Heft 30 - Christian Meier im Gespräch mit Wolfert von Rahden: »Und mit der Demokratie steht im Grunde alles auf dem Kopf« Gegenworte: Europa ist als Thema in aller Munde: Europa in der Krise, auch in der Orientierungskrise. Da sticht natürlich der Untertitel Ihres Buches ins Auge: »Griechische Anfänge – Anfang Europas?« Sie haben es zwar mit einem Fragezeichen versehen, aber vielleicht könnten dort auch drei Pünktchen stehen oder gar ein Ausrufezeichen – handelt es sich hier um eine offene oder eine rhetorische Frage? Wie würden Sie den Bezug herstellen zwischen den Anfängen Griechenlands und den Anfängen Europas? Meier: Ich bin engagiert, um für eine vierbändige Geschichte Europas den ersten Band über die Antike zu schreiben. Da stehe ich vor den Fragen »Was ist Europa?« und »Wie kommt es dazu?«. Insbesondere aber auch »Gehören die Griechen und/oder die Römer zu Europa?«, oder anders gefragt: »Ist deren Geschichte die Vor- oder die Frühgeschichte Europas?« Ich würde sagen, es handelt sich um die Frühgeschichte, aber beweisen lässt sich das nicht. Das Fragezeichen war daher schon ehrlich gemeint. Ich glaube, wenn man auf die Weltgeschichte sieht, fängt mit den Griechen wirklich etwas ganz Neues an, und das führt dann über Rom, das Christentum, zumal die Theologie, ins mittelalterliche und dann vor allem ins Renaissance-Europa. Das ist die These. So kann man sie als Historiker formulieren. Man kann das aber auch rückwärts tun: Der französische Philosoph Rémi Brague meint, dass es sich hier um eine umgekehrte Bewegung handelt, eine »adoption inverse«, Europa habe diese Griechen als Vorfahren adoptiert. Sie skizzieren deskriptiv die historische Genealogie – lassen Sie uns die Frage normativ verschärfen: Was hat die Antike dem heutigen Europa noch zu sagen? Meier: Dem »heutigen« Europa? Das ist eine ganz andere Frage. Meine Frage galt dem Europa, das eine großartige Kultur war, das ist es ja heute nicht mehr. Was ich von der Antike her sagen will, ist, dass soweit überhaupt Hochkulturen gebildet worden sind, sie immer nach kurzen Übergangsphasen monarchisch und meistens auch priesterlich geprägt sind und beides zusammen die Gesellschaft geformt hat. Oder wenn Sie es schlagwortartig haben wollen: die Gesellschaft in einer gewissen Unselbständigkeit und Enge gehalten, vielerlei Denk- und Handlungsmöglichkeiten einfach blockiert hat. Bei den Griechen passiert das nicht, weil Monarchen zwar anfangs da sind, aber nichts Prägendes haben. Und damit bleibt der Freiraum, und vor allem kann das Gemeinwesen eine Sache aller Bürger sein. Es kann sich nicht in einer Person wie in einem König versammeln, sondern die Bürger tun sich zusammen, eigenständig, frei und gestalten dann gemeinsam ihre Polis. Das ist für sich genommen vielleicht noch nicht aufregend. Dann aber erleiden sie eine schwere Krise, geraten unter starke Einflüsse vom Orient her, und es geschieht das Außerordentliche: Monarchen können ihnen auch dann nicht auf die Dauer helfen. Sie können also ihre Eigenart bewahren, durch orientalische Anregungen bereichert. Und dann können sie es mit dem Orient aufnehmen. Kurz darauf entsteht die Extremform dieses freien Gemeinwesens, die Demokratie. Und mit der Demokratie steht im Grunde alles auf dem Kopf. Von da an tun sich die Fragen auf, die man anderswo nicht stellen konnte. Etwa nach ›nomos‹ und ›physis‹, also Recht und Natur. Was ist eigentlich Recht? Gesetzes- Recht gibt es natürlich, aber ist das auch wirklich Recht? Und woher weiß man, was Recht ist? Es gibt ja keine Instanz – keinen Monarchen, keine Priester –, denen man das einfach abnehmen kann. Also muss man suchen, was nicht menschliche Willkür, sondern naturgegeben ist. Aber in der Natur finden Sie auf der einen Seite die Gleichheit, die behauptet wird, auf der anderen Seite den Löwen, der fragt: »Was hat mir denn der Hase zu sagen?« Und schon sind Sie wieder auf dem Trockenen, und so geht es weiter bis zu Platon. Zwar halte ich die platonische Philosophie ihrem Inhalt nach für nicht gerade sehr förderlich für die Geschichte Europas zur Demokratie – die Fragen aber, die Platon stellt, und die Art und Weise, wie er sie stellt, sind ohne Parallele. Sie öffnen Riesenräume für ein freies Denken, das dann immer weitergetrieben wird. Vor allem heute, wo aus der Krise Europas vielleicht etwas Neues entsteht, bietet die griechische Antike da eine Orientierung? Die Staaten Europas leben immerhin ohne Krieg zusammen, sie versuchen, sich demokratisch zusammenzuschließen – eigentlich ein wunderbares Projekt. Und wäre nicht gerade hier die Antike ein Vorbild? Meier: Nein, ganz und gar nicht, weil diese griechischen Poleis sich untereinander ständig bekriegt haben. Ein Vorbild wären die Römer, die die ganze Mittelmeerwelt mit ihrer Pax Romana überzogen haben. Übrigens auch insofern, als der römische Bürger dem EU-Bürger am ehesten entspricht. Er hat politisch fast nichts zu sagen, aber er hat Rechte, Freiheitsrechte, Sicherheiten, was die EU zeitgemäß durch Konsumentenrechte ergänzt hat. Denn sie sorgt ja zum Beispiel dafür, dass wir mit dem Mobiltelefon billiger telefonieren können. Wenn wir dagegen griechische Polis-Bürger wären, wären die Probleme noch größer, als sie jetzt mit der Schuldenkrise sind, denn der griechische Bürger will mitsprechen, mitentscheiden über das, was geschehen soll. Und wie wollen Sie das in Europa hinbekommen? Kann man es nicht als eine Ironie der Geschichte sehen, dass sich zum einen wiederholt in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche Revolutionäre auf die Antike mit ihrem Freiheitsbegriff berufen haben, zum andern aber zugleich ebenso engagierte Distanzierungen gegenüber der Antike zu vernehmen sind? Denken wir etwa an die Französische Revolution: Zunächst wurde die Antike von vielen als Ideal gepriesen, später jedoch mehrten sich unüberhörbar die Stimmen, welche die Distanzierung vom ›antiken Vorbild‹ forderten. Man erinnere sich zum Beispiel an die Kritik des antiken Freiheitsbegriffs durch Benjamin Constant in seiner viel diskutierten Rede von 1819 (»De la liberté des anciens compareé à celle des modernes«). Wie erklären Sie sich diese widersprüchliche »adoption inverse« der Antike? Meier: Ganz einfach. Da ist auf der einen Seite die Überlegenheit und Vorbildhaftigkeit, auch der Reiz der antiken Hinterlassenschaft in Literatur, Plastik, Baukunst, Philosophie, Recht, großartigen Gestalten und Ereignissen (übrigens gemeinsam für ganz Europa), die man in Anspruch nehmen kann, in mancher Hinsicht alternativ zum Christentum, auf der anderen Seite die Vielfalt der Positionen, die man mit ihrer Hilfe einnehmen kann – in Auseinandersetzung mit anderen. So kommt es dazu, dass man, wenn man Gegenwärtiges, Herkömmliches überwinden will, auf das Alte zurückgreift. Politisch extrem in der Französischen Revolution, dort wesentlich in Bezug auf Rom und dann auf Sparta: Da tragen sie zum Beispiel diese Freiheitsmütze, und Babeuf nennt sich ›Gracchus‹ und dergleichen. Und nachdem all die Gräueltaten geschehen waren – gerade der Abschreckendste, Robespierre, berief sich ja ausdrücklich auf die spartanischen Tugenden –, da musste man sich auch von den Vorbildern der Revolution absetzen. Das tut Benjamin Constant. In der französischen Altertumswissenschaft wirkt das bis heute nach. Übrigens setzt Constant Athen ausdrücklich gegen Sparta und die anderen Griechen ab. Bleiben wir doch bei dem Begriff der ›Freiheit‹, der ja auch in Ihrem Buch Kultur, um der Freiheit willen ganz zentral ist. Vielleicht sollten wir da noch einmal versuchen, etwas zu differenzieren. Was ist der antike Freiheitsbegriff, was ist der moderne Freiheitsbegriff? Wenn wir vom antiken Freiheitsbegriff, und zwar dem Athens, ausgehen, dann ist der ja auch sehr exklusiv oder defizitär: So umfasst er bekanntlich weder die Sklaven noch die Frauen. Das heißt, er grenzt im Grunde die Mehrheit aus. Was wäre daran Vorbild? Oder von den griechischen Begriffen her gefragt: Wäre eher ›autonomia‹ oder ›eleutheria‹ gemeint? Was würde griechisch auf Ihrem Buchtitel stehen? Meier: ›Eleutheria‹ natürlich. Man konnte zwar auch Menschen, die nach eigenem Gesetz leben, ›autonom‹ nennen – zum ersten Mal begegnet uns das Wort in diesem Sinn bei Sophokles, für Antigone –‚ aber im Wesentlichen bezieht sich ›autonomia‹ auf die innere Freiheit der Stadt, deren Freiheit eben, nach eigenen Gesetzen zu leben. Die Freiheit der Griechen ist ihre ›Eigenständigkeit‹. Man ist selbständig, man ist sein eigener Herr, man hat sein Gut, unter Umständen noch seine Sklaven, und insofern ist man der Herr seiner selbst. Und innerhalb des Gemeinwesens ist man Freier unter Freien, ganz unmittelbar, ganz konkret, möglichst ohne Zwischenschaltung anderer Instanzen. Das heißt, man ist weit entfernt vom Staat und all seinen ›eigenmächtigen‹ Institutionen. Denen kann man (im neuzeitlichen Europa) Freiheitsrechte abtrotzen. Die Griechen aber können zwar dem Einzelnen vielerlei Rechte sichern, aber da sie alle zusammen die Polis sind, nehmen sie sich immer wieder sehr weitgehend gegenseitig in Anspruch, und das heißt: Indem sie frei sind und ihre Freiheit behaupten müssen, beschränken sie sich immer wieder in ihrer Freiheit. Griechische Freiheit ist mit viel größeren Risiken verbunden. Der Begriff der Freiheit bildet sich in den verschiedenen Kulturen und Völkern ja sehr unterschiedlich aus. Es wäre interessant, hier einen Vergleich zwischen Griechen und Römern anzustellen: Nicht zufällig ist die Rechtswissenschaft als einzige der alten Wissenschaften nicht von den Griechen ausgebildet worden, sondern die einzige gewesen, die die Römer ausgebildet haben – im Rahmen einer Ordnung, die auf strikter Disziplin, aber nicht auf Unterwerfung beruhte und dabei das Recht des Einzelnen möglichst weitgehend objektivieren wollte. Würde sich denn der Freiheitsbegriff nur auf Athen beziehen? Immerhin zog Sparta im Peloponnesischen Krieg mit den Schlachtruf ›Freiheit‹ gegen Athen und konnte andere Poleis hinter sich versammeln. Meier: Nein, die Parole hieß ›Autonomie‹ – man verlangte die Freiheit der Städte von Athen, das im Bund gegen die Perser eine Herrschaft errichtet hatte. Bei Thukydides nennt Perikles das geradezu eine »Tyrannis«: »Wir üben eine Tyrannis über die anderen Griechen aus.« Freiheit im Innern und Herrschaft nach außen kombinierten sich, und das hing auch miteinander zusammen, denn dass das ganze Gemeinwesen sich derartig frei seiner Politik hingeben konnte, hing natürlich auch daran, dass sie diese ganz intensive Außen- und Flottenpolitik betrieben haben. Mit der Flotte war die unterste Schicht, die die Ruderer stellte, auf einmal mächtig, auch politisch. Denn es gab immer einen Zusammenhang zwischen dem, was man militärisch bedeutete, und dem, was man politisch vermochte. Zuvor war der locker, die Bauern waren längst am Krieg beteiligt, bevor sie auch mehr Rechte – die frühe Form der ›Isonomie‹ – bekamen. Aber in Athen im 5. Jahrhundert geht es schlagartig: Der Krieg braucht die Ruderer – und zehn, 15 Jahre später ist die Demokratie da. Über das Ideal der Freiheit haben wir gesprochen – aber wie steht es um andere orientierungsleitende Ideale, die ebenfalls für uns heute Vorbildwirkung haben und die auch als prägend für ein gemeinsames Fundament Europas gelten, wie ›Gleichheit‹ und ›Gerechtigkeit‹. In welchem Verhältnis sehen Sie diese Ideale zu dem der Freiheit in der Antike? Meier: Bei Aristoteles heißt es, die Demokratie sei durch Freiheit gekennzeichnet, nicht durch Gleichheit. Und genau genommen ist es richtig, dass das Merkmal, aufgrund dessen man volle bürgerliche Rechte in der Demokratie hat, die Freiheit ist. In der Oligarchie ist es das Vermögen: Wer kein Geld hat, gehört nicht zu den Oligarchen. In der Demokratie gehört jeder Bürger dazu, der frei ist. Auf diese Weise sind – als Freie – alle Bürger in der Demokratie sich gleich, denn alle sind Mitglieder der Bürgerschaft. Es kann Unterschiede geben, weil bestimmte Dinge ein Vermögen voraussetzen. Wenn man – so wie Perikles – als Stratege eine große politische Rolle spielen wollte, musste man frei von materiellen Sorgen sein. Gleichheit spielt bei den Griechen, was in dem Wort ›Isonomie‹ zum Ausdruck kommt, relativ früh eine große Rolle. Isonomie ist ja vor dem Begriff der ›Demokratie‹ da, und dem geht ein anderer Ausdruck voraus, der ›Eunomie‹ heißt. ›Eunomie‹ ist, wenn man ganz einfach übersetzen will, die ›Wohlordnung‹. Für mein Empfinden wird in diesen Begriff der Wohlordnung das ›Iso‹ hineinprojiziert, und dann ergibt sich die ›Gleichordnung‹: Breite Schichten fordern Gleichheit gegenüber dem Adel, der bis dahin die Ämter monopolisiert und die politischen Rechte der anderen eingeschränkt hat. Die das verlangen, sind, mit antikem Ausdruck gesagt, die ›Mittleren‹, die Leute mittleren Vermögens, also grob gesagt, vor allem die Bauern. Und so kommt es über die Mittleren zu einer Beteiligung breiterer Schichten, und dann plötzlich um 460 v. Chr. taucht der Ausdruck ›Demokratie‹ auf. Wird denn in dem Zusammenhang der Begriff der ›Gerechtigkeit‹ überhaupt thematisiert?
Meier: Gerechtigkeit spielt eine große Rolle, schon in der frühen Zeit. Denn das ist es, was man bei vielen Adligen vermisst und was man fordert. Die Legitimität adliger Führung hat erheblich darunter gelitten, dass sie von ihrer (griechischen) Freiheit einen allzu willkürlichen Gebrauch gemacht hatten. Im alten Rom dagegen ist ›Gerechtigkeit‹ nicht zum Problem geworden, bevor sie – gegenüber den Provinzialen – aktuell wurde. Indem breitere Schichten in diversen Griechenstädten – gegen die ungerechte Herrschaft der Adligen – Rechte auf effektive Mitsprache anstreben, ist die Forderung nach Gerechtigkeit eine wesentliche Triebkraft auf dem Weg zur Isonomie, der dann zur Demokratie führt. Der Begriff der ›Mittleren‹ kommt von Aristoteles? Meier: Nein, es gibt den Begriff schon früher, er ist bereits im
6. Jahrhundert v. Chr. bezeugt und meint wohl ursprünglich die neutrale Gruppe bei Parteistreitigkeiten. Wer sich bei Konflikten weder auf der Seite der Reichen noch auf jener der Armen befindet, ist ein ›Mittlerer‹, egal, wie es um seine Vermögensverhältnisse bestellt ist. Für Aristoteles ist der Begriff der ›Mittleren‹ dann durch die Vermögensverhältnisse bestimmt, gemeint ist dann jemand von mittlerem Vermögen. Diese Gruppe ist für Aristoteles besonders gut, weil sie nicht wie die Armen ständig den Reichen etwas wegnehmen will, aber auch nicht wie die Reichen von der Gier besessen ist. Das Wort ›Gier‹ dort einzubringen wäre nicht falsch: Die Reichen wollen immer reicher werden. Die Mittleren dagegen sind mit ihrer Lage zufrieden, deswegen sind sie die besten Bürger. Das ergänzt sich mit anderen Auffassungen des Aristoteles, bei denen das rechte Maß eine große Rolle spielt. Ein spannender Aspekt in der antiken griechischen Welt ist die Ausbildung dieses vielseitig interessierten Typus, der überall der Erste sein möchte. Die Spiele in Olympia beginnen schon vor 700 v. Chr. Bei den Dionysien gab es jährlich den Wettstreit der Dichter, ebenso bei den Lenäen. Der Wettstreit war anscheinend allgegenwärtig. Ein Blick auf die heutige Gesellschaft lässt vermuten, dass vielleicht eher noch als der Freiheitsbegriff die Vorstellung des ›Agonalen‹, des ständigen Wettbewerbs, unser Denken und Handeln bestimmt. Wenn man die Bedeutung des Sports bedenkt oder das Ranking allerorten: Bildet das Agonale nicht einen zentralen Anknüpfungspunkt an die Antike, und zwar möglicherweise einen ›realeren‹ als der Freiheitsbegriff? Eine äußerst wirkmächtige Verknüpfung der Idee des Agonalen mit jener der Freiheit zeigt sich ja im Übrigen in Gestalt der ökonomischen Maxime von der ›Freiheit des Wettbewerbs‹ ... Meier: Ich würde sagen, dass die Freiheit wahrscheinlich selbstverständlich geworden ist, denn wenn man sie den Menschen nähme, dächten sie wahrscheinlich anders. Was das Agonale angeht: Ganz sicher ist es etwas spezifisch Griechisches. Nicht schlechthin, denn Wettbewerb, auch Sport, kommt ebenso an vielen anderen Stellen vor. Spezifisch für die Griechen könnte aber sehr wohl das Ausmaß gewesen sein, auch die Zahl der Bereiche, in dem und in denen sie sich dem Wettbewerb hingaben. Vielleicht auch die Art und Weise, in der er im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, etwa in den großen ›internationalen‹ Spielen. Auch religiöse Feste bestanden vielfach im Austrag von Wettbewerben. Vor allem aber ist eins zu nennen: In der Akzentuierung persönlichen Ehrgeizes haben die Griechen sehr viel mehr Wert darauf gelegt, Erste zu sein, als Macht und Einfluss zu gewinnen. Sonst hätte es nicht bei den kleinen Poleis bleiben können. Ein Ranking haben die Griechen übrigens nicht gehabt, der Zweite wird nicht festgestellt. Es geht immer nur um den ersten Platz – wobei man aus Angst vor Bestechung der Schiedsrichter ein kompliziertes Verfahren entwickelt hat. Nehmen Sie zum Beispiel den Wettbewerb der drei Tragiker in Athen bei den Dionysien: Die attische Bürgerschaft war in zehn Phylen gegliedert, und aus jeder Phyle nahm man einen Richter; anschließend wurden aber durch das Los fünf wieder ausgeschieden, damit sich hinterher nicht berechnen ließ, wer für wen gestimmt hat. Überhaupt erdachte man raffinierteste Verfahren für Wettbewerbe. So wurde zum Beispiel festgestellt, wer der beste Bildhauer ist, und später übertrug man die Methode auf den besten Feldherrn im Perserkrieg: Man versammelte die Besten, und jeder bekam zwei Stimmen. Man setzte voraus, dass sich alle selbst für den Besten hielten, aber die zweite Stimme mussten sie einem andern geben. So wurde Themistokles zum besten der Strategen gewählt. Übrigens liegt hier noch ein Zeichen für die Bedeutung des Agonalen bei den Griechen. Thematisch schließt sich da der Kreis zu unserer Anfangsfrage: Was können wir heute noch von den Alten lernen? Muss man konstatieren, die Konstruktion dieser Gemeinschaft sei so anders gewesen, dass sie uns Heutigen nichts mehr zu bieten hat? Wie wäre es denn zum Beispiel mit einer Rückbesinnung auf die grundlegend politisch-gesellschaftliche Dimension des Freiheitskonzepts der Antike? Könnten die gegenwärtig häufig beklagten Defizite der modernen Auffassung von Freiheit als ›bloß individueller‹ hier nicht eine sinnvolle Ergänzung erfahren, indem man die Verantwortung für das gesellschaftlich Ganze in Erinnerung ruft? Oder in Hinsicht auf bestimmte praktisch-politische Regelungen: Gäbe es nicht auch da Elemente in den demokratischen Verfahrensweisen Athens, die auch Europa guttäten? Man denke zum Beispiel an die starken plebiszitären Momente, das vielfach geübte Rotationsprinzip, das Losverfahren ...
Meier: Ich glaube, das geht nicht. Womit ich nicht ausschließen will, dass man sich durch das Studium dieser Dinge anregen lässt, beim Los etwa. Im 18. Jahrhundert hat Isaak Iselin in Basel, einer der großen Denker der Zeit, zum Beispiel vorgeschlagen, bei Universitätsprofessuren zu losen. Da alle gleich schlecht seien, könne man auch losen. Und das Losen wäre natürlich ein enormer Zeitgewinn, weil sämtliche Wahlverfahren wegfallen. Das Los macht Argumente überflüssig, also brauchen Sie die auch gar nicht erst auszutauschen. Aber hier würde ich sagen: Das Verfahren hat zwar viele Vorzüge, aber ich hänge an Argumenten, und ich hänge an Gegensätzen, wie sie zwischen Parteien entstehen können – was wir heute ja kaum mehr haben. Die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre waren bestimmt dadurch, dass wirklich auch Argumente vorgebracht wurden und man in gewissem Umfang voneinander gelernt hat, die Situation klar wurde. Aber heute? Die künftige Gestaltung Europas ist eine Lebensfrage, und dann müsste man eigentlich zwei Gruppen haben. Die einen müssten sagen: »Wir wollen das so«, und die anderen: »Wir wollen das aber so.« Stattdessen rennen alle in die gleiche Richtung, und ich fürchte, es ist die falsche. Zum Abschluss eine Frage, die sich dem Leser Ihrer Schriften aufdrängt, den Sie auf Ihre Reise in die Antike einladen und der Ihnen von Beginn an unverhohlen gebannt folgt. Sie haben einen Stil, eine Methode der Erzählung, die unter Historikern nicht allzu häufig vorkommt: Man geht gemeinsam auf den Weg, stellt Fragen, denkt nach ... Haben Sie da ein Vorbild? Wie kamen Sie auf diese sehr eigene Art, Geschichte zu schreiben? Meier: Ich kann Ihnen Ansätze dazu nennen. Einerseits bin ich stark umgetrieben von Fragen – Fragen, die häufig aus der Gegenwart kommen oder mindestens von der Gegenwart angeregt sind. Daraus kann eine intellektuelle Spannung entstehen. Andererseits habe ich mir früh angewöhnt, mich nicht übermäßig viel um den Fachdiskurs zu kümmern. Das gibt ein anderes Verhältnis zum Adressatenpublikum. Ich habe beim Schreiben nicht meine Kollegen im Auge, sondern immer die Sache, in all ihrer Komplexität. Und ich nehme immer neue Anläufe. Wenn ein Buch 400 Seiten hat, habe ich vorher einige Tausend geschrieben. Und ich denke an sehr anspruchsvolle Leser. Beim ständigen Korrigieren reichert sich auch der Wortschatz an. Meine These ist ja, dass gute Historiographie ein literarisches Genus ist. Außerdem hatte ich einen wundervollen Mentor: Wolf Jobst Siedler. | |