Heft 30 - Günter Stock: Europa: Wissenschaftliche Perspektiven Als Ralf Dahrendorf in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Idee eines europäischen Forschungsraumes formulierte, war dies ein Anstoß, der bis heute fortwirkt. Zunächst gab es eine längere Phase, während derer die Idee – jedenfalls öffentlich – nicht weiterverfolgt wurde. Aber im Jahre 1984 kam es dann mit der Einführung der mehrjährigen Rahmenprogramme für Forschung und technologische Entwicklung durch die Europäische Kommission tatsächlich zu ersten Maßnahmen in den Schlüsselbereichen der medizinischen, ökologischen, industriellen oder sozioökonomischen Forschung. Heute sprechen wir fast selbstverständlich vom ›Europäischen Forschungsraum‹, und dabei geht es vor allem um die Frage, wie wir diesen Forschungsraum weiter ausgestalten – eine Frage, die sich insbesondere bei der Implementierung des neuen EU-Rahmenprogramms für Forschung und Innovation, »Horizon 2020«, deutlich manifestiert. Es ist unverkennbar, dass die Europäische Union in ihrer Gesamtheit Forschung und Wissenschaft vorrangig unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen betrachtet, um damit auch den Aspekt der internationalen Kompetitionsfähigkeit der europäischen Wirtschaft in den Fokus zu rücken. Aus diesem Grunde figurierten die Geistes- und Sozialwissenschaften auch in den ersten Formulierungen des neuen Forschungsrahmenprogramms nicht als eigenständige Programmgrößen. Sie sollten lediglich im Kontext technologischer Entwicklungen gleichsam flankierend ihren zusätzlichen Beitrag leisten. Auch die Europäische Kommission hatte ihrerseits anerkannt, dass die großen Herausforderungen, die zu bewältigen sind, nicht nur technokratisch zu lösen sind, sondern des Zusammenwirkens vieler Disziplinen bedürfen (also auch der Geistes- und Sozialwissenschaften). Zwischenzeitlich ist es gelungen, eine eigene Agenda für geistes- und sozialwissenschaftliche Projekte zu entwickeln, die nunmehr mit der Formulierung der »Inclusive, Innovative and Reflective Societies«, wie es im EU-Rahmenprogramm »Horizon 2020« heißt, gelungen ist. Dieses etwas andere Verständnis der Europäischen Kommission von Forschung und Forschungspolitik hatte sich bereits in den früheren Rahmenprogrammen niedergeschlagen. So war es beispielsweise keineswegs einfach, das European Research Council (ERC) zu etablieren, welches das große Programm für grundlagenorientierte Forschungsförderung in Europa darstellt. Seinerseits arbeitet es streng nach wissenschaftlichen Kriterien und hat innerhalb kurzer Zeit nicht nur in europäischen Gremien, sondern vor allem auch bei nationalen Wertungen einen hohen Qualitätsstandard im Rahmen der Forschungsförderung erreicht. Es ist ein großer Erfolg und Vorteil, dass die Dotierung dieses Programms innerhalb von »Horizon 2020« deutlich erhöht wird. Dennoch, es bleibt bei einer klaren Bevorzugung technologisch orientierter Wissenschaft durch die europäischen Programme, die sich auch in der Dotierung der einzelnen Programme mit einer Gesamthöhe von ca. 70 Mrd. Euro manifestieren wird.* Wie ist das zu beurteilen? Zunächst einmal ist es legitim, dass die Europäische Kommission sich streng an der wirtschaftlichen Kompetitionsfähigkeit Europas ausrichtet und dementsprechend konsequent ihre Forschungsprojekte ausschreibt und dotiert. Dies gäbe den in Europa versammelten Nationen die Möglichkeit, ihre Forschungsfelder komplementär auszurichten und vorwiegend in jene Bereiche zu investieren, welche durch europäische Forschungsprogramme nur in bedingtem Maße dotiert werden. Hier könnte sich das Subsidiaritätsprinzip als Erfolgsmodell herausstellen. Es müsste also der in einigen Ländern Europas zu beobachtende Trend, die Geistes- und Sozialwissenschaften deutlich weniger als naturwissenschaftliche Vorhaben zu fördern, gestoppt werden. Denn wenn sich sowohl Nationalstaaten als auch das politische Europa fast ausschließlich auf naturwissenschaftlich-technische Projekte und deren Förderung konzentrieren, dann kommt es zu einem langfristig nicht wünschenswerten Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Forschungsbereichen. Dies wäre umso bedauerlicher, als gerade die großen Zukunftsfragen immer mehr der Mitwirkung aller Disziplinen bedürfen. Und wenn man die vielen Staaten Europas und die ihnen eng benachbarten Länder sorgfältig beobachtet, wird man leicht feststellen, dass innerstaatliche, zivilgesellschaftliche Konflikte sowie Fragen des ethnischen Zusammenhalts und des Demokratieverständnisses eine enorme Bedeutung, aber auch Brisanz entwickelt haben. Dies alles sind Aufgaben, die dringend eine europäische wissenschaftliche Unterstützung und Finanzierung benötigen. Deutschland bildet hier nach wie vor eine rühmliche Ausnahme, weil die Ausgaben für Geisteswissenschaften – u. a. sichtbar im sogenannten ›Akademienprogramm‹ – traditionell eine ebenso signifikante Förderung und Verbesserung der Förderung erfahren wie die naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen. Ein weiteres wichtiges Thema in Europa sind die Fördermittel, die unter dem Label ›Wissenschaft und Forschung‹ ausgewiesen werden, aber in Wirklichkeit eine Reihe rein struktureller Hilfen und Maßnahmen beinhalten. Natürlich sind Forschung und Wissenschaft strukturell von ausschlaggebender Bedeutung, aber es wäre durchaus wünschenswert, dass die Verhältnisse zwischen Strukturförderung auf der einen sowie Forschungs- und Wissenschaftsförderung auf der anderen Seite noch stärker präzisiert werden. Auch im Bereich der sogenannten ›Strukturförderung‹ sollte verstärkt nach Möglichkeiten gesucht werden, auch – sofern es gerechtfertigt ist – Forschungs- und Wissenschaftsförderung zu betreiben. Bildung und Weiterbildung sowie anwendungsorientierte Forschung sind für die Schaffung neuer Wirtschafts- und Beschäftigungsstrukturen von elementarer Bedeutung, sodass es durchaus angezeigt wäre, auf europäischer Ebene erneut über die Definition der Strukturförderung nachzudenken. Wenn wir in Europa die Kraft finden, Struktur-, Wissenschafts- und Bildungsförderung als voneinander abhängige Variablen zu begreifen und die Programme danach auszurichten, wäre bereits viel gewonnen. Wenn wir von einem europäischen Forschungsraum sprechen, wäre es für die Zukunft also zu wünschen, dass wir sowohl die langfristig angelegte, erkenntnis- und grundlagenorientierte, die interdisziplinäre Forschung als auch die unmittelbar wirtschaftlich verwendbare Forschung sowie die Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmen als eine gemeinsame Priorität begreifen und sektorenübergreifende Förderprogramme entwickeln, bei denen Strukturbeihilfen, Bildungsmaßnahmen und Wissenschaftsförderung ineinandergreifen. Der Aufbau neuer europäischer Forschungsinstitutionen und Strukturen, aber vor allem auch der Aufbau von Programmen zum Austausch von Lehrenden und Lernenden innerhalb Europas sind elementare Kennzeichen eines europäischen Forschungsraumes, der dringend geboten ist und in keiner Weise in Konkurrenz zur viel beschworenen Internationalität und Globalisierung der Forschung steht: Es ist eher eine Voraussetzung dieser für die Wissenschaft und Bildung notwendigen Entwicklung. Gerade im Bereich der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung wäre es dringend geboten, dass wir uns – ähnlich wie dies in Deutschland seit langen Jahren bereits im Akademienprogramm geschieht – stärker unseres kulturellen Erbes versichern, dieses wissenschaftlich erschließen, um somit im Wissen um unsere eigene Herkunft aktiv unsere Zukunft gestalten zu können. Der Wert der Rückversicherung und aktiven Vergegenwärtigung dieses gemeinsamen kulturellen europäischen Erbes wäre auch ein Medium, die Identifizierung mit Europa und die Identität unseres heutigen Kontinents deutlich zu verstärken. Wenn Hans-Georg Gadamer davon sprach, dass Zukunft Herkunft sei, dann gilt dies in ganz besonderem Maße gerade auch für Europa. * Dies gilt unter dem Vorbehalt der abschließenden Zustimmung des Europäischen Parlamentes und des Ministerrates. Dabei besteht eine vage Hoffnung, dass das Parlament diese Summe nach oben korrigieren könnte. |