftsförderungssystems den Charakter, das Wissen in bestimmte Richtungen voranzutreiben und es in anderen Bereichen liegen zu lassen. Sehr viele Fäden verbinden die Wissenschaften untrennbar mit der Gesellschaft. Sie waren nie so ein isoliertes Unternehmen, wie sich das der eine oder andere Wissenschaftstheoretiker hat vorstellen können. Die Wissenschaft oder die Wissenschaften haben andererseits den Anspruch, sich ihre Ziele selbst zu setzen – das gilt jedenfalls für die neuzeitliche Wissenschaft insgesamt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein musste sich die Wissenschaft mit der Religion in der einen oder anderen Weise, sagen wir einmal, ›arrangieren‹, und umgekehrt auch die Religion mit der Wissenschaft. Es war durchaus üblich, dass nicht zuletzt die größten Wissenschaftler gleichzeitig gläubige und bekennende Christen waren, ob katholisch oder reformiert, und ihr wissenschaftliches Tun auch als Dienst an etwas Höherem verstanden. Um die Französische Revolution herum fand dann jedoch eine Umkehrung statt, mit dem Versuch der Wissenschaft, sich gegenüber anderen gesellschaftlichen Instanzen und besonders gegenüber der Religion als die Wahrheitsinstanz zu etablieren. Die Wissenschaft wollte die Instanz sein, die sagen kann, was wahr ist und was falsch. Das bedeutete die Vereinnahmung eines Modus, der vorher aufseiten der Religion bestand, als noch das Wort Gottes – in welcher Form auch immer – als Wahrheit galt. Und ich denke, das 19. Jahrhundert verdankt seinen Wissenschafts- Hype diesem eigenideologischen Überschuss, der Hüter der Wahrheit zu sein. Das hat sich jetzt aber geändert im Laufe des 20. Jahrhunderts über all die kleineren Brüche hinweg und all die Versuche,Wissenschaft zu vereinnahmen, woher die Versuche auch kamen. Gegenwärtig sind wir, glaube ich, in ein Zeitalter eingetreten, in dem die Wissenschaft aus sich heraus und vor allem mit ihrer technologischen Basis eine solche Eigendynamik entwickelt hat, dass sie eigentlich diesen ideologischen Überbau nicht mehr nötig hat. Wissenschaft ist heute ein gesellschaftlicher Faktor sui generis, aus ihrem eigenen materiellen Dasein heraus. Als Forschung, nur um ein Beispiel zu nennen, garantiert und erweitert sie unser unverzichtbares Medikamentenuniversum. Die Wissenschaft ist zu einem extrem verzahnten Bestandteil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden, und deshalb hängt ihr Wohl und Wehe nicht mehr davon ab, ob dem Papst Darwins Aussagen gefallen oder nicht. Historisch gesehen, gab es in der Antike die Idee der Einheit von Wahrem, Gutem und Schönem, bis sich dann im Laufe der Geschichte die einzelnen Bereiche voneinander trennten und das Schöne der Kunst, das Gute der Ethik und das Wahre der Wissenschaft zugeschlagen wurden. Zersplittert sich die Idee vom ›wahren Wissen‹ immer mehr, sodass sie allenfalls als schwache »regulative Idee« (Kant) noch überlebt hat – dann und wann von Philosophen bemüht –, in der Alltagspraxis der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen und ihrer Selbstreflexion jedoch keine Rolle mehr spielt? Rheinberger: Als theoretische Kategorien scheinen mir diese drei noch definierbar zu sein, und voneinander abgrenzbar sind sie auch, das Ästhetische, das Epistemische und das Ethische. Die Idee, dass das wissenschaftliche Streben der Kategorie des Epistemischen sich beugt, hat eine lange Tradition. Und darin steckt auch, wenn man es systemtheoretisch mit Luhmann betrachtet, denke ich mir, ein wahrer Kern. Aber es wäre falsch, diesen Punkt zu verabsolutieren, denn Wissenschaft besitzt auch die anderen Aspekte. Insofern sie als praktisches Unternehmen von Menschen, von Subjekten gemacht wird, spielen immer auch die ästhetische und die ethische Dimension hinein. Zumindest für die Personen, die daran beteiligt sind. Jeder Wissenschaftler macht ästhetische Erfahrungen in seinem Wissen-Schaffens-Prozess, die ganz unterschiedlich geartet sein können. Manche – die anderes gewohnt sind – würden sich wundern, was da noch als ›ästhetisch‹ wahrgenommen wird. Die Unterscheidung zwischen dem Epistemischen, Ästhetischen und Ethischen hat keinen absoluten Charakter, sondern sie hilft im analytischen Bereich. Die Kategorien dürfen nicht für das eigentliche Phänomen gehalten werden: Sie sind Kategorien, mit denen man versucht, Aspekte eines Phänomens zu verstehen. Auch in der ›künstlerischen Forschung‹ werden Grenzen überschritten. Droht hier die Gefahr, dass wissenschaftliche und künstlerische Kriterien unzulässig miteinander vermengt werden? Rheinberger: Ich glaube, dass das Machen von Wissenschaft ästhetische Aspekte hat, ebenso wie das Praktizieren und das Schaffen von Kunst Wissenseffekte erzeugt. Das Universum unseres Wissens besteht nicht nur aus wissenschaftlichem Wissen. ›Wissen‹ bezeichnet eine viel breitere Kategorie, und insofern kann Kunst auch epistemische Effekte erzeugen. Künstler, die oft ihr ganzes Leben mit der Erkundung von ihnen adäquat erscheinenden Ausdrucksformen verbringen, sind ja ständig mit einem Suchprozess beschäftigt, der vielleicht nicht genau den gleichen Charakter hat wie die Suchprozesse in der wissenschaftlichen Forschung, aber auf beiden Seiten sind es unabschließbare Bewegungen. In diese Prozesse kann opportunistisch alles Mögliche eingespeist werden. Das gilt eben nicht nur für die Künste, sondern auch für die Wissenschaften. Wie steht es da mit der Metapher der ›Grenzüberschreitung‹, wenn wir an Innovation und Kreation denken? Jede neue Entdeckung überschreitet doch Grenzen. Rheinberger: Wenn man die Frage auf die Wissenschaft eingrenzt, kann man dem Heidegger’schen Diktum folgen, das ich ausgesprochen zitierbar finde. Einer der Aufsätze in Holzwege – »Die Zeit des Weltbildes« (1938) – beschäftigt sich mit Wissenschaft als einem der Signa der Neuzeit. Für Heidegger stellt ja die Wissenschaft, wie sie heute betrieben wird, ein neuzeitliches Phänomen dar. Die griechischen Episteme und auch die mittelalterlichen Doxa waren anders konstituiert als das neuzeitliche Wissen. Heidegger sieht qualitative Brüche zwischen diesen Formen. In dem erwähnten Aufsatz fragt er rhetorisch nach dem Wesen: »Was ist das Wesen der Wissenschaft? Das Wesen der Wissenschaft ist die Forschung.« Dann lässt er sich ausführlich auf den Forschungsprozess ein und charakterisiert ihn als den Prozess einer – so würde ich es jetzt einmal formulieren – »ständigen immanenten Transzendenz«. Das Wesen der Forschung liegt im Übersteigen von Grenzen. Wenn keine Grenzen mehr überwunden werden, dann kommt die Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, zum Stillstand. Diese Frage hat ja nicht nur Heidegger umgetrieben … Rheinberger: In der Tat: Dieses Thema beschäftigte die größten Köpfe der Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts, man denke an Gaston Bachelard, der ja ungefähr gleichzeitig mit Heidegger im Grunde genommen die gleichen Dinge formuliert, nur mit anderen Worten. Er fasst Wissenschaft auch als ständigen Bruch mit der Vergangenheit, als ständiges Übersteigen, bei ihm als »epistemologischer Bruch« bezeichnet. Auch in anderen philosophischen Lagern ging es um ganz Ähnliches, etwa Karl Poppers »Logik der Forschung« ist ja auch so eine Überstiegsphilosophie, nur dass er sie anders formuliert. Popper betont viel stärker, dass die Hypothesen dem Kopf des einzelnen Wissenschaftlers entspringen, während Bachelard sie eher in der Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens verankert sieht. Aber sie alle sind damit beschäftigt, mit ihren Beobachtungen der Wissenschaft zurande zu kommen, die zeigen, dass Wissenschaft mit einer immer größeren Geschwindigkeit solche Selbstüberstiegsphänomene erzeugt und dabei ständig Grenzen überschreitet. Man könnte es ja auch von einer anderen Seite her aufzäumen: Bachelard hat stets die Vielfalt der wissenschaftlichen Praktiken und Methoden betont und sich gegen einen – wie auch immer begründeten – Einheitsbegriff von Wissenschaft gewandt. Heute beobachten wir einerseits eine immer stärkere Ausdifferenzierung der Disziplinen, andererseits aber auch Vereinheitlichungstendenzen, etwa durch die Digitalisierung der Wissenschaft. Müsste nicht am Gedanken der Einheit der Wissenschaft festgehalten werden, weil sonst – wie manche befürchten – Relativismus und Beliebigkeit (man denke an Paul Feyerabends »anything goes«) Tür und Tor geöffnet würden? Oder ist das eher eine Forderung, die von einem Idealtypus ›Wissenschaft‹ ausgeht, der – wie Bachelard sagen würde – den Alltagspraktiken der einzelnen Disziplinen gar nicht mehr Rechnung trägt? Rheinberger: Die ›Einheit‹ gab es ja vor 70 Jahren schon einmal in Form der Kybernetik, die hatte auch den Anspruch, jenseits der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zu operieren. Wir entstammen einer Generation, in der Kybernetik – auch Synergetik – Teil einer größeren Bewegung war, die hieß ›Strukturalismus‹, und die hatte den Anspruch, übergreifend zu sein, ›strukturale Anthropologie‹ genauso wie ›strukturale Linguistik‹ oder Ähnliches. Auf der anderen Seite sind alle Versuche einer formalen Reduktion auf Einheitswissenschaft, die von philosophischer Seite unternommen wurden, gescheitert. Oder da, wo sie verwirklicht wurden, waren sie nicht mehr mit dem realen Phänomen ›Wissenschaft‹ kompatibel. Man kann natürlich auf der abstrakten Ebene eine Einheitswissenschaft konstruieren, die in sich auch mehr oder weniger widerspruchsfrei funktioniert. Doch wenn sie nichts mehr mit dem zu tun hat, was sich de facto als ›Wissenschaft‹ abspielt in der wirklichen Welt, dann kann man nur sagen: »Ziel verfehlt«. Und ich glaube, dass Rationalität sehr viele verschiedene Facetten hat, man kann auf qualitativ unterschiedliche Arten und Weisen rational sein. So kann man davon überzeugt sein, dass sich Biologie nicht auf Physik reduzieren lässt und dass Biologen letztlich anders denken. Man mag zwar mit physikalischen und chemischen Methoden und Mitteln auf biologische Phänomene zugehen und Aspekte von ihnen begreifen. Aber dass etwas ein biologisches Phänomen ist und kein physikalisches – diese Unterscheidung ist aus der Wissenschaft heraus immer wieder reproduziert worden, obgleich sie unglaublich unterschiedliche Figuren und Konfigurationen angenommen hat. Aber man sieht heute auch, wie stark die aus dem 19. Jahrhundert geerbten Disziplingrenzen ins Schwimmen geraten sind. Da steht nichts ein für alle Mal fest, letztlich natürlich auch nicht die Unterscheidung zwischen biologischen Phänomenen im engeren Sinne einerseits und physikalischen und chemischen andrerseits, so wie wir sie historisch kennen. Die heutige Wissenschaftslandschaft ist bestimmt von immer mehr spezielleren Fächern, die von »Bildung« im Sinne Humboldts kaum noch tangiert werden. Die Abgrenzungen werden zunehmend enger gezogen (»Wildtiermanagement « kann man in Österreich studieren). Im Gegenzug wird ›Transdisziplinarität‹ gefeiert, die anders als ›Interdisziplinarität‹ eine ständige fächerübergreifende Forschung propagiert. Wie sind diese gegenläufigen Tendenzen zu deuten? Rheinberger: Also einerseits haben wir das Phänomen, dass es immer kleinteiliger wird. Aber das hat schon die Forschung des 20. Jahrhunderts charakterisiert, Bachelard hat hier von »Kantonisierung« gesprochen. Aber seiner Meinung nach war das nichts Negatives, sondern etwas Positives: Es werden kleine Einheiten geschaffen, in denen gewissermaßen Begriffe mit Phänomenen verknüpft werden können, und je kleiner diese Bereiche sind, desto beweglicher sind sie und desto leichter kann da auch wieder etwas zugunsten eines neuen Phänomens oder Begriffs aufgelöst werden. Also insgesamt erhöht es die Beweglichkeit der Wissenschaft, wenn sie unterhalb der Disziplinengrenzen Kantone bildet. Die ›Großgrenzen‹ der Disziplinen haben das 19. Jahrhundert charakterisiert, im 18. Jahrhundert gab es diese Unterschiede, so wie sie dann zementiert wurden, noch gar nicht. Und im Augenblick sind wir wieder in einer Situation, wo diese Großgrenzen erneut verschwimmen, wo aber zwischen den spezialisierten Bereichen in einer hochdynamischen Weise ständig neue Verknüpfungen passieren. Der Systemtheoretiker Stuart Kauffman hat in diesem Kontext von »patchwork phenomena « gesprochen. So funktioniere im Grunde genommen auch Evolution, meint er. Ein großes Problem wird in kleine Teile zerlegt, und in jedem Unterteil kann man nach Lösungen suchen und auch etwas Brauchbares finden. Gute Lösungen können in andere Teile ausstrahlen, schlechte Lösungen bleiben begrenzt, sodass man so etwas wie einen Flickenteppich hochbeweglichen Charakters bekommt, der in gewisser Weise selbstregulativ ist. Das halte ich für ein schönes Bild. Aber das impliziert ständig neue Grenzziehungen, und jeder dieser Flicken ist von fünf, sechs anderen Flicken umgeben. Wenn man das unter dem Aspekt der Trans- oder Interdisziplinarität durchbuchstabiert, wie viele Verknüpfungsmöglichkeiten es bereits bei fünf Elementen gibt, dann kommt man schon in die Hunderte. Viele Phänomene, die heute an der Front des Wissens untersucht werden, definieren sich auch nicht mehr nach den alten Kategorien: In den Nanowissenschaften zum Beispiel taucht Physik als Abgrenzungskategorie nicht mehr auf, da tauchen Chemie und Biologie als Abgrenzungskategorien nicht mehr auf, und trotzdem gibt es natürlich in den Nanowissenschaften Forscher, die an biologischen Molekülen, die an chemischen Umsetzungen, die an physikalischen Strukturen arbeiten, sich aber ständig in der einen oder anderen Weise miteinander und auch mit den Ingenieurswissenschaften vernetzen. Hier werden die Phänomene nicht mehr nach den klassischen Grenzen definiert, sondern die Phänomene werden definiert. Und dann wird gesagt, »um das zu lösen, brauchen wir den und den speziellen Sachverstand«. Dass dieser Sachverstand sich immer noch in Gestalt von Biologen, Physikern oder Chemikern darstellt, hat vielleicht mit der Trägheit unseres Bildungssystems zu tun. Oder vielleicht nicht nur mit der Trägheit, sondern möglicherweise braucht die Ausbildung andere Strukturen, das heißt, die Art und Weise, wie man an die Forschung herangeführt wird, unterscheidet sich von der, wie die Forschung selbst dann organisiert ist. Über das Verhältnis von Bildung und Forschung müsste viel mehr gearbeitet und nachgedacht werden … Das Wahre und Schöne haben wir schon angesprochen, es fehlt noch das Gute. Gibt es ethische Grenzen der Wissenschaft? Dürfen wir alles, was wir können? Müssen der Wissenschaft Grenzen von außen verordnet werden, wie im Falle des Klonierens oder jüngst im Falle der Vogelgrippe? Brauchen wir Ethikräte oder vergleichbare gesellschaftliche Instanzen oder doch eher den moralischen Appell an das Verantwortungsbewusstsein des einzelnen Wissenschaftlers? Rheinberger: Auf der einen Seite denke ich mir, gibt es für jeden Menschen, an welcher Stelle auch immer er in einer Gesellschaft tätig ist – nicht nur in der Wissenschaft –, so etwas wie einen moralischen Imperativ. Wie oft der auch durchbrochen werden mag, als Handlungshorizont oder ›regulative Idee‹ ist er durchaus wirksam. Aber auf der anderen Seite glaube ich, dass das nicht reicht. Ich bin jemand, der der Meinung ist, dass wirklich wichtige Fragen – was eine Gesellschaft toleriert und was nicht – auch gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen unterworfen sein sollten. Diese Fragen können nicht den Wissenschaftlern allein überlassen werden. Die Gesellschaft muss im Rahmen eines demokratisch organisierten Diskurses zu Entscheidungen kommen. Wenn es zum Beispiel heißt, »wir möchten nicht in einer Gesellschaft leben, in der Menschen kloniert werden«, dann muss diese gesellschaftliche Entscheidung auch strafrechtlich durchgesetzt werden. Oder eine Gesellschaft entscheidet sich mehrheitlich, »wir wollen ohne Kernkraft als Energiespender auskommen«, dann wird das umgesetzt, obgleich man Kernkraft mit – sagen wir einmal – einem gewissen Restrisiko doch in relativ beherrschbarer Form zur Energiegewinnung nutzen kann. Physikalisch hätte man das Phänomen einigermaßen im Griff. Ich bin der Meinung, dass es Grenzen gibt, die gesellschaftlich gesetzt werden und innerhalb deren sich die Wissenschaft bewegen muss. Und wie sollte die Wissenschaft mit der Grenze zu Noch-nicht-Gewusstem oder Nicht-Wissbarem umgehen? Wie steht es mit den Versprechen der Stammzellenforschung? Rheinberger: In der Debatte der BBAW, die um das reproduktive Klonen ging, haben Philosophen glaubhaft versichert, dass es keinen ethisch-kategorischen Grund für ein Verbot gebe. Ein solches Verbot lässt sich aus ethischen Prinzipien nicht ableiten. Das soll mir recht sein, denn tatsächlich geht es um eine gesellschaftliche Entscheidung. So ist es auch in anderen Bereichen. Beim Thema ›Stammzellenforschung‹ zum Beispiel hätte ich gern eine liberalere Handhabung, wie in England, weil die Aussicht besteht, eines Tages das Problem der Organspenden lösen zu können. Nur sollen die Wissenschaftler heute nicht so tun, als wären sie schon so weit, dieses fürchterliche Hausieren mit Heilsversprechen schadet letztlich der Wissenschaft. Gerade der Wissenschaft schadet es, wenn solche Ankündigungen dann kurzfristig nicht eingelöst werden können. Wenn es aber um gesellschaftliche Entscheidungen geht, sollte man grundsätzlich nicht von der Idee ausgehen, wir hätten auf der einen Seite die Wissenschaft und auf der anderen Seite die Gesellschaft. Wissenschaft ist als solche ein zutiefst sozialer, gesellschaftlicher Prozess und nicht einfach die Verlängerung eines Naturverhältnisses. Und die Art von Selbstständigkeit oder Autonomie der Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, ist ja selber eine gesellschaftlich bedingte, ein gesellschaftlich bedingter und historisch gewachsener Konsens, und nicht etwas aus einem Wissenschaftsideal heraus Geborenes. Zentral für den modernen Wissenschaftsbegriff ist die Idee der Öffentlichkeit und Transparenz. Die geheime Arkan-Wissenschaft machte der demokratischen Wissenschaftsauffassung Platz: Der Forschungsprozess soll nachvollziehbar und kontrollierbar sein. Doch erweist sich dieses Ideal in der Gegenwart nicht als schöne, aber trügerische Idee? In vielen Bereichen regiert das Expertenwissen, und zwar nicht nur in der Mathematik, die in diesem Zusammenhang häufiger erwähnt wird (Beispiel: Grigori Perelman), sondern vor allem in den hochkomplexen angewandten und technischen Wissenschaften mit wirkmächtigen gesellschaftlichen und sozialen Folgen. Ist die Arkan-Wissenschaft zurückgekehrt? Rheinberger: Ich halte es da mit Ludwik Fleck, der in einem seiner frühen Aufsätze ganz emphatisch gesagt hat, die neuzeitliche Wissenschaft ist eigentlich ein Modell für Demokratie, also etwas Öffentliches par excellence. Die Wissenschaft bildet Communitys, und es gibt keine grundsätzliche Schranke, die den Zugang verstellt. Das Einzige, was zählt: ob er oder sie aufgrund seines oder ihres Beitrags, den er oder sie beisteuert zum verhandelten Prozess, akzeptiert wird oder nicht. Das ist ein transparentes Verfahren, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Und ohne diesen Impetus hätte es, glaube ich, die moderne Wissenschaft, so wie wir sie heute kennen, nie gegeben. Auf der anderen Seite muss man die Sache auch als einen dialektischen Prozess sehen. Um diese Offenheit zu praktizieren, kommt es oft auch wieder zu Abgrenzungen. Und das naturwissenschaftliche Labor ist ja im Grunde auch kein öffentlicher Ort, sondern ein zumindest halb geschlossener Raum, in dem Dinge verhandelt werden, von denen man vielleicht noch nicht möchte, dass sie nach außen dringen, weil es um ungesichertes Wissen geht. | |