Heft 28: Zwischen den Welten Einführung und Dokumentation Es gab eine Zeit, in der ein Professor sich »weit und breit« wissenschaftlich in »vielerley Disziplinen« und darüber hinaus philosophisch, literarisch und didaktisch-popularisierend äußern konnte, ohne um seine Reputation fürchten zu müssen. Man publizierte folglich als Gelehrter zugleich ebenso frei über die Geschichte der Erde »in den allerältesten Zeiten« wie über »Diät und Lebensordnung«, Primzahlen, Erziehungsfragen, Gesundbrunnen, Gott, Tabak- und Kaffeegenuss, Naturlehre, Träume, Elektrizität, Steinkohlen, »Experimental- Seelenlehre«, »Regeln der Sprache des Herzens«, über Erdbeben, den kalten Winter sowie über »physicotheologische Betrachtungen« von Tieren und Verwandtes bzw. Nicht-Verwandtes. Autor des hier genannten multidisziplinären Schrifttums war der »Professor der Weltweisheit und Arzneygelahrtheit « an der Universität Helmstedt und zuvor in Halle, Johann Gottlob Krüger (1715–1759), zugleich Mitglied sowohl der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften ab 1744 wie auch der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina ab 1745.** Die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaften waren noch nicht gezogen, die unterschiedlichen Wissenskulturen erstreckten sich nicht auf eng abgesteckte Territorien, sondern auf riesige Wissenskontinente wie zum Beispiel die Naturgeschichte. In der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten Wissenschaften avant la lettre wie die Geologie, Biologie, Chemie, Ökonomie oder Psychologie – um nur einige zu nennen – ihre Etablierung als institutionalisierte und anerkannte wissenschaftliche Disziplin noch vor sich. Gleichzeitig verliehen Universalgelehrte wie Leibniz und später die Brüder Humboldt oder Goethe dem grenzüberschreitenden Genius Bedeutsamkeit und Glanz über das Gebiet der Wissenschaften hinaus. Und heute? In jüngster Zeit wird der Disput um Interdisziplinarität zuweilen höchst kontrovers und polarisierend geführt. Die einen mutmaßen, interdisziplinäre Verbünde schlössen sich zu bloßen »Beutegemeinschaften« zusammen, um im taktischen Bündnis Förder- und Forschungsgelder zu erlangen. De facto jedoch würden sie unter dem gemeinsamen »Antragsdach« nur additive, allenfalls multidisziplinäre Forschung betreiben, die nebeneinander herlaufe – ohne dass neue integrative Ergebnisse im Sinne von Transdisziplinarität erzielt würden. Die anderen hingegen betonen, dieses Risiko bestünde lediglich bei Fragestellungen, die »top down« vorgegeben werden. In all jenen Fällen jedoch, bei denen die Fragestellung aus den konkreten Problemen selbst – also »bottom up« – erwüchse, verlange die Sache von sich aus mehr oder minder zwangsläufig interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten. Und sie erinnern an jene großen Forschungsfelder, die unterschiedlichste Disziplinen und Technologien miteinander verschmelzen, wie etwa die Bio-, Nano-, Informations- und Kognitionswissenschaften, in denen Technik-, Natur- und Geisteswissenschaften kooperieren. Mit anderen Worten: Ob interdisziplinäre Forschung ertragreich zu werden verspricht, kann nur nach der jeweils konkreten Fragestellung sinnvoll eingeschätzt werden. Und das gilt ebenso für die technischen und naturwissenschaftlichen wie auch für die sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen – die Ergebnisse zeigen sich bekanntlich ohnehin erst post festum. Enttäuschungsfeste Garantien für erfolgreiche Resultate vermag auch interdisziplinäre Forschung nicht zu bieten – ebenso wenig wie übrigens die einzeldisziplinäre. Inter- und Transdisziplinarität sind gleichwohl geboten, werden auch gefordert und gefördert, aber vielleicht nicht ausreichend beobachtet: Die Selbstreflexivität der Wissenschaft ist hier gefragt, denn die Überschreitung von Grenzen wirkt auf das ehemals Eingegrenzte zurück. Die traditionellen Disziplinen verändern sich mit und durch die Kooperationsprozesse. Das wiederum sollte Gegenstand der Forschung sein (und hierzu wollen die Gegenworte einen Beitrag leisten). Und morgen? Vor allem dringliche und zukünftig drängende Problemfelder wie Energie, Ernährung, Umwelt, Finanzmärkte, Wasser, Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Gesundheit (um einige herauszugreifen) verlangen transdisziplinäre und globale Initiativen, denn diese Probleme machen – wie man weiß – auch vor keiner Grenze halt. Die Lösung dieser weltweiten Fragen erfordert sowohl die Überwindung nationaler und staatlicher Schranken wie auch die Überschreitung binnendisziplinärer Barrieren in den Wissenschaften. Da könnte neben der »Arzneygelahrtheit« gewiss auch ein Gran »Weltweisheit « hilfreich sein. Wolfert von Rahden ** Detaillierte bibliografische Angaben zu Krügers OEuvre finden sich in:W. v. Rahden: »Ein fast vergessener Aktualist: Georg Christian Füchsel zu Ursprung und Entwicklung der Erde und der Sprache«, in: B. Naumann, F. Plank und G. Hofbauer (Hg.): Language and Earth. Amsterdam/Philadelphia 1992, S. 289–322, hier S. 320 | |