Heft 30 - Wolfert von Rahden: »Wir Europäer von übermorgen« – Nietzsches ideeller Gesamteuropäer Ein Gesamteuropäer ex negativo Nietzsche polarisiert, immer noch. Bereits unter seinen Zeitgenossen traf er einerseits bei einigen auf engagierte Zustimmung, anderseits jedoch bei der Mehrheit entweder auf Nicht-Beachtung oder auf vehemente Ablehnung. Als aufschlussreich und auch überraschend vermerkt der Chronist dabei nicht so sehr die schon damals übliche Kritik an der Denkfigur des »Übermenschen«, wohl aber die noch heftigere und heute kaum noch bekannte Polemik gegen das »undeutsche« Denken, das die Gemüter seinerzeit in großen Teilen des deutschsprachigen Raums weitaus stärker erregte: So erfuhren des Autors Auffassungen und sein Schreibstil wiederholt Schmähungen, sei’s als »französisch«, sei’s als »slawisch« oder »jüdisch« (1). Als der Zeitgeist den Nationalstaat verherrlichte, stilisierten zeitgenössische Kritiker Nietzsche zum Feindbild vom »Nicht-Deutschen«. Er erscheint in diesen Polemiken als Typus eines ›Gesamteuropäers ex negativo‹; er wurde vor allem deshalb strikt abgelehnt, weil er nationale, ›rassische‹ und ›völkische‹ Barrieren attackierte, und war deshalb nicht selten besonders aggressiven Angriffen ausgesetzt. Was wir den Alten verdanken »Was wir den Alten verdanken«: Diese Formel kehrt bei Nietzsche häufig wieder. Er meint damit vor allem herausragende Denker, Staatsmänner und Künstler der griechisch-römischen Antike sowie der Renaissance und der Aufklärung, aber im Prinzip aus allen Zeiten und Regionen des ›europäischen‹ Einzugsgebietes: Dazu gehören aus der klassischen griechischen Antike grosso modo die Mehrzahl der bekannten philosophischen, künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Persönlichkeiten (was bei einem Altphilologen auch nicht arg verwundert) (2); sodann Epikur, Lukrez, Horaz, Caesar, Cicero, der Staufer-Kaiser Friedrich II. (»der erste Europäer«), die provençalischen Troubadours (»die freigeistigen Ritter«), Leonardo und Michelangelo, Spinoza, die französischen Moralisten (hier besonders Montaigne, Pascal, Galiani und Chamfort) sowie Voltaire (aber nicht Rousseau), Beethoven, Byron, Heine, Dostojewski und vor allem Goethe (aber nicht Schiller und Herder) (3) – um einige zu nennen, die Nietzsche nennt. Der Philologe und Philosoph orientiert sich hier vorzugsweise an ›großen Geistern‹ der Geschichte – das trug ihm nicht selten den Vorwurf ein, er habe nur die ›Eliten‹, die ›exzellenten Köpfe‹ im Blick (zu seiner Zeit sprach man noch ungenierter vom ›Genius‹). Allerdings verblasst ein derartiger Vorwurf in Zeiten, in denen immer lauter der Ruf danach ertönt, dass ›exzellente Köpfe‹ in allen Bereichen der Gesellschaft notwendiger denn je seien, wenn man in Wissenschaft und Wirtschaft ›zukunftsfest‹ werden wolle. Antike, Renaissance, Aufklärung: Aus den Ideenarchiven dieser Vergangenheitsorte soll der Zukunftsort Europa schöpfen. Gleichwohl ist Nietzsches Sicht nicht bloß klassisch eurozentristisch verkürzt, sondern er wendet sich auch dem Anderen, dem Fremden, dem befremdlich Anmutenden zu: Neben dem topografisch Näheren wie nordischer Mythologie und vor allem frühgriechischem Dionysus-Kult richtet er den Blick unter anderem ebenfalls auf indische Mythen, den Islam und die Gedankenwelt Buddhas. Und seine bekannteste Figur Zarathustra schließlich entstammt dem Kulturkreis der alten Perser (4). Als weitaus weniger wertvoll schätzt Nietzsche allerdings das Christentum und seine Ideale ein: Laut seiner Zeitdiagnose in Jenseits von Gut und Böse und in der Genealogie der Moral haben die herkömmlichen moralischen Werte im Laufe der Geschichte ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Durch die »Verdoppelung« der Welt in ein Diesseits und in ein Jenseits seien die Prioritäten verkehrt worden, denn das Primat der »Hinterwelt« von Plato bis zum Christentum habe vor allem »lebensfeindliche« Wirkungen gezeitigt. Christlicher Asketismus gehe Hand in Hand mit Weltverneinung. Staat und Kirche hätten das Leben der Einzelnen unter Gesetzen und Moralvorschriften erstickt, zugleich aber eine Doppelmoral etabliert und dadurch sich selbst ausgehöhlt. So habe die christliche Moral schließlich den »europäischen Nihilismus« hervorgebracht. Die höchsten Werte hätten sich selbst entwertet und Heuchelei produziert – »moralische Tartüfferie«, wie Nietzsche es nennt. Der »gute Europäer« der Zukunft hat also die Bürde dieses Nihilismus abzuwerfen, kann sich aber gleichwohl auch auf die anfangs genannten positiven Denker und Traditionen berufen. Sänger, Ritter, Freigeist Nietzsches Rückgriff vornehmlich auf Ideen und Werte der Antike, Renaissance und Aufklärung sowie seine Kritik am jüdisch-christlichen Wertekanon muten indes nicht überraschend an, wohl aber die Erinnerung an eine andere Epoche: Es ist jene der provençalischen Kultur. Und – soweit ich sehe – ist Nietzsche wohl einer der ganz wenigen (neben Herder), der unter europäischer Perspektive den Blick auf diese Zeit lenkt. »Die Lieder des Prinzen Vogelfrei [...] erinnern ganz ausdrücklich an den provençalischen Begriff der ›gaya scienza‹, an jene Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist, mit der sich jene wunderbare Frühkultur der Provençalen gegen alle zweideutigen Culturen abhebt [...]«, schreibt Nietzsche in Ecce homo – Die fröhliche Wissenschaft (KSA 6, S. 333 f.). Und in einem Brief ersucht er seinen Verleger E. W. Fritzsch in Leipzig (7. August 1886, KGB III 5, S. 226) um eine Erweiterung des Titels für die Zweitauflage der Fröhliche[n] Wissenschaft; er wünsche den »Zusatz in Parenthese ›gai saber‹, damit man an den provençalischen Ursprung meines Titels und an jene Dichter-Ritter, die Troubadours erinnert wird, die mit jener Formel all ihr Können und Wollen zusammenfaßten«. Er nimmt die provençalische Kunst als Paradigma einer Gesamtkultur, die eine Einheit von Wissen, Kunst und einer bejahenden Lebensauffassung repräsentiert. Und dafür steht der Typus des »Dichter-Ritters«. Hier dient die provençalische Kultur mit dem »Freigeist« des Troubadours im Zentrum auch als ein alternativer Entwurf für Europa. An ihm wird die neuzeitliche Gesellschaft kritisch gemessen, deren Kultur – so Nietzsche – durch die herrschende »moralische Tartüfferie« zwiespältig und unglaubwürdig geworden sei. Und er ergänzt mit den aquitanischen Ritter-Idealen das antike Vorbild: Die griechisch-römische Antike sah das Individuum noch ganz eingebunden in die Polis oder in den Staat, betrachtete den Menschen als ›zóon politikón‹: ›Freiheit‹ (›eleutheria‹ oder ›autonomia‹ als ›innere‹ oder ›äußere Freiheit der Polis‹ bzw. die ›libertas‹ des ›civis Romanus‹) wurde in erster Linie nicht als individuelle, sondern als politische verstanden, die sich stets am Gemeinwesen ausrichtete. Am Troubadour hingegen faszinierte Nietzsche darüber hinausgehend jene freigeistige und mutige Haltung, in der das Individuum sich seiner selbst bewusst »auf eigene Faust« seinen Lebensstil entwirft. Die Geburt des modernen Europa entsteht aus dem Geiste der »gaya scienza« oder des »gai saber« (der »fröhlichen Wissenschaft«) – so ließe sich die entscheidende Idee pointieren, die der Argumentation zugrunde liegt. Genauer: Die Entstehung des neuen europäischen Geistes erfolgt zu Beginn des 12. Jahrhunderts richtungsweisend aus der Dichtkunst und erdichteten Lebensform der Troubadours. Im nachantiken Europa – in Ablösung des schon nicht mehr geläufigen Lateinischen – bildeten sie eine bereits verbreitete Volkssprache, das Okzitanische, weiter fort zu einer »Kunstsprache«. Diese Kunstsprache, »zum differenzierten Ausdruck von Gefühlen und Gedanken fähig«, entwickelte sich »weit über die fließenden Grenzen der Volkssprache hinaus zum allgemeinen Medium einer hochkomplexen Dichtungstradition«, wie Tilman Borsche darlegt (5). Vor allem jene zwei Züge dieser »frühen Europäer« greift Nietzsche emphatisch auf, in denen er die Geistesverwandtschaft zu erkennen glaubt zwischen dem Troubadour von einst (wie er ihn sieht) und dem Philosophen von heute (wie er ihn begreift). Zum einen geht es um die »Passion«: Den »Dichter-Rittern« – so schreibt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (210, KSA 5, S. 208) – verdanke das Abendland die »Liebe als Passion«, »unsere europäische Spezialität«, und diese Passion sieht er bewahrt in der »Leidenschaft der Erkenntnis«, die den Philosophen auszeichne, jedenfalls den Philosophen, der diesen Namen verdiene. Zum andern geht es um den »freien Geist« des Troubadours, in dem Nietzsche die Verwandtschaft zum Philosophen entdeckt: Der Freigeist folgt auch gegen alle gesellschaftliche Autorität seinem »individuellen Gesetz«, das ihm eine hohe Selbstverantwortlichkeit aufbürdet, die er mit allen Konsequenzen zu tragen bereit ist (6). Die Zeit der Troubadours währte, historisch gesehen, nur kurz (7) und Nietzsche stilisiert sie nostalgisch. Er macht keinen Hehl aus seiner Hochachtung für jene »prachtvollen erfinderischen Menschen des ›gai saber‹, denen Europa so Vieles und beinahe sich selbst verdankt« (Jenseits von Gut und Böse 260, KSA 5, S. 212, Hervorhebung von mir). Die »freigeistigen Ritter«, diese »Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit« (Die fröhliche Wissenschaft 377, KSA 3, S. 631), in deren Tradition sich Nietzsche begreift, waren – um es mit Borsche zu sagen – »selber ›heimatlose Europäer‹: heimatlos, weil ohne feste Position in der geografischen, sozialen, moralischen Ordnung ihrer Zeit; Europäer, weil das moderne Europa aus ihrem Geist entstanden ist. So jedenfalls sah es Herder, so sahen es die Romantiker, und so sieht es auch Nietzsche.« (8) Wenn der Historiograf einer Ideengeschichte die Anfänge einer positiven Werte-Orientierung für ein modernes Europa in dessen eigener Vergangenheit aufzuspüren sucht, so stößt er im Provençalischen zudem auf eine erstaunliche Besonderheit, die Nietzsche nicht erwähnt: die Trobairitz als das weibliche Pendant zum Trobador, wie die Bezeichnungen im Altokzitanischen lauteten. Frauen genossen in dieser Hinsicht also im Prinzip eine gewisse Gleichstellung, die indes nach Zerschlagung der provençalischen Ritterkultur ebenso rasch wieder verloren ging (9). Europäer der Zukunft? Aus der theoretischen Ein- und ethischen Wertschätzung des Freigeistes, der sich nicht scheut, dem Zeitgeist zu widerstehen, zog Nietzsche auch praktische Konsequenzen: So trat er etwa mit aller Entschiedenheit dem bekanntlich bereits zu seiner Zeit stark grassierenden Antisemitismus entgegen, und hier vor allem dem offenen Rassismus von Schwester und Schwager. Er kritisierte den »verlognen Rassen-Schwindel« (KSA 12, S. 205) aufs Allerschärfste und sah die Zukunft Europas jenseits aller ethnisch-›rassischen‹, nationalstaatlichen und konfessionellen Schranken. In diesem Kontext muss auch des Autors vielfach missverstandenes Bild vom »Übermenschen« gesehen werden. Denn der »Übermensch« ist sein »Gleichnis« vom zukünftigen Menschen, der den »furchtbaren« Gedanken vom Tode Gottes und der ewigen Wiederkehr des Gleichen auszuhalten vermag – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er meint also nicht das Konzept einer wie auch immer begründeten ›neuen Rasse‹ oder Verwandtes, sondern die »übermenschliche« Zumutung, dass der Mensch aus eigner Kraft und Verantwortung Werte zu setzen hat, wenn ›Gott‹ nicht mehr als Garant der herkömmlichen christlichen Werte oder als »Postulat der praktischen Vernunft« für das »Sittengesetz« (wie es Kant genannt hat) in Anspruch genommen werden kann (10). Nietzsche differenziert im Rückblick und im Ausblick: Er kritisiert in seiner Gegenwartsdiagnose den »schlechten«, den hässlichen Europäer seiner Zeit. Die nationalistischen, kriegstreibenden, kolonialistischen und moralisch heruntergekommenen europäischen Staaten hätten die Ideale verspielt, für welche die »guten« Europäer »von gestern und vorgestern« einstanden und an welche die »guten Europäer von übermorgen« anknüpfen müssten. Ihm geht es hier um eine intellektuelle, eine »freigeistige« Haltung – und letzten Endes um den Entwurf eines kosmopolitisch orientierten Individuums und um eine kulturelle Ausprägung, welche die Ressentiments staatlicher, religiös-konfessioneller und ethnischer Barrieren überwindet. Da er primär vom Individuum her denkt, hat er den politisch-organisatorischen Aspekt supranationaler Verbünde kaum im Blick, anders als etwa »der Chinese von Königsberg« – wie der »alles zermalmende Kant« (Moses Mendelssohn) von Nietzsche bisweilen tituliert wurde –, der in seiner Schrift Zum ewigen Frieden diese gesellschaftliche Seite der Probleme übernationaler Organisationsbildungen sehr wohl thematisiert. Nietzsches Plädoyer für das Individuum und seine Freiheiten, seine Verteidigung der individuellen Rechte gegenüber dem Staat, seine Warnung vor nationalistischer Kriegstreiberei und kolonialistischen Eroberungsstrategien, seine Kritik an den Massenideologien und ihren Führern, der »Heerde« und ihren »Vor-Ochsen«, sein Eintreten gegen heuchlerische Moral und religiöse Intoleranz waren zu seiner Zeit höchst unzeitgemäß – muten heute jedoch erstaunlich zeitgemäß an. Seine Forderung schließlich, die Grenzen des Nationalstaats zu überwinden, lässt zugleich die Idee von einem Zukunftsort Europa vorscheinen, die kaum an Aktualität eingebüßt hat. Der Entwurf des »ideellen Gesamteuropäers« – um eine Wortschöpfung eines berühmten Fast-Zeitgenossen von Nietzsche zu variieren – überschreitet regionale und temporale Grenzen: Er verkörpert eine übernationale Haltung (um nicht ›Gesinnung‹ zu sagen) und verknüpft Ideen von »vorgestern« mit jenen von »übermorgen«. Wie so oft, denkt Nietzsche auch im Blick auf »das Eine Europa« unzeitgemäß zeitgemäß. Die moderne Meistererzählung für Europa, wie von manchen gefordert, ist noch nicht erzählt (11). Sie kann jedoch – im Sinne Nietzsches – nicht von oben vorgegeben werden, sondern müsste sich von unten, von den einzelnen kreativen und schöpferischen Individuen her erfinden und herausbilden. Vielleicht wird dann dereinst von den »Europäern von übermorgen« dieses noch zu schaffende Narrativ als ein neuer verbindender europäischer Gründungsmythos erzählt werden? 1 Als Beispiele seien genannt: für den Vorwurf »französisch« vgl. E. v. Hartmann: »Nietzsche’s ›neue Moral‹« (in: ders.: Ethische Studien. Leipzig 1898, S. 64–65); für »slawisch«: J. Duboc: Jenseits vom Wirklichen. Eine Studie aus der Gegenwart (Dresden 1896, S. 143–144), sowie L. Stein: Friedrich Nietzsche’s Weltanschauung und ihre Gefahren. Ein kritischer Essay (Berlin 1893, S. 43); für »jüdisch«: Theodor Fritsch (alias Thomas Frey): »Der Antisemitismus im Spiegel eines ›Zukunftsphilosophen‹«, in: Antisemitische Correspondenz 20 (Dezember 1887, S. 15). 2 Nietzsches philosophische Wertschätzung umfasst hier zunächst und zumeist die vorsokratische Philosophie: Mit Sokrates und Platon, dessen »höherem Moral- und Idealschwindel« (KSA 13, S. 615), sieht er den Niedergang des klassischen griechischen Denkens eingeleitet: »Die eigentlichen Philosophen der Griechen sind die vor Sokrates.« (KSA 13, S. 288) Nietzsche (KSA und KGB) wird zitiert nach: F. Nietzsche (KSA): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von G. Colli und M. Montinari. München/Berlin/New York 1980, 15 Bde.; ders. (KGB): Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von G. Colli und M. Montinari. Berlin 1975 ff., bisher 23 Bde. Bei zitierten Begriffen oder Textpassagen werden doppelte Anführungs- zeichen nur dann gesetzt, wenn sie sich auf Belegstellen bei Nietzsche beziehen, es sei denn, ein anderer Autor wird explizit genannt; in allen übrigen Fällen werden einfache Anführungsstriche verwendet. 3 Vgl. hierzu W. v. Rahden: »›Nie wirklich satt und froh ...‹ – Nietzsches Herder«, in: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur – Early and Late Herder: Continuity and/or Correction. Hg. von S. Groß und G. Sauder. Heidelberg 2007, S. 459–477, sowie ders.: »›Ächte Weimaraner‹. Zur Genealogie eines Genealogen«, in: Ein groß vnnd narhafft haffen. Hg. von E. Berner, M. Böhm und A. Voeste. Potsdam 2005, S. 43–54 (opus.kobv.de/ubp/volltexte/2006/990/pdf/rahden.pdf). 4 Zum Thema ›Nietzsche und Europa‹ allgemein sei vor allem verwiesen auf die Monografie von R. Witzler (Europa im Denken Nietzsches. Würzburg 2001) sowie die Beiträge in Nietzscheforschung (Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa), Bd. 14 (2007). 5 T. Borsche: »Vom romantischen Traum einer fröhlichen Wissenschaft. Nostradamus, Nietzsche und die Inquisition«, in: Nietzsche-Studien 23 (1994),
S. 175–199, hier S. 177 6 Das Paradoxon vom »individuellen Gesetz« wird ausführlicher erörtert in
W. v. Rahden: »Individual Law. On Some Aspects of Nietzsche’s Juridical and Aesthetic Discourse«, in: Cardozo Law Review – Symposium: Nietzsche and Legal Theory (Yeshiva University New York), vol. 24/2 (January 2003), S. 723–737. 7 Etwa von Beginn des 12. Jahrhunderts bis Ende des 13. Jahrhunderts. Als mutmaßlich erster Troubadour gilt Guilhem (Guillaume) IX., ›le troubadour d’Aquitaine‹ (1071–1126), als letzter Guiraud Riquier (um 1230–1292) – der einzige unter ihnen, der seine Gedichte datiert hat und der ein »doctor de trobar« sein wollte (R. Lafont und C. Anatole: Nouvelle Histoire de la Littérature occitane. Paris 1970, S. 141, zit. nach T. Borsche: »Vom romantischen Traum einer fröhlichen Wissen- schaft«, a. a. O., S. 186). Auch wenn Nietzsche aus heutiger Sicht allzu romantisch idealisieren mag, öffnet er gleichwohl die Sicht auf jene freigeistige Lebensform, die durch die Inquisition mit Ingrimm und allen Mitteln bekämpft und zerstört wurde. Papst Innozenz III. hatte 1208 zum »Kreuzzug gegen die Provence« aufgerufen und Gregor IX. die Inquisition in den Jahren 1231 bis 1233 mehrfach als päpstliche Institution autorisiert, die den durch Honorius III. 1216 als Orden bestätigten Dominikanern übertragen wurde (›Domini canes‹ – ›die Hunde des Herrn‹), und 1252 schließlich legalisierte Innozenz IV. in der berüchtigten Bulle ›Ad extirpanda‹ die Folter für innerkirchliche Verfahren. Der Kampf galt den provençalischen freigeistigen Strömungen, vor allem den Katharern (›Ketzern‹), auch als Albigenser bekannt, und den Waldensern. Und in den Sog dieses Vernichtungsfeldzuges geriet auch die okzi- tanische Ritterkultur und wurde schließlich ausgelöscht. Zu den Anfängen und der Ausweitung der Inquisition sowie ihrer Normierung durch die von den Dominikaner- patres Sprenger und Institoris 1487 herausgegebene Schrift Malleus Maleficarum (Der Hexenhammer), mit deren Hilfe eine fragselige, wiewohl harthörige (in der Sprache der Inquisition: ›hochnotpeinliche‹) Untersuchungsstrategie durch Verhör und Folter etabliert wurde, vgl. genauer W. v. Rahden: »Orte des Bösen. Aufstieg und Fall des dämonologischen Dispositivs«, in: ders. und A. Schuller (Hg.): Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen. Berlin 1993, S. 26–54, hier bes.: S. 26–40. 8 So T. Borsche (»Vom romantischen Traum einer fröhlichen Wissenschaft«, a. a. O., S. 176 f.) in seiner Untersuchung der historischen Dimension des Begriffs einer »fröhlichen Wissenschaft«; dazu auch W. v. Rahden: »›Nie wirklich satt und froh ...‹ – Nietzsches Herder«, a. a. O., S. 465–468 9 Vgl. A. Rieger: Trobairitz. Der Beitrag der Frau in der altokzitanischen höfischen Lyrik. Edition des Gesamtkorpus. Tübingen 1991
10 Hierzu detaillierter W. v. Rahden: »›Einen tanzenden Stern gebären‹. Nietzsches ewige Niederkunft des Neuen«, in: W. Sohst (Hg.): Die Figur des Neuen. Berlin 2008, S. 271–304 11 In eine solche Richtung zielt eine Initiative der Europäischen Kommission, wenn sie eine Debatte über die Zukunft Europas anregen will, mit der sie »Künstler, Intellektuelle, Wissenschaftler und alle Bürger« dazu aufruft, Beiträge zu einem »neuen Narrativ für Europa« zu verfassen; ec.europa.eu/debate-future- europe/new-narrative/more_eu.htm (letzter Zugriff am 9. 9. 2013). | |