Heft 30: EUropa: Utopie, Eutopie, Dystopie Einführung und Dokumentation Europa befindet sich im Umbruch. Angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise wird der ›Zukunftsort‹ zunehmend zur Projektionsfläche von Ängsten und Sorgen und von vielen eher als ein Ort der Bedrohung denn der Hoffnung wahrgenommen. Nicht mehr, sondern weniger Europa steht bei einer Reihe europäischer Parteiungen auf der politischen Tagesordnung – so hat das Thema trotz seiner immensen Bedeutung im deutschen Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Tendenzen zur Renationalisierung – welche die europäische Einigung seit ihrem Beginn begleiten – werden von den ökonomischen Ungleichgewichten gefährlich genährt. Ein entscheidendes Defizit besteht darin, dass es noch immer keine gesamteuropäische Öffentlichkeit gibt.* Die Vielfalt der Sprachen und Kulturen, die es ja auch zu erhalten gilt, erweist sich im Falle der Krise als ein Hindernis für die Ausbildung eines gesamteuropäischen Bewusstseins, das auch die Verantwortung für das Ganze – für das ›Projekt Europa‹ – anzunehmen bereit wäre. Verstärkte kulturelle, wissenschaftliche sowie sprachliche Bildung und Zusammenarbeit könnten hier eine Brücke schaffen zwischen den einzelnen europäischen Staaten, um den Rückfall in nationale und nationalistische Stereotype zu erschweren. Unter dem Druck der Schuldenkrise zu mehr Europa zu kommen erscheint schwierig, aber notwendig. Dabei stellt sich die Frage, ob einer vorschnellen Kopie, nämlich der Errichtung der ›Vereinigten Staaten von Europa‹, nicht die schrittweise Entwicklung eines originären Konzepts für ein geeintes Europa vorzuziehen wäre. Denn eine Leit-Idee für ein gemeinsames Projekt Europa wäre der Weg, auf dem die Bürger zu einer europäischen Identität gelangen könnten. Heute denken sie vermutlich, wenn es um ihren Kontinent geht, an Sparzwänge und Glühbirnenverordnungen, und das ist nicht nur bedauerlich, sondern könnte in eine dystopisch verschattete Zukunft führen. Die junge Europa wurde – wie der Mythos erzählt – von Zeus in Gestalt eines Stieres ver- und entführt. In der gegenwärtigen Krise sollte Europa, mittlerweile in die Jahre gekommen, sich auf die eigenen Stärken besinnen und sich nicht noch einmal von einem Stier – nunmehr möglicherweise in Gestalt des Wall-Street-Bullen – entführen lassen. Stattdessen gälte es, mit einer umsichtigen Politik den eigenen Weg zu bestimmen. Die Reduktion Europas auf einen bloß ökonomisch verstandenen Zusammenschluss zeitigt fatale Wirkungen. Neben den finanzökonomischen Fragen, die derzeit alles andere in den Hintergrund drängen und einer Beantwortung harren, wäre es vonnöten, vor allem Forschung, Wissenschaft und Bildung gemeinsam zu entwickeln. Insbesondere muss Europa das Problem einer Generation ohne Perspektiven lösen, jenes brachliegende Potenzial ausschöpfen und fördern, das es sträflich vernachlässigt: die heranwachsende Jugend seiner Nationen. Auch hier kann nur Bildung der Schlüssel sein. Europas Chancen innerhalb einer globalisierten Welt liegen, ganz in der Tradition der erhaltenswerten, der aufklärerischen Seite seiner Geschichte, auf dem Gebiet der Kultur, der Wissenschaft und der nachhaltigen Technik. Europa, der Kontinent ohne diskrete räumliche Grenzen, dessen Namensgeberin, eine phönikische Prinzessin, heute eine ›Fremde‹ wäre, musste zu allen Zeiten seine Identität immer wieder neu finden und erfinden. Was diesen Kontinent ausmacht, wird nicht durch natürliche Gegebenheiten, sondern durch menschliche bestimmt. Waren dies vordem hauptsächlich Gewalt und Krieg, so bleibt zu hoffen, dass heute künstliche und künstlerische Entwürfe Europas Physiognomie zu prägen beginnen. Zu wünschen wäre eine europäische Allianz von Wissenschaft und Kunst, die ihr kreatives Potenzial auf die möglichen Formen der Integration richtet und länderübergreifend das Projekt Europa verfolgt und weiterentwickelt. So könnte ein Zukunftsort Europa geschaffen werden, der von seinen Bewohnern auch angenommen wird. Denn eins scheint gewiss: Ein Europa ohne Europäer wäre zum Scheitern verurteilt. Wolfert von Rahden * Die »Chancenstruktur einer europäischen Öffentlichkeit« wird näher erörtert als Themenschwerpunkt im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Heft 3 (September 2013); darin zur aktuellen Bedeutung von Zeitschriften im Allgemeinen und den Gegenworten im Besonderen siehe W. v. Rahden: „Gegenworte? – Gegenworte!“, S. 50–53. | |