Heft 30 - Andreas Voßkuhle im Gespräch mit Wolfert von Rahden: »Gerichte können nur einen Rahmen abstecken, innerhalb dessen Politik sich entfalten kann« Gegenworte: Herr Präsident, Umbau und Neubau: ›Umbruch‹ drängt sich dem Beobachter als passende Metapher auf sowohl für die Baumaßnahmen am Gebäude hier in Karlsruhe wie für Europa insgesamt. Man könnte sagen: »Bruchstellen sind Fundstellen.« Voßkuhle: In der Tat, wir bleiben in Bewegung. In Bezug auf die Renovierung unseres alten Gebäudes gilt der Satz aus Gattopardo, dass sich alles ändern muss, damit es so bleibt, wie es ist. Das Gebäude wurde weitgehend entkernt und wird momentan genauso wieder aufgebaut, wie es ursprünglich einmal war – allerdings nach den heutigen Standards, was beispielsweise den Brandschutz und die Energieeffizienz betrifft. Das Gebäude liegt uns deshalb so sehr am Herzen, weil es den Geist des Gerichts in besonderer Weise symbolisiert: Es gehört zu den ersten Justizgebäuden der Welt, die nicht nach Maßgabe der klassischen Justizarchitektur gebaut sind – also als Palast, sehr verschlossen, einschüchternd, nach dem Prinzip: ›Der Mensch ist klein, die Gerechtigkeit ist groß‹. Stattdessen ist es ein transparentes Gebäude, in dem man die Richterinnen und Richter bei ihrer Arbeit sehen kann. Ein Gebäude, das leicht, licht und zugewandt wirkt und in dem innen und außen verschwimmen. Der Erhalt dieser Symbolik war uns wichtig und ein Grund, warum wir uns sehr für eine Renovierung statt für einen Neubau eingesetzt haben. Laut Umfragen genießen Bundesverfassungsrichter gegenwärtig mit das höchste Vertrauen in der Bevölkerung, während Politiker, Banker und auch Journalisten am Ende der Skala rangieren. Befürchten Sie manchmal, dass aufgrund der letzten Krisen und Skandale der Sog des Misstrauens, der Teile der Öffentlichkeit – und nicht nur der Medien – erfasst hat, auch vorm Bundesverfassungsgericht nicht haltmachen könnte? Voßkuhle: Die Frage ist meines Erachtens richtig gestellt, denn Vertrauen muss jeden Tag wieder neu erarbeitet werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat Phasen gehabt, in denen es weniger Akzeptanz in der Bevölkerung erfahren hat als heute. Denken Sie etwa zurück an die Zeit in der Mitte der neunziger Jahre, als das Gericht in kurzer Folge zwei unpopuläre Entscheidungen zum Kruzifix in Klassenzimmern und zum Tucholsky-Zitat »Soldaten sind Mörder« getroffen hat. Diese Entscheidungen haben damals zu viel Kritik und geringen Zustimmungswerten geführt; und auch das muss ein Gericht ertragen können. Insofern freuen wir uns über das gegenwärtige Vertrauen der Menschen, wissen aber auch, dass es nicht selbstverständlich ist. Vor allem müssen wir anstreben, dass die Bürgerinnen und Bürger unsere Entscheidungen nachvollziehen können, auch und gerade dann, wenn sie mit dem Ergebnis einmal nicht einverstanden sind. Meines Erachtens gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, mit denen wir diese Akzeptanz erreichen können: Dazu gehört vor allem der öffentliche Diskurs in der mündlichen Verhandlung, eine gute, überzeugende Begründung der Entscheidung, aber auch ihre Lesbarkeit bei aller fachlichen Genauigkeit. Haben Sie den Eindruck, dass die Politik dem Bundesverfassungsgericht besonders in jüngster Zeit zu viele Entscheidungen aufbürdet, die eigentlich die Politik selbst treffen sollte? Droht das Gericht – egal, wie es entscheidet – nicht möglicherweise in das Dilemma zu geraten, entweder dafür kritisiert zu werden, dass es ›zu viel‹ bestimme, also zu ›politisiert‹ sei, oder dafür, dass es ›zu wenig‹ eingreife, also sich vor Entscheidungen ›drücke‹? In einer vergleichbaren Lage befindet sich nicht selten die Wissenschaft als Beratungsinstanz für die Politik: Auch hier kann häufiger beobachtet werden, dass die Wissenschaft als bloße Legitimationsinstanz für die Politik herhalten muss oder die Verantwortung für Entscheidungen von der Politik auf die Wissenschaft abgewälzt wird. Entsteht nicht die paradoxe Situation, dass die Politik sich von Entscheidungen zurückzieht, die ihr ureigenstes Gebiet sind, und dann einerseits die Juristen und anderseits die Wissenschaftler die Verantwortung tragen müssen für Entscheidungen, die eigentlich die Politik selbst tragen sollte? Voßkuhle: Es gibt Situationen, in denen die Politik versucht, schwierige Entscheidungen zu ›verrechtlichen‹, indem sie sie als Rechtsfrage nach Karlsruhe bringt oder auf ausstehende Urteile verweist. In gewisser Weise halte ich diese Strategie für legitim, beispielsweise wenn sie zur Entideologisierung einer Debatte beiträgt oder wenn das Abwarten festen Grund schafft für weitere politische Überlegungen. Das Gericht sollte sich aber nicht instrumentalisieren lassen. Hilfreich ist dabei, dass wir uns die Fälle nicht aussuchen können: Wir haben klare Zulässigkeitskriterien, und wenn ein Antrag zulässig ist, dann müssen wir über ihn entscheiden. Das ist nicht bei allen Verfassungsgerichten so. Der US Supreme Court zum Beispiel wendet die sogenannte ›political question doctrine‹ an, die es dem Gericht ermöglicht, bestimmte Fragen unter Hinweis auf ihren politischen Kern nicht zu entscheiden. Wer über derartiges Ermessen verfügt, läuft Gefahr, durch den steuernden Einsatz dieses Kriteriums zu einem aktiven Teilnehmer im politischen Prozess zu werden. Weil das Bundesverfassungsgericht nicht auswählen kann, ist es davor geschützt. Vielmehr werden politische Fragen, die ja in aller Regel mit Rechtsfragen verbunden sind, wieder in das Feld der Politik zurückgespielt. Sehr häufig findet sich in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ein Hinweis auf den weiten Einschätzungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers. Und sehr häufig werden Sachfragen gerade nicht ›durchentschieden‹, sondern das Gericht formuliert den Rahmen, innerhalb dessen eine politische Gestaltung möglich ist. Nehmen Sie eine einfache Situation: Eine Regelung, die eine Begünstigung gewährt, verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz. Die Politik kann in unterschiedlicher Weise darauf reagieren: Sie kann die Begünstigung für alle streichen, oder sie kann die Begünstigung allen geben. Welche der Lösungen überzeugender ist, bleibt eine politische Frage. Das Gericht achtet sehr genau darauf, sich hier nicht in den politischen Prozess einzumischen. Das Geflecht von Entscheidungshierarchien in Europa wird immer komplexer und unübersichtlicher. In der Exekutive, Legislative und Judikative haben wir auf einzelstaatlicher und auf europäischer Ebene eine Vervielfachung von ›vorletzten‹ Entscheidungsinstanzen (Parlamente, Regierungen, Bürokratie, Verfassungsgerichte). Wie sehen Sie in diesem Kontext die Rolle der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit? Voßkuhle: Wir sind in diesem Mehr-Ebenen-System mit einer spezifischen Rolle betraut, nämlich mit dem Schutz des Grundgesetzes. Unsere Verfassung bleibt der Maßstab für unsere Arbeit. Mit wachsender europäischer Integration gibt es mittlerweile jedoch eine Reihe von Schnittstellen. Nehmen Sie als Beispiel die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Sicherungsverwahrung. Das Straßburger Gericht hat einige Aspekte anders gesehen als zuvor das Bundesverfassungsgericht. In der Folge waren wir wieder gefordert und mussten uns fragen: »Wie gehen wir mit dieser Entscheidung um?« Die Antwort fiel differenziert aus; wir haben unsere Rechtsprechung teilweise modifiziert und sind teilweise bei unserer bisherigen Linie geblieben. Dabei haben wir uns intensiv mit der Entscheidung des EGMR auseinandergesetzt. Das wurde als sehr gelungene Form der Kooperation wahrgenommen, als gute Zusammenarbeit der verschiedenen Gerichte in einem Gerichtsverbund. Allgemein erscheint mir wichtig, dass jedes Gericht seine spezifische Rolle sieht und sich auf sie beschränkt, denn in einem solchen Verbund wirft es Probleme auf, wenn ein Gericht übergriffig ist. Wir sind bestrebt, uns an diese Maxime zu halten – auch wenn die Abgrenzung im Einzelfall mitunter eine Frage der Perspektive ist. * Andreas Voßkuhle: Festvortrag »Menschenrechte im Europäischen Verfassungs- gerichtsverbund« anlässlich der Verleihung des Preises der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an Armin Falk am 21. Oktober 2011 in Berlin | |