Heft 4: EDITORIAL von Dieter Simon


Vor einigen Monaten, als die Tierschutzbewegung wieder einmal einen ihrer periodisch auftretenden hysterischen Anfälle hatte, schrieb Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, dem wir wichtige und folgenreiche Einsichten in die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns verdanken, einen kleinen Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Text war etwas dicht und ein wenig professoral, auch nicht ganz simpel, aber doch so gefaßt, daß jeder Leser des immerhin weit verbreiteten Blattes sich ein gutes Urteil über die Beweggründe, die Skrupel, Grenzen und Hoffnungen eines Forschers bilden konnte, der wissenschaftliche Versuche an Rhesus-Affen durchführt. Das Echo auf diesen Text war minimal. Ein bißchen Zustimmung, ein Hauch Zurückhaltung, eine Winzigkeit Achselzucken und Schweigen. Keine Rede von einer ausführlichen Debatte zwischen denen, die den Standpunkt Singers teilen, und jenen, die - aus welchen Gründen auch immer - Experimente der genannten Art prinzipiell oder in der Regel ablehnen. Ein zweifellos wichtiges und strittiges Thema, ein mit Tabus und Aggressivität besetztes Feld - aber der Kommunikationsgemeinschaft fehlen offenbar die Worte. Insofern hätten die GEGENWORTE gewarnt sein müssen, als sie auf die Idee verfielen, Streitkultur in den Wissenschaften beispielhaft anhand des Themas Tierversuche präsentieren zu wollen, und sich vielleicht ein anderes Exempel vornehmen sollen. Beim Tierversuch jedenfalls war die 'Streitkultur', wenn es sie denn überhaupt gibt, nicht anzutreffen. Anzutreffen ist der Autodialog, das Selbstgespräch jeder Gruppe mit sich und den Ihren und das Zwiegespräch mit einem konstruierten Partner/ Gegner, dem die Rolle zufällt, die Unmöglichkeit aller Kommunikation zu beweisen. Für den Disput über Wissen offensichtlich ein gänzlich ungeeignetes Terrain.

Eine Debatte, die nicht stattfindet, kann durch GEGENWORTE nicht stellvertretend geführt werden. Wir können den Sachverhalt dokumentieren und uns nach den Gründen für sein Sosein fragen. Was das erste angeht, haben wir den Versuch unternommen, Beiträge aus möglichst verschiedenen Ressorts und Genres zusammenzutragen, um den Blick der Beteiligten und der Beobachter abzulenken von den üblichen schrillen Formen betroffener Äußerungen einerseits und vom selbstrechtfertigenden Lamento andererseits. Deshalb auch wurde dem überall Diskutierten (z.B. ethischen Fragen) nur wenig Raum zugemessen, und dem in diesem Zusammenhang wenig Alltäglichen (z.B. der Massentierhaltung) wurde mehr Platz eingeräumt. Tatsächlich gibt es kaum eine Profession oder Schicht, die dem Gegenstand 'Tierversuch' völlig uninteressiert oder uninformiert gegenüberstünde. Juristen denken darüber nach und Parlamentarier (und nicht nur dann, wenn und weil sie das Tierschutzgesetz zu verabschieden haben), Biologen ohnehin und Ökonomen nicht weniger, Philosophen erst recht, Ethiker von Beruf oder Berufung aus vielerlei Disziplinen ebenfalls, der Opa mit dem Dackel, die Psychologin mit dem Collie, der Standort Deutschland und der Tierarzt jedenfalls. Sie alle haben verschiedene Wahrnehmungen, divergierende Erfahrungen und festgegründete Überzeugungen, wie mit der Sache und wie mit dem Konflikt umzugehen sei. Sie leben, wie Helga Nowotny dies gelegentlich reformuliert hat, in verschiedenen 'Betroffenheitswelten'. Und sie reden kaum miteinander.

Daß dem so ist, kann man im vorliegenden Heft der GEGENWORTE vermutlich gut erkennen. Warum es so ist, läßt sich weit weniger leicht benennen.

Sicher handelt es sich um 'Nichtkommunikation', um einen auffälligen Aspekt der nicht bloß ausdifferenzierten, sondern zerfallenen und zerklüfteten Gesellschaft, die nach wie vor jeder effizienten Gegensteuerung durch kommunikative Integration, Mediation, Diskursanalyse oder wie die längst und wirkungslos ersonnenen Medikamente alle heißen mögen entbehrt.

Sicher ist auch, daß die Wissenschaft nicht in der Lage sein wird, die konstatierten Mängel zu kompensieren. Die kontrafaktische Hoffnung, Wissenschaftler seien imstande, kompetent, rational und verantwortungsbereit gangbare Alternativen zu Aggressionen, Hochmut, Drohbriefen, gewalttätiger Ignoranz und jahrelangen Gerichtsverfahren zu entwickeln, wird nicht in Erfüllung gehen.

Sicher ist schließlich, daß wir weiterhin nach einem Weg suchen müssen, um auf vernünftige Weise die normativen und empirischen Grenzen des Machbaren angesichts der schwindenden Grenze zwischen Natur und Artefakt offen zu diskutieren und Mittel zu erkunden, wie die Gesellschaft zu einer tragfähigen Vereinbarung zwischen den verschiedenen Interessengruppen finden könnte.

Aber jenseits dieser Sicherheiten ist guter Rat teuer.

Das ist er freilich auch in minderen Dingen. Zum Beispiel bei der Frage nach unserem Verhältnis zur Rechtschreibreform. Wissenschaftler sind Individualisten. Manche passen sich sofort an, andere haben einen Schwur geleistet, nicht mehr ändern zu wollen, was sie vor 30 bis 50 Jahren mühsam gelernt haben. Das stürzt Herausgeber und Redaktion in schwer lösbare Vereinheitlichungskonflikte. Wir belassen es deshalb vorläufig beim ancien regime und warten auf den elektronischen Profi-Rechtschreib-Konverter.