Heft 29 - Peter Weingart: Nun auch: Skandalisierung der Wissenschaft

 

Kontrolle anstelle von Vertrauen

Bislang befand sich die Wissenschaft in einer gesellschaftlichen Sonderstellung, abgehoben und abgeschirmt von jeglicher medialen Skandalisierung, wie sie allenfalls noch der Papst genießen konnte. Das spiegelt sich, wenn auch nur sehr vermittelt, in den Umfragewerten wider, in denen der Wissenschaft (neben dem Verfassungsgericht) noch immer das höchste Vertrauen aller gesellschaftlichen Institutionen bestätigt wird. Allerdings sind auch die Warnzeichen nicht zu übersehen: Das Vertrauen sinkt seit Jahren kontinuierlich. In Deutschland allein zwischen 2005 und 2010 von 86 auf 57 Prozent, der stärkste Rückgang von allen EU-Mitgliedsstaaten. Noch im Jahr 2000 konnte Kurt Imhof feststellen: »Nicht weniger als 84 % aller Skandalierungen betreffen das politische System bzw. Handlungen von Vertretern des politischen Personals. Weit abgeschlagen folgen Skandalierungen der Gesellschaftsprominenz aus Kultur und Kunst (5,4 %) […] die Skandalierung von Vorgängen innerhalb der Wissenschaft findet sich mit grossem Abstand am Schluss der Skandalierungshierarchie: Nur gerade ein Fall schaffte es unter die grössten zehn Medienereignisse pro Jahrgang und Zeitung innerhalb dieser 85 Jahre« (1910- 1994-PW; Imhof 2000). Diese Zeit scheint endgültig zu Ende gegangen zu sein, und wenn man Imhofs gesellschaftstheoretischer Verortung von Skandalisierungen (oder Skandalierungen, wie er sagt) folgt, indizieren sie, bezogen auf Vorkommnisse innerhalb der Wissenschaft, Normen- bzw. Wertkonflikte, die sowohl die Wissenschaft intern als auch ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft betreffen. Man kann die nachhaltige Veränderung der Rolle der Wissenschaft in den nachindustriellen ›Wissensgesellschaften‹ seit mindestens drei bis vier Jahrzehnten beobachten, aber der Prozess ist schleichend, in verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgeprägt, ideologisch besetzt und kontrovers und von Interessen bestimmt. Es muss schon eine markante Zäsur sein, die auch dem letzten Beobachter vor Augen führt: Times have changed.

1997, der damalige DFG-Präsident hatte die deutsche Wissenschaft gerade als vor »amerikanischen Verhältnissen« geschützt gewähnt, wurde diese mit dem Betrugsskandal Friedhelm Herrmann and Marion Brach auf den Boden der neuen Normalität geholt. Die (hierzulande verspätete) Reaktion war 1999 die Einrichtung des ›Ombudsmanns der Wissenschaft‹. (Das US Office of Research Integrity zum Beispiel existiert bereits seit 1992.) Mit der Einrichtung dieser und ähnlicher Institutionen in vielen Ländern weltweit wurden die bis dahin inexpliziten, in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten, sogenannten ›Regeln guter wissenschaftlicher Praxis‹ unter anderem in einem international anerkannten ›Code of Conduct‹ öffentlich gemacht. Er wirkt nicht nur innerhalb der Wissenschaft als Verhalten steuerndes verbindliches Regelwerk, sondern er wird der Wissenschaft seither auch von außen, also von der Politik und den Medien, als Maßstab ihres Tuns vorgehalten.

Dieser Prozess der ›Externalisierung‹ von Verhaltensregeln der Wissenschaft ist Ausdruck des umfassenden institutionellen Wandels in allen Bereichen der Gesellschaft. Michael Power (1997) hat ihn als die Entwicklung zur »Audit Society« bezeichnet: An die Stelle von Vertrauen in die innere Selbstregulierung von Institutionen treten die Kontrolle von außen und die Rechenschaftslegung gegenüber einer imaginierten Öffentlichkeit. Längst hat die Kontrollwut mit ihren Kennzahlorgien auch die Wissenschaft erreicht: die einzelnen Forscher ebenso wie die Universitäten, die großen Wissenschaftsorganisationen und die Fördereinrichtungen. Sie folgen damit nur der Entwicklung, die die Politik schon seit jeher und zuletzt auch die Banken als einstmaligen Hort soliden Wirtschaftens erfasst hat. Man mag diesen Wandel bedauern, und gerade Wissenschaftler tun das mit besonderer Inbrunst, weil die Wissenschaft die letzte Institution war, der vertraut wurde. Aber sie ist auch ein inhärenter Teil von Demokratisierung. Rechenschaftslegung folgt den Prinzipien der Transparenz und der Öffentlichkeit. Es gibt kein wirklich gutes Argument gegen sie.

 

Funktion der Skandalisierung

Dies ist auch der Schlüssel zum Verständnis der seit Längerem sich ankündigenden Skandalisierung der Wissenschaft. Einmal öffentlich geworden, entwickeln die ›Regeln guter wissenschaftlicher Praxis‹ ihre eigene diskursive Dynamik zwischen den Handlungen der ihnen unterworfenen Akteure und ihren Beobachtern. Die Beobachter sind die potenziellen Skandalisierer der Wissenschaft, sie wachen über die Einhaltung der Regeln, und im Fall der Regelverletzung prangern sie den Verstoß öffentlich an. Der Verstoß gegen die Regeln wird – übrigens von allen Agenturen der Integritätssicherung – als individueller und deshalb moralischer Verstoß betrachtet, den es entsprechend zu ahnden gilt. (Gegebenenfalls geboten erscheinende Maßnahmen struktureller Veränderungen lassen sich nicht durch Skandalisierung befördern; s. Franzen u. a. 2007.) Damit scheint angesichts einer immer weiter differenzierten und von vielfältigen ökonomischen Erwartungen und Anreizen beeinflussten Wissenschaft die Effektivität der Kontrolle gegen alle Arten von Betrug zunächst verbessert – etwa gegenüber dem zuvor dominierenden System, in dem ›old boys networks‹ schon mal ›fünfe gerade sein‹ ließen und der jungen Laborantin oder dem aufmüpfigen Assistenten im Fall ihrer Beschwerde gegen den Ordinarius nahelegten, eine neue Karriere einzuschlagen. Die Beobachtung interner Regelverstöße von außen ist in der Wissenschaft jedoch viel schwerer als etwa beim Bau von Flughäfen.

Hier kommen nun zwei Umstände zusammen, die zum Kollaps dieser Barriere geführt haben: Zum einen ist es die Technik. Die wissenschaftliche Kommunikation findet inzwischen nahezu ausschließlich digitalisiert statt, und sie ist zum größten Teil im Netz zugänglich. Zum anderen ist es die dadurch ermöglichte Herausbildung einer neuen Berufung: der des Plagiatsjägers. Der Österreicher (Dr.) Stefan Weber weist sich auf seiner Website als »Sachverständiger für wissenschaftliche Texte« aus, zu dessen Dienstleistung die »gerichtsfeste Plagiatsprüfung« zählt. Er ist unseres Wissens bislang der Einzige, der die Suche nach Plagiaten zum Geschäftsmodell gemacht hat, aber er ist nicht der Einzige, der mittels des elektronischen Textvergleichs Plagiaten auf der Spur ist – mit stupendem Erfolg. GuttenPlag (ab Februar 2011), VroniPlag (ab März 2011) und zuletzt auch SchavanPlag sind die Plattformen im Internet, die sich in Deutschland der Überprüfung von Dissertationen widmen. Längst sind es nicht mehr nur ihre Urheber, sondern eine Schar – oder soll man sagen: ein Schwarm – von Mitstreitern widmet sich der mühseligen Suche nach gar nicht oder nachlässig zitierten oder irreführend paraphrasierten Texten in Doktorarbeiten. Mit dieser unkonventionellen Indienstnahme der ›neuen Medien‹ durch solche Bürgerinnen und Bürger, denen die Einhaltung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis besonders am Herzen liegt, ist der Wissenschaft eine außerordentlich medienwirksame und brisante Kontrollinstanz zugewachsen. Sie sichert zugleich eine ungezügelte Dauerskandalisierung. Nicht nur reklamieren die Plag-Betreiber selbst für sich, das wissenschaftliche Tugendwächtergewissen zu repräsentieren. Sie liefern mit ihren Enthüllungen über Plagiate den Medien überdies die Substanz, aus der diese die Skandalisierung allererst formen. Dazu gehören einmal die moralisierende Empörung über den Regelverstoß, zum anderen die Prominenz derer, die gegen die Regeln verstoßen haben, denn erst dadurch erhält die Empörung ihre Brisanz.

 

Skandalisierung ›sans frontières‹

Hinter den Plagiatsjägern wurden zunächst Linke vermutet, weil auffallend viele der von ihnen aufgedeckten Plagiate (mehr oder weniger) prominenten Politikerinnen und Politikern des konservativ-liberalen Lagers zuzuschreiben waren. Doch dieser Reflex ist rührend altmodisch. Es geht allein um die Prominenz der Ertappten, genauer die politische Prominenz, die selbst noch über die Kinder von Prominenten beliehen wird, wie im Fall der Taufpatin des VroniPlags. Prominente Politiker sind seit jeher das primäre Ziel von Skandalisierung. Der tiefe Fall eines prominenten Politikers dient am ehesten der Reinigung und der Wiederherstellung der Werteordnung, gegen die verstoßen wurde. Neu, erstaunlich und keinesfalls selbstverständlich ist allerdings der Umstand, dass es bei den ›Plags‹ und der sie kommentierenden Medienberichterstattung um die Verbindung zweier gesellschaftlicher Teilsysteme – Wissenschaft und Politik – geht. Man erinnere sich an den Fall Guttenberg: Für eine Zeit lang konnte es so scheinen, als gelänge es ihm und der Regierung, den Verstoß gegen die Regeln der Wissenschaft in Gestalt des inkriminierten Plagiats (und zusätzlich gegen die in allen Dissertationen übliche eidesstattliche Versicherung selbstständiger Autorenschaft) vom Amt zu trennen. Angela Merkels pragmatischer Versuch, die Grenze mit dem Spruch zu markieren: »Ich habe keinen wissenschaftlichen Assistenten […] berufen, sondern mir geht es um die Arbeit als Bundesverteidigungsminister, die erfüllt er hervorragend, und das ist das, was für mich zählt«, bewirkte genau das Gegenteil. Über 50 000 Doktoranden und Akademiker, die die Wissenschaft beschädigt sahen, protestierten öffentlich und medienwirksam und bewirkten die grenzüberschreitende Infragestellung der Glaubwürdigkeit des Ministers. Seit diesem Vorgang lässt sich – zumindest hierzulande – der Betrug in der Wissenschaft nicht mehr auf die Wissenschaft eingrenzen, sondern beschädigt auch politische Glaubwürdigkeit und Reputation. Durch den Bezug auf das Regelsystem der Wissenschaft, dem die meisten Politiker allenfalls kurzfristig über eine Doktorarbeit verpflichtet sind, werden die moralischen Ansprüche an sie weit über das ihnen üblicherweise entgegengebrachte Maß an Vertrauen hinaus gesteigert. Rechtzeitig zur Bundestagswahl eröffnete der Begründer des VroniPlags Anfang Februar die »Plagiatsjagd« auf Politiker mithilfe eines von ihm erstellten ›PolitPlag‹. Der »Vertrauens- und Kompetenzvorschuss«, den der Doktortitel gewähre, müsse durch dessen ordnungsgemäße Erlangung gerechtfertigt sein (Troni, 2013).

Angesichts dieses explosiven Skandalisierungspotenzials wissenschaftlichen Fehlverhaltens im politischen Teilsystem ist dem Kommentar Jürgen Kaubes zweieinhalb Wochen vor dem Rücktritt nichts hinzuzufügen: dass nämlich der Bildungsministerin der Doktorgrad aberkannt, sie ihr Amt aber werde behalten können, gehöre »leider in das Reich der frommen Wünsche« (Kaube, 2013). Diese Einsicht in die nicht mehr zu zügelnde Eigendynamik der Skandalisierung liegt wohl auch dem von verschiedenen Seiten geäußerten Bedauern zugrunde, das im Vorfeld der Demission Annette Schavans geäußert wurde: »Ein richtiger Rücktritt – leider«, bedauerte der Spiegel (9. 2. 2013), »nur Verlierer« sah Heike Schmoll in der FAZ (7. 2. 2013), und der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, wurde in der FAZ mit den Worten zitiert, der Fall Schavan habe die Ausmaße einer »griechischen Tragödie«: »Es gibt nur Verlierer. Der eine ist die Ministerin natürlich […]. Und die Wissenschaft als Ganzes, die plötzlich da steht, als ob sie ein Haufen von Betrügern sei« (FAZ v. 23. 1. 2013).

 

Skandalisierungsdynamik – Kollateralschäden

Die zum Teil beinahe rührseligen Kommentare kurz vor und unmittelbar nach dem allseits in Form und Inhalt ›respektierten‹ Rücktritt sind vor allem dem Erschrecken vor der unerbittlichen Konsequenz geschuldet, die gerade in diesem Fall der Regelverstoß gegenüber der weithin anerkannten Amtsführung entwickelte. Der Skandal hat aber noch eine zweite mindestens ebenso brisante Wirkung entfaltet mit zu erwartenden Spätfolgen. Gemeint sind die Rückwirkungen auf die Wissenschaft, die ja letztlich Ausgangspunkt des Dramas ist. Zwei Aspekte dieser Rückwirkungen sind getrennt voneinander zu beachten, wenngleich sie sich im medialen Skandalisierungsdiskurs wechselseitig verstärkt haben.

Zum einen sind von den Medien schon im Fall Guttenberg und jetzt wieder verstärkt die Fragen aufgeworfen worden, weshalb die Wissenschaft keine einheitlichen Qualitätsstandards entwickelt hat, wie die Verfahren der Promotionskommissionen organisiert sein müssten, warum den Doktorandenbetreuern die Plagiate entgehen? Die ungeklärte Verletzung der Vertraulichkeit des Düsseldorfer Verfahrens wird ebenso von den Medien moniert wie seine unziemliche Dauer (»ein Unding«, so Schnabel in Die Zeit v. 24. 1. 2013). »Für die Bewertung von Plagiaten fehlen der Wissenschaft ja offenbar […] die eindeutigen Maßstäbe […] Keine Universität sah sich bemüßigt, die Prominentenpromotionen einmal selbst unter die Lupe zu nehmen« (Spiewak in Die Zeit v. 7. 2. 2013). Der Universität habe der Mut gefehlt, »die Versäumnisse des Doktorvaters beim Namen zu nennen, der die Studentin nie solch ein Thema hätte bearbeiten lassen dürfen, sie an die gültigen Zitierregeln hätte erinnern und ihre Einhaltung hätte prüfen müssen« (Schmoll, 2013). Schon wird vonseiten der Politiker und der Journalisten nach einer zentralen Festlegung von Qualitätsstandards für Dissertationen gerufen, offenbar in Analogie zum Zentralabitur. Ganz abgesehen davon, wie gerechtfertigt oder praxisfern die Klagen über unterschiedliche Standards in verschiedenen Fächern (einschließlich der Benotungspraktiken an verschiedenen Universitäten) und über den universitätsspezifischen Umgang mit Plagiaten auch sein mögen: Die Logik der Skandalisierung konfrontiert die Wissenschaft, ganz ähnlich wie die Politik, mit uneinholbaren moralischen Forderungen. Sie sind die Folge der eingangs konstatierten Substituierung von Vertrauen durch öffentliche Kontrolle, deren Tragweite von der Wissenschaft, den Universitäten zumal, größtenteils noch gar nicht verstanden, geschweige denn bearbeitet worden ist.

Der zweite Aspekt der genannten Rückwirkungen auf die Wissenschaft betrifft deren kommunikativen Umgang mit der Skandalisierung selbst. Nach bald eineinhalb Jahrzehnten vermeintlich professionalisierter Wissenschaftskommunikation fragt man sich, wer und was die Allianz geritten hat und wie viele smarte, gut bezahlte PR-Berater sie nicht davon abgehalten haben, in den laufenden Skandalisierungsdiskurs zu intervenieren. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Intervention, insbesondere nach ihrem allzu langen peinlichen Schweigen während der Guttenberg-Affäre, gegen sie ausschlagen würde. Sie lasse sich von der Politik instrumentalisieren (Die Zeit v. 7. 2. 2013), »eine peinliche Vorstellung« habe sie geboten und den Verdacht geweckt, es gehe ihr »weniger um wissenschaftliche Integrität als um die Rettung einer Ministerin, der sie großzügige Fördermilliarden verdanke[n]« (Die Zeit v. 24. 1. 2013). In der FAS titulierte Thomas Gutschker die Allianz als »Gemeinde«, von deren »Priestern […] die Ministerin monatelang alle nur denkbaren Segnungen« erfahren habe« und in der »andere Maßstäbe« gälten (Gutschker, 2013). Auch die diversen Wissenschaftler, die sich in ähnlicher Form zu Wort gemeldet hatten, fanden in den Medien keine Gnade. Sie wurden unter anderem abfällig als »selbsternannte professorale Hilfsverteidiger zur Entlastung der Bedrängten« (FAZ v. 4. 2. 2013) charakterisiert. Im Kontext dieses Skandalisierungsdiskurses mussten ihre wie gut auch immer gemeinten Argumente zur Verteidigung der Beschuldigten als eine Relativierung der Regelverletzung erscheinen, die – aus der Außenperspektive – allein durch ›niederes‹ Selbstinteresse motiviert sein konnte. Die mediale Skandalisierung erlaubt keine Differenzierung, sie kennt nur schwarz und weiß. Die Allianz ebenso wie die Professoren, die sich zugunsten der Ministerin äußerten, haben die Skandalisierungsdynamik zusätzlich angeheizt – mit verheerenden Folgen für ihr eigenes und das Image der Wissenschaft insgesamt.

 

Haben die Medien eine Kontrollfunktion gegenüber der Wissenschaft?

Der Tenor der skandalisierenden Medienberichterstattung über die Prominentenplagiate ist eindeutig: Die Wissenschaft hat ihre selbst gesetzten Regeln nicht beachtet, hat die sonst übliche Sorgfalt nicht walten lassen, verfügt nicht über einheitliche Qualitätsstandards, und sie ist obendrein politisch korrumpierbar, wenn es um die Anwendung von Regeln bei prominenten Politikern geht. Gemäß dem Skandalisierungsmuster klagen die Medien die Verletzung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis mit moralisierender Empörung an und bestehen auf deren Heilung. Die Empörung ist im Fall der Wissenschaft aufgrund ihrer eingangs erwähnten Sonderstellung als Institution mit dem größten gesellschaftlichen Vertrauen besonders stark. Die Medien pflegen das idealistische Bild der Wissenschaft als interessenneutral, der Objektivität verpflichtet und in ihren Verfahren an Wahrheit orientiert. Es dient als Folie, vor der die Abweichungen mit umso intensiverer Unerbittlichkeit angeprangert werden. Insofern die Skandalisierung gleichbedeutend mit der Herstellung von Öffentlichkeit ist, ist sie auch eine Spielart demokratischer Kontrolle. Allerdings operiert sie nicht fein abgestimmt, sondern grobschlächtig, trägt plebiszitäre bzw. ›boulevardisierende‹ Züge. Am Ende eines Skandalisierungszyklus steht daher zumeist die bloße Zerstörung der Reputation von Personen und Institutionen (s. Imhof 2008). Deren Wiederherstellung bleibt ihnen dann selbst überlassen.

Die Ministerin und die deutsche Wissenschaft hatten dabei noch Glück. Bevor die skandalisierende Berichterstattung diesen Punkt zu erreichen drohte, kam ihnen der Rücktritt des Papstes zu Hilfe. Ob seiner Beispielhaftigkeit allseits gelobt und bewundert, absorbierte er alle mediale Aufmerksamkeit und gewährte so den Erschöpften die ersehnte Ruhe.

 

Literatur

M. Franzen, S. Rödder und P. Weingart: »Fraud: causes and culprits as perceived by science and the media«, in: EMBO reports 8/1 (2007), S. 3–7

T. Gutschker: »Die Gemeinde«, in: FAS v. 10. 2. 2013 K. Imhof: »Vertrauen, Reputation und Skandal«, in:Zeitschrift für Religion, Staat, Gesellschaft (RSG), Themenheft: Soziale Normen und Skandalisierung (Dresden 2008), S. 55–78

K. Imhof: »Öffentlichkeit und Skandal«, in: K. Neumann-Braun und S. Müller-Doohm (Hg.): Einführung in die Medien- und Kommunikationssoziologie. Eine Einführung in zentrale Begriffe und Theorien. München 2000, S. 55–68

J. Kaube: »Frau Jedermanns Plagiat«, in: FAZ v. 23. 1. 2013 M. Power: The Audit Society: Rituals of Verification. Oxford 1997

H. Schmoll: »Nur Verlierer«, in: FAZ v. 7. 2. 2013

U. Schnabel: »Trauerspiel mit Überlänge«, in: Die Zeit v. 24. 1. 2013

M. Spiewak: »Nichts dazu gelernt«, in: Die Zeit v. 7. 2. 2013

M. Troni: »VroniPlag-Gründer lädt zur Plagiatsjagd«, in: Der Tagesspiegel v. 8. 2. 2013. www.tagesspiegel.de/medien/digitalewelt/doktortitel-vroniplag-gruender-laedt-zurplagiatsjagd/7756986.html (letzter Zugriff am 7. 3. 2013)