Heft 4 - Wladimir Kaminer: BERICHT AUS RUSSLAND Menschen und Tiere
Im Februar 1999 brach in den russischen Medien eine heftige Diskussion über die Zukunft der Wissenschaft aus. Auslöser war ein Artikel in der Moskau News über den anhaltenden Exodus russischer Wissenschaftler. Viele Leiter von Forschungsstätten, Soziologen, Biologen und Physiker, die teilweise bereits seit Jahrzehnten im Ausland arbeiten, meldeten sich zur Wort. Auch die russische Akademie der Wissenschaften nahm Stellung. Durch diese Debatte, die weit über die wissenschaftlichen Kreise hinausreichte, wurde auch die problematische Situation der angewandten Forschung deutlich: Die ungewöhnlich stürmische Entwicklung der experimentellen Wissenschaften in den letzten zwanzig Jahren führte zu schnellen Konzeptionswechseln - und dazu, daß die Theorie sich nur im ständigen direkten Kontakt mit experimentellen Untersuchungen erfolgreich entwickeln konnte. Diese Tendenz zur Verschmelzung der experimentellen und der theoretischen Wissenschaft sollte eigentlich der russischen Forschung gut tun. Wenn sie aufgrund fehlender Finanzierung selbst nicht in der Lage ist, eigene Untersuchungen durchzuführen, so kann sie zumindest mit westlichen Instituten kooperieren und die aus Sowjet-Zeiten noch existierenden Forschungseinrichtungen für gemeinsame Projekte nutzen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Nach dem Zerfall der Sowjetunion brach auch die Akademie der Wissenschaften - in Dutzende kleinere Akademien, Institute und eigenständige Laboratorien auseinander. Diese versuchen, ihre Arbeit auf marktwirtschaftlicher Basis neu zu organisieren. Gleichzeitig verlassen viele der führenden Wissenschaftler - Physiker, Biologen, Genetiker usw. - das Land und setzen ihre Forschung in ausländischen Instituten fort. Bis 1989 waren noch ein Drittel aller weltweit mit Wissenschaft Beschäftigten in der UdSSR tätig. Seitdem gingen allein aus der Russischen Akademie der Wissenschaften 19% der Physiker und 20% der Mathematiker ins Ausland. Menschen
1993 startete das Unterstützungsprogramm des internationalen Wissenschaftsfonds für die russische Forschung. Damals belief sich die Zahl der intellektuellen Elite, das heißt Wissenschaftler, die wenigstens drei neuere Veröffentlichungen in international anerkannten Publikationen hatten, auf 30000. Nach Angaben Professor Sergej Egerevs, der die russische Wissenschafts-Diaspora zum Objekt seiner Forschung machte, arbeiten zur Zeit etwa genau so viele Wissenschaftler im Ausland. Im Inland konnten und können sich am besten solche marktwirtschaftlich tauglichen Wissenschaftsbereiche halten wie Pharmakologie und Chemie, weil Rußland hierzu gut funktionierende Produktionsketten besitzt. Doch entgegen jeder marktwirtschaftlichen Logik unterstützen die neuen Pharma-Magnaten - solche wie Brinzalov, einer der reichsten Männer des Landes und Monopolist für Antibiotika - die Grundlagenforschung so gut wie gar nicht. Nach der nationalen Revolution 1990 (Russische Förderation gegen Sowjetunion) fanden sich zudem viele der experimentellen Stationen in unabhängigen Republiken wieder, obwohl die meisten der dort beschäftigten Wissenschaftler Russen waren. Tiere
Die berühmte Affenzucht-Station in Suchumi beispielsweise. Sie wurde 1917 eingerichtet und mit der Blüte der damaligen Wissenschaft besetzt. Die Bolschewik! ließen dort im Geheimen Experimente zur ' Ewigen Jugend' durchführen, unter anderem Organverpflanzungen, Herzoperationen und künstliche Befruchtungen. Während des langjährigen Krieges nach 1991 zwischen Georgien und abchasischen Separatisten geriet die Affenstation zwischen die Fronten. Die Zeitschrift Druschba Narodow (Freundschaft der Völker) berichtete: "In Suchumi wurde die Affenstation bombardiert. Nachts haben die Georgier jemanden verfolgt und geglaubt, es wäre ein Abchase. Sie verwundeten ihn, und er schrie. Dann sind die Abchasen auf ihn gestoßen und haben geglaubt: ein Georgier. Sie sind ihm nach, haben geschossen. Gegen Morgen sahen alle, daß es ein verwundeter Affe war. Sie stürzten zu ihm, um zu helfen." Infolge dieses Krieges liefen viele Tiere und Mitarbeiter weg. Nachdem im vorigen Jahr ein Gerücht aufgekommen war, daß die Affen eine auf Menschen übertragbare Krankheit haben und eine Epidemie drohe, wurden zudem von den übriggebliebenen Tieren etliche getötet. Die wissenschaftlichen Untersuchungen sind zu 90% eingestellt. Menschen
In den letzten zehn Jahren nahm die allrussische Krankheit Tuberkulose wieder kräftig zu. Die allgemeine StreßSituation im Lande und die wesentliche Verschlechterung der Lebensbedingungen führte dazu, daß jährlich wieder bis zu 100000 Menschen an TBC sterben. Deswegen werden in fast jeder Großstadt von der Verwaltung Vivarien finanziert, die zum Zentrum der Bekämpfung der Krankheit geworden sind. Dort werden Tierversuche angestellt, was ständig für öffentliches Interesse sorgt. Immer wieder werden die Vivarien zum Beispiel von in- und ausländischen Pressevertretern besucht. Doktor Jakoviev vom Petersburger Vivarium ist inzwischen fast ein Fernsehstar. Besonders oft tritt er in den Nachrichtenmagazinen des russischen Fernsehens auf, zum Beispiel in Reportagen vor Ort. Die Kamera zeigt das Panorama des Labors: hinter dem Rücken des Doktors sind Dutzende von Käfigen mit Kaninchen zu sehen. In der Großaufnahme sieht man die roten gleichgültigen Augen eines der Tiere, dann kommt wieder der Wissenschaftler ins Bild. In der einen Hand hält er ein kleines Kaninchen, in der anderen eine große Spritze. Der Doktor lächelt: "Fast jeden Tag bekommen wir Besuch von Massenmedien und Tierschutzorganisationen. Greenpeace war auch schon da." Was an seiner Arbeit so interessant ist, weiß er nicht. "Wir infizieren die Tiere mit den Tuberkel-Bazillen, die wir aus den Regionen bekommen, und beobachten, wie sich der Verlauf der Krankheit jeweils unterscheidet. Genauer gesagt, wie lange die Kaninchen brauchen, um zu sterben. Auf diese Weise können wir nachvollziehen, mit was für einer TBC-Mutation wir es hier zu tun haben." Tiere
Der Moskauer Zoo mußte aus finanziellen Gründen viele Tiere an ausländische Einrichtungen verschenken bzw. verkaufen. Doch unter den neureichen Russen wurde es plötzlich Mode, bestimmte Zoo-Tiere zu sponsern. Die Volksmeinung sagt, es bringt Glück. Da die meisten dieser Leute ihren Reichtum mit hochkriminellen Geschäften machen und oft in lebensgefährliche Situationen geraten, ist ihnen jeder Glücksbringer recht. So sponserte ein Moskauer Spielcasino-Betreiber einen großen Gorilla, der Inhaber des größten Autohauses einen Panther und der Pate des russischen Schwarzmarkts für Alkohol einen Elefanten. Letzterer besuchte seinen Sprößling sogar regelmäßig und fütterte ihn eigenhändig. Im Februar wurde der Sponsor bei der Abwicklung eines Geschäfts erschossen. Zwei Wochen später starb auch der Elefant. Menschen
Vor einem Jahr demonstrierten die Mitarbeiter des Zoologischen Sektors am Moskauer Institut für Biologie. Sie wollten die Ignoranz des Staates gegenüber der Wissenschaft nicht länger hinnehmen. Fünf Wissenschaftler schlossen sich in einem Affenkäfig ein - zusammen mit ihren Arbeitstischen, Computern und ihrer Ausrüstung. Sie wurden von Affen und Zoobesuchern beschimpft, mit Tierkot beworfen und mußten nach kurzer Zeit den Käfig wieder verlassen. | |