Heft 4 - Wolf Singer und Leo Montada: POLEMIK ODER DISKURS


Prof. Wolf Singer, Mediziner, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung ist einer der exponiertesten 'Affenforscher'; er wird deshalb von Tierschützern besonders angefeindet. Anläßlich der Verleihung des Hessischen Kulturpreises mußte er unter Polizeischutz gestellt werden; Prof. Leo Montada, Psychologe an'der Universität Trier, unter anderem Direktor des Zentrums für Gerechtigkeitsforschung an der Universität Potsdam, beschäftigt sich mit Konflikten, ihren moralischen Implikationen und Verfahren der Mediation. Beide sind Mitglieder der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und führten dieses 'Gespräch unter Kollegen' auf Anregung der GEGENWORTE. Moderation: Hazel Rosenstrauch

GEGENWORTE: Herr Singer, was bedeutet das Vorhaben, dem Tierschutz als Staatsziel Verfassungsrang zu geben, aus Ihrer Sicht für die Forschung?

SINGER: Das birgt potentielle Probleme, wenn Tierversuchsgegner diese Novellierung für ihre Zwecke nutzen und über den Klageweg wissenschaftliche Arbeit behindern werden. Wir haben ja bereits ein sehr strenges Tierschutzgesetz, das erst vor kurzem novelliert worden ist. Es erzeugt zwar enorm viel Bürokratie und ist ein Mißtrauensvotum der Gesellschaft uns gegenüber, diskriminiert uns auch gegenüber anderen Tiernutzern, weil die für das Töten von Tieren viel weniger Rechtfertigungszwang haben, aber wir können damit leben. Das Problem mit der Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz ist, daß es dann neben dem Artikel 5 'Forschung und Wissenschaft sind frei', einen weiteren Artikel im Grundgesetz gibt, der sich speziell mit der Schutzbedürftigkeit der Tiere befaßt und der, falls er nun kommen sollte, gegen den Artikel 5 gerichtswirksam ausgespielt werden kann. Sollte der Tierschutz Verfassungsrang bekommen, muß der Richter zwei Rechtsgüter gegeneinander abwägen.

Wir werden sicher auch dann Musterprozesse gewinnen, weil die Schutzbedürfnisse des Menschen höherrangig sind als der Schutz der Tiere, wenn denn der Nachweis

gelingt, daß das, was die Grundlagenforscher machen, letztlich Leid für Menschen verringert. Wovor wir jetzt schon Angst haben, sind die einstweiligen Verfügungen, die je nach Gutdünken der Richter unsere Arbeit über Jahre lahmlegen können, bis wir beim Verfassungsgericht gelandet sind und dort wohl gewinnen werden. Aber das kann doch erheblich viel Sand ins Getriebe streuen, und das ist das erklärte Ziel der Tierschutzverbände. Sie haben das auch so formuliert.

MONTADA: Ist es klug, mit Artikel 5 GG zu argumentieren? Forschungsfreiheit im Sinne, daß alle forschen dürfen, wie sie wollen, was sie wollen und an wem sie wollen, besteht auch bisher nicht. Es sind zwar bisher Klagen von Tierschützern abgewiesen worden mit Verweis auf die Forschungsfreiheit, aber diese Urteile sind nicht auf Dauer bindend. Tierschutz ist zu einem ethischen Anliegen geworden. Die anthropozentrische Ethik wird immer häufiger kritisiert, eine Tierethik, auch eine ÖkosystemEthik wird propagiert. Auch wenn, wie Jürgen Mittelstraß kürzlich konstatierte, die rationale Begründung fehlt oder die Begründung angreifbar ist: Die neuen Ethiken gewinnen an Zustimmung. Die Rechte der Tiere auf Achtung ihrer Würde, auf Entfaltung ihrer natürlichen Anlagen, artgerechte Umwelt, Freiheit von (vermeidbarem) Leid haben Eingang in das Tierschutzgesetz gefunden. Und die Verantwortung des Menschen für Tiere ist als Pflicht formuliert. Als Konsequenz ist eine weitere Beschränkung der Freiheitsrechte der Forscher zu erwarten, es sei denn, es werden weitere ethische Rechtfertigungen für den Vorrang der Forschungsfreiheit vor den Tierrechten vorgebracht. Ethischen Argumenten kann man nur mit ethischen Argumenten begegnen.

SINGER: Ich argumentiere in der Regel sehr viel breiter, als es in der Presse wiedergegeben wird. Journalisten wollen offenbar nur das sehr kurz greifende Argument hören, daß wir forschen, um menschliche Leiden zu mindern. Das greift zu kurz und gibt nicht wieder, was in der alltäglichen Intention unseres Tuns enthalten ist.

Ich würde lieber so argumentieren: Seit wir aus dem Paradies vertrieben worden sind, greifen wir handelnd in die Geschicke unserer Biotope ein. Das beginnt mit dem Ackerbau, setzt sich in der Tierzucht fort, gilt letztlich für alle zivilisatorischen Eingriffe, allen voran die Medizin und Veterinärmedizin. Mein Argument lautet: Wer handelt, ist verpflichtet und muß sich der Verantwortung stellen, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, das heißt, er muß die Folgen seines Tuns so nachhaltig wie möglich überprüfen. Er muß versuchen herauszufinden, ob er mit dem, was er tut, nicht mehr Unheil anrichtet, als er zu vermeiden sucht, kurz und gut, ob er dieses Handeln moralisch rechtfertigen kann. Dazu ist meines Erachtens Wissen unerläßlich. Ich muß die Randbedingungen des Systems, in das ich eingreife, kennen, um beurteilen zu können, wie es darauf reagieren wird und was ich langfristig mit meinem Tun anrichte. Also wird Neugier oder Wissenwollen zur moralischen Verpflichtung derer, die handeln. Wir haben in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft eine Profession geschaffen, die den gesellschaftlichen Auftrag hat, das Wissen zu gewinnen, das die Macher für verantwortliche Entscheidungen brauchen. Wer Forschung beschränkt, handelt verantwortungslos, weil er die Gewinnung entscheidungsrelevanten Wissens verhindert.

MONTADA : Das ist dann ein ethisches Plädoyer für Forschung, aber noch keine Begründung für uneingeschränkte Forschungsfreiheit. Wir haben einen breiten Konsens, daß Freiheitsrechte durch die Rechte anderer und die Pflicht zu deren Achtung begrenzt werden. Bezüglich der Forschung am Menschen gibt es Restriktionen und ein

allgemeines Rechtsgefühl, die die Freiheit der Forschung begrenzen. In der heutigen Debatte geht es um die Rechte von Tieren, insbesondere von Wirbel- und Säugetieren, die als leidensfähig angesehen werden. Die Kernfrage ist, ob die Rechte der Tiere die Forschungsfreiheit zwingend begrenzen oder ob es Rechtfertigungen für die Verletzung der Tierrechte in der Forschung gibt? Die Grundlagenforschung, die nicht auf einen unmittelbaren Nutzen für Mensch, Tier und Ökosysteme verweisen kann, hat dabei besondere Argumentationsnot.

SINGER: Zunächst zur Begründung der Grundlagenforschung, die nicht unmittelbar mit anwendbaren Erkenntnissen aufwarten kann: Wir wissen, daß man nicht gut beraten ist, nur dort zu suchen, wo die aktuellen praktischen Probleme sind. Man bekommt zwar manchmal, meist unerwartet, Ergebnisse, die auf kurzem Wege anwendungsrelevant werden. Das ist schön, kann aber nicht die Rechtfertigung für das tägliche Tun sein, weil solche Glücksfälle zu selten vorkommen und weil im Einzelfall nie a priori kausal begründet werden kann, daß dieser eine Tierversuch, der das Leben dieses einen Tieres kostet, für jene praktische Entwicklung, zum Beispiel in • der Medizin, notwendig ist.

MONTADA: Das wäre immerhin eine moralische Rechtfertigung für Grundlagenwissenschaft als Voraussetzung für angewandte Forschung, die allerdings von Teilen der heute Tierethik und Naturethik propagierenden Leute angegriffen wird. Dieser Zusammenhang müßte in der Bevölkerung mit guten Beispielen überzeugend verbreitet werden.

SINGER: Ja, nicht nur die breite Bevölkerung, selbst der Gesetzgeber fordert anwendungsbezogene Begründungen ein. Ich muß in meinen Anträgen den Nachweis antreten, daß die Ergebnisse einer geplanten Versuchsreihe von so großer praktischer Bedeutung sein werden, daß sie ethisch gerechtfertigt ist. Das zwingt mich fast zum Betrug, weil ich in der Tat in vielen Bereichen nicht angeben kann, ob das Versuchsergebnis wirklich in absehbarer Zeit Leiden vermindern wird. Außerdem weiß ich aus Erfahrung viel zu gut, daß ich oft unerwartete Versuchsergebnisse bekomme, die viel wertvoller sind als die intendierten. Man wird vom Gesetzgeber in eine Argumentationspflicht genommen, die man vor sich selbst nicht rechtfertigen kann.

GEGENWORTE: Kann man sagen, der Gesetzgeber habe ein unrealistisches Bild vom Funktionieren der Wissenschaft?

SINGER: Ja, das sieht man deutlich daran, daß der Gesetzgeber zunehmend die Zuwendung von Mitteln davon abhängig macht, daß wir nachweisen können, welche umsetzbaren Erkenntnisse die einzelnen Untersuchungen erbringen werden. Das ist eine Katastrophe. Diese Vorgaben verführen die Forscher zum Schwindeln. Natürlich lassen sich immer Argumente finden. Insofern ist das für uns kein argumentatives Problem, aber es ist ein moralisches Problem.

MONTADA : Und zur Frage der ethisch gebotenen Beschränkungen der Forschungsfreiheit?

SINGER: Unser moralisches Problem ist das vorsätzliche Töten von Tieren. Das Leiden, das den Tieren zugefügt wird, ist in 95 bis 98 Prozent der Fälle minimal, die weitaus meisten Tiere werden schmerzlos getötet. Es gibt nur eine ganz kleine Marge von Versuchen, wo das Forschungsinteresse dem Schmerz selbst gilt, Schmerz also nicht ganz zu vermeiden ist. Aber wir töten. Wir züchten Tiere, die wir nach Abschluß der Forschung einschläfern. Oft handelt es sich dabei um Tiere, die wir gut kennen, weil wir mit ihnen lange zusammengearbeitet haben.

MONTADA: Es fällt dem Außenstehenden auf, daß die Angriffe auf die Tierforscher giftiger vorgetragen werden als die Angriffe auf die Viehzüchter und -halter, auf die Schlachtviehtransporteure, auf die Jäger, die Fischer und deren Methoden. Und den Hinweis, daß alleine für Ernährung der Hunde und Katzen ganze Fleischberge gebraucht werden, findet man selten in der Diskussion. Auch das Tierschutzgesetz ist viel restriktiver bezüglich Tierversuchen als bezüglich Tierzucht, -haltung und -Verwendung oder bezüglich der Jagd. Wie kommt es, daß die Tierversuche in besonderer Weise angegriffen werden?

SINGER: Das ist ein vielschichtiges Problem, dessen Analyse zum Kern der Problematik führt. Die Vergleiche zeigen, daß es ein hoch irrationales Phänomen ist, weil in anderen Bereichen sehr viel mehr Leid erzeugt wird. Beim Kastrieren von Haustieren wird tief in den Hormonhaushalt eingegriffen, hinzu kommen Weichteilverletzungen, beides wird in Kauf genommen. Das Schlachten von Nutztieren ist hoch problematisch. Wenn das neue Gesetz kommt, werde ich gegen die Praxis der Tierschlachtung klagen. Warum diese Diskriminierung der Tierversuche? Ich glaube, es hat mit der Unterstellung von faustischem Tun hinter verschlossenen Türen zu tun. Da machen Leute Sachen, die unheimlich sind und rühren am Leben. Nach einer Umfrage verbinden Kinder mit Tierversuchen dunkle Kellerräume,Tierkadaver, blutbespritzte Mäntel, sadistisch aussehende Experimentatoren, denen es eine Wonne ist, Tiere zu quälen. Dies ist das Resultat der Propaganda reicher Tierschutzverbände, die sich Nischen für ihre Aktivitäten suchen müssen. Gingen sie mit der gleichen Verve gegen andere Tiernutzer vor, würden sie sofort von einer starken Lobby und vom Landwirtschaftsministerium in die Schranken gewiesen.

Deshalb fokussieren sie ihre Angriffe auf den Nebenschauplatz der Grundlagenforschung. Sie gehen nicht gegen die Wissenschaft als Ganzes vor, sondern suchen sich isoliert einige Bereiche heraus. Zur Zeit ist es die Primatenforschung, die ohnehin nur noch in wenigen Instituten möglich ist. Die Verbände konzentrieren sich auf kleine Gruppen, hinter denen keine mächtigen Verbandsstrukturen stehen, um Gelände und Mitglieder zu gewinnen. Wenn ich zu Hause einen Kaninchenstall hätte, dann könnte ich - ohne jeden Begründungszwang wann und wie es mir beliebt, diesen Kaninchen das Fell über die Ohren ziehen. Wenn ich hier eine Ratte anästhesieren möchte, um Messungen vorzunehmen, muß ich das mit einem 40seitigen Antrag ethisch rechtfertigen. In dieser Ungleichbehandlung drückt sich Mißtrauen und Diskriminierung aus. Unberücksichtigt bleibt auch, daß die von Menschen unberührte Natur nicht nur gut ist. Die Evolution war gnadenlos, das gleiche gilt für die natürliche Nahrungskette, und auch gegen Erkrankungen, ein natürliches Phänomen, lehnen wir uns auf.

MONTADA: Was kein Grund sein kann, auf ethische Normen zu verzichten. Das Problem ist die Gestaltung und Begründung dieser Ethik. Sie bekennen sich zu einer anthropozentrischen Ethik. Der Mensch und sein Wohlergehen haben höheres Gewicht als die Tiere, vielleicht auch, weil er eine höhere Leidensfähigkeit und mit seiner sozialen Bezogenheit eine höhere Mitleidensfähigkeit hat. Man kann sich eine Gesellschaft vorstellen, in der diese Priorität des Menschen nicht mehr gilt. Allerdings wohl nur solange, wie es keine durch Tiere übertragenen Seuchen gibt, und solange der Mensch im Kampf um Raum und Wohlergehen nicht von Ratten oder anderen Arten bedrängt wird.

GEGENWORTE: Istes möglich, von der Polarisierung Tierschützer versus Tierforscher abzukommen? Sie sagten, man muß sich über die angestrebte Conditio humana verständigen. Wie kann das aussehen?

MONTADA: Man muß zunächst die Konflikte spezifizieren. Es sind mehrere Konfliktkategorien, die sich überlagern. Einerseits Konflikte um Fakten: Militante Tierversuchsgegner bestreiten, daß Tierversuche - nicht nur in der Grundlagenforschung, sondern auch in der angewandten humanmedizinischen, der pharmakologischen und in der Schadstofforschung - einen Nutzen haben und für die Gesundheit des Menschen valide Informationen liefern. Wenn man sich über diese Fakten nicht verständigen kann, kann man es über die weiteren Konflikte schon gar nicht. Wie den Konflikt um das Leid, das Versuchstieren zugefügt wird: Schmerzen, Furcht, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und andere Deprivationen. Das ist nicht nur ein Faktenkonflikt, sondern auch ein Überzeugungskonflikt bezüglich der Erlebnisfähigkeit von Tieren. Eine dritte Kategorie sind die Konflikte über die Geltung ethischer Normen: Welche Rechte werden Menschen und Tieren zugebilligt? Wessen Rechten wird im Konfliktfall Vorrang eingeräumt? Eine vierte Konfliktkategorie betrifft die Fragen: Wer trägt welche Verantwortung für das Wohl des Menschen, auch das nachhaltige Wohl in einer gesunden Umwelt? Welche Verantwortung hat der Mensch für das Wohl individueller Tiere, unabhängig von Eigeninteressen? Ein fünfter Gegenstand von Konflikten ist die Diskriminierung der Tierforscher durch die Tierschützer, sowohl die persönliche Verunglimpfung als auch die Inkonsistenzen der Bewertung der Tierversuche und der Bewertung der Tierzucht, der Massentierhaltung, der Tierschlachtung, der Jagd und anderes mehr. Ein sechstes Feld könnte die unterschiedliche Bewertung der Wissenschaft für die Gewinnung von Erkenntnis sein.

Stoff genug für eine langwierige, komplexe Konfliktmediation. Die schwierigsten Konflikte sind die normativen, diejenigen der ethischen Bewertung.

GEGENWORTE: Wie sähe eine solche Mediation zwischen den Konfliktparteien aus?

MONTADA: Die Diskursethik hat Voraussetzungen für die konstruktive Teilnahme an einem ethischen Diskurs spezifiziert: Kompetenzen und Haltungen. Es gibt Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit und Prinzipien der Konfliktmediation, die man heranziehen kann. Niemand darf autoritativ beanspruchen, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein; jede Behauptung muß argumentativ begründet werden; Begründungsargumente müssen konsistent gebraucht werden; die Positionen und Argumente der Gegenseite müssen aufgenommen werden, und deren Verständnis ist durch Reformulierung nachzuweisen; jeder Teilnehmer redet für sich selbst, nicht als Funktionär einer Gruppierung mit eingeschränkter persönlicher Freiheit und Verantwortlichkeit; gemeinsames Nachdenken über Entscheidungsoptionen wird erwartet, auch die Offenlegung der Interessen, die hinter der eigenen Position liegen; Bewertung der Entscheidungsoptionen unter Bezugnahme auf die Anliegen aller Betroffenen und anderes mehr.

SINGER: Ich fürchte, der Disput wird nicht auf dieser respektablen Ebene geführt. Wenn wir uns ernsthaft zusammensetzten und moralische Argumente austauschten, dann würden wir sorgenvoll auf beiden Seiten über unsere Zukunft nachdenken und versuchen herauszufinden, wie wir uns in unserer Unsicherheit behelfen sollen, die hüben wie drüben gleichermaßen vorhanden ist. Ich glaube, daß wir uns da von den Tierschützern gar nicht so sehr unterscheiden.

Der Diskurs ist im Augenblick kein Moraldiskurs, wir sind in einen sehr polemischen, die Moral als Argumentationshilfe benutzenden Positionskampf verwickelt. Wir rechtfertigen uns mit militaristischen Argumenten, weil uns diese vom Gesetzgeber in den Mund gelegt werden und-weil sie am einfachsten zu vermitteln sind. Umgekehrt wird die Moral von der anderen Seite usurpiert, um ein Unbehagen zu begründen, das ganz andere, komplexe psychologische Ursachen hat.

MONTADA: Das kann schon sein, daß es hinter den vertretenen Positionen ganz andere persönliche Anliegen gibt: ökonomische, Sozialstatus, Projektionen und Suche nach Identität, auch Ängste vor der Zukunft und vor der Wissenschaft. Aber muß man sich nicht doch mit der Moral der anderen Seite auseinandersetzen? Was ist die Alternative? Man redet nicht miteinander, sondern umwirbt die Öffentlichkeit und versucht, parlamentarische Mehrheiten oder Bundes- und Verfassungsrichter für die eigenen Positionen einzunehmen.

Hubert Markl hat einmal gesagt, gegen Moral hilft nur das Recht. Das ist ein schönes Bonmot, aber nicht alle finden sich damit ab, daß das Recht nicht ihrer Moral entspricht. In der Tat, denke ich, hilft gegen eine Moral das geltende Recht nur so lange, bis diese Moral mehrheitsfähig geworden ist: Dann wird das Recht der Moral angepaßt, oder es müßte das Recht durch einen undemokratischen Staat gegen die Mehrheitsmoral geschützt werden. Man kann es auch umdrehen und sagen, gegen Recht hilft nur die Moral. Das ist das Argument der Tierschützer und der Naturschützer, die versuchen, Recht so zu gestalten, wie es ihrer Moralvorstellung entspricht.

SINGER: Hier geht es auch um Verantwortung und Kohärenz. Wenn ich Tierversuche, zum Beispiel für die Entwicklung von Antidepressiva für unethisch halte, dann muß ich auch konsequent sein. Dann erwarte ich von Tierschützern, daß sie in ihrem Paß vermerken: "Ich bin überzeugter Tierversuchsgegner und möchte, wenn ich im Koma aufgefunden werde, mit folgenden Verfahren nicht behandelt werden, weil diese nachweislich auf der Basis von Tierversuchen entwickelt worden sind." Dies wäre eine konsequente Haltung und überzeugte mich davon, daß die Argumente moralbasiert sind.

MONTADA : Das wäre eine konsequente Position. Jeder, der handelt, trägt die Verantwortung für sein Handeln und - sofern voraussehbar - für dessen Konsequenzen, Tierforscher und Tierschützer wie alle anderen. Normalerweise haben Handlungen nicht nur positive Erträge, sondern auch Kosten und Schäden. Diejenigen, die vehement aus moralischen Gründen eine Handlung oder eine Unterlassung fordern, neigen dazu, die Kosten und Schäden, die damit verbunden sind, zu übersehen. Die Vehemenz moralischer Forderungen geht einher mit Blindheit für die negativen Folgen.

Sie haben das Töten der Versuchstiere als moralisches Problem der Tierforschung genannt. Die Tierversuchsgegner ihrerseits schirmen sich gegen Mutmaßungen über negative Folgen ihrer Unterlassungsforderung noch ab.

SINGER: Ja, ich könnte mir einen Fragenkatalog vorstellen, der von beiden Seiten gleichermaßen zu beantworten wäre. Zu fragen wäre: Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Wie sehen wir die Leidensfähigkeit von Tieren im Vergleich zur Leidensfähigkeit von Menschen? Glauben wir, daß Erkenntnisse aus Tierversuchen auf den Menschen übertragbar oder für das Management unsere Biotope relevant sind? Das Wissen, das wir über die Dynamik von Lebensprozessen anhäufen, versetzt uns zunehmend in die Lage, den Finger zu heben und Entscheidungsträger mit begründbaren Argumenten darauf zu verweisen, daß die Bedingungen komplizierter sind als vermutet und daß bei jedem Schritt überlegt werden muß, ob wir ihn wirklich tun wollen. Die Wissenschaft ist es, die uns Vorsicht lehrt. Sie hat uns gezeigt, daß die Dynamik komplexer Systeme nicht prognostizierbar ist. Sie zwingt uns, von sogenannten Wahrheiten oder langfristigen Prognosen dezidiert Abstand zu nehmen und jedem zu mißtrauen, der vorgibt, über Sicherheiten zu verfügen. Wer Entscheidungen trifft ist gut beraten, nur kleine Veränderungen vorzusehen und in kurzen Abständen zu überprüfen, welches die Folgen sind. Wenn die Entwicklung nicht in die intendierte Richtung geht, muß die Änderung sofort rückgängig gemacht werden.

GEGENWORTE: Man hat nicht den Eindruck, daß die Wissenschaftler diejenigen sind, die von Zweifeln geplagt ihre Ergebnisse oder auch ihr Tun ständig prüfen und darüber nachdenken. Sie wirken eher wie die letzte Spezies in unserer Gesellschaft, die noch weiß, wo es langgeht.

SINGER: Die Wissenschaft ist viel bescheidener und viel selbstkritischer, als der Laie vermutet. Wenn jemand die Möglichkeit letztgültiger Erkenntnis hinterfragt, so sind es meist die Wissenschaftler selber, weil sie ständig mit den Grenzen des Erkennbaren konfrontiert sind.

MONTADA: Die Außcnwahrnehmung ist sicher nicht ganz falsch. Die Wissenschaften, um welche es sich auch handelt, müssen sich heute verkaufen. Und um sich zu verkaufen, muß man mehr behaupten, als man weiß und wissen kann. Wissenschaftsgläubigkeit der Öffentlichkeit - obwohl sie mit der wissenschaftlichen Haltung unvermeidbar ist - ist nützlich für die Ressourcengewinnung. Aber wie ist das mit den moralischen Selbstzweifeln, Herr Singer?

SINGER: Wir haben keine große internationale Konferenz, an der nicht mindestens ein Symposium das Thema Tierschutz behandelt und sich mit den ethischen Grenzen unseres Tuns befaßt. Diese Fragen werden intern sehr wohl reflektiert. Auch ist anzumerken, daß die ersten einschränkenden Normen - noch längst bevor es irgendwelche Gesetze gab - von den Forschungsorganisationen selbst entwickelt wurden, zum Beispiel keine schmerzhaften Eingriffe am nicht narkotisierten Tier vorzunehmen. Wer zuwiderhandelte, konnte die erzielten Erkenntnisse nicht mehr publizieren, ein sehr effektives Instrument der Selbstkontrolle. Die Wissenschaft paßt schon auch selbst auf sich auf. Wir waren längst vor der Novellierung des Tierschutzgesetzes weltweit auf Normen festgelegt, die strenger und vernünftiger waren als das, was uns jetzt abverlangt wird, weil sie von Fachleuten ausgearbeitet wurden.

Aber wie ist es eigentlich mit der moralischen Bewertung vorsätzlich unterlassener Hilfeleistung? Macht sich nicht schuldig, wer vorsätzlich auf Wissen verzichtet und die Gewinnung von Wissen unterbindet, von dem man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen kann, daß es der Leidensminimierung und Schadensabwendung dient? Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich solche Beschränkungen verantworten müßte.

MONTADA: Es ist immer leichter, Schuld für eine begangene Tat als für die Folgen einer unterlassenen Tat zuzuweisen. Der Nutzen der Forschung kann bezweifelt werden, zumal der Nutzen unterlassener Forschung auch nicht konkret spezifiziert werden kann. Der unterlassene Schaden läßt sich leichter beschreiben: viele getötete Tiere weniger. Ein anderes Schuldabwehrargument verweist auf die Risiken, daß mit Forschungserkenntnissen auch Schaden angerichtet werden kann - wofür es viele Beispiele gibt. Niemand kann garantieren, daß mit den Ergebnissen der Hirnforschung nicht Eingriffe möglich werden, die verbrecherischer Natur sind. Wenn man sich durch den Schuldvorwurfzu einem Gegenvorwurfder unterlassenen Hilfeleistung provozieren läßt, führt das zu einer Eskalation des Konfliktes. Reicht es nicht aus, das eigene Tun mit der Erwartung von Erkenntnissen zu rechtfertigen, die hilfreich und nützlich sein werden? Das ethische Problem der Benutzung von Tieren als Forschungsobjekte soll ja nicht geleugnet werden.

SINGER: Allerdings ist das Handeln anderer ethisch ebenso bedenklich, doch kaum beachtet. Die Kammerjäger, die in den Städten zu Zigtausenden Ratten vergiften, mit Gerinnungshemmern die zum Tod durch innere Blutungen führen. Die Taubenvergifter, die Sportjäger, die Fischer, alle Freizeittiernutzer. Wenn in einem rationalen Diskurs verlangt würde, daß ethische Maßstäbe konsistent angelegt werden, würde das zu einer Revolte in der Gesellschaft führen, weil dann viele Bereiche durchleuchtet werden müßten, die ökonomisch außerordentlich sensibel sind. Das artgerechte Halten von Haustieren alleine würde riesige Investitionen erfordern, wenn für diese Tiere die gleichen Bedingungen geschaffen werden müßten wie für Versuchstiere.

GEGENWORTE: Sie sagen beide, man müßte die Debatte anders führen, als sie bis jetzt geführt wurde. Mich interessiert dieses 'Wie', etwa im Umgang mit einer Jugend, die mit einem ganz anderen Ökobewußtsein aufgewachsen ist und natürlich auch erst einmal unwissenschaftlich argumentieren wird.

MONTADA: Die Regeln der Diskursethik, die Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit und der Konfliktmediation habe ich schon erwähnt. Außerdem ist es als Rahmenbedingung besser, man führt den Diskurs nicht vor der Öffentlichkeit, sondern im Kabinett. Das verhindert eine Selbstbindung der Teilnehmer an bestimmte Positionen, von denen sie dann nicht mehr ohne Gesichtsverlust wegzukommen glauben. Weiter sollten nicht zu viele Vertreter einer Position beteiligt sein, weil diese sich auch untereinander festlegen. Die Wissenschaft sollte nicht versuchen, Talkshows nachzustellen.

SINGER: Man müßte Exponenten als Gesprächspartner gewinnen, aber im öffentlichen Diskurs wird sich das als wenig fruchtbar erweisen. Es gibt hier zu viele Zwänge, den Zwang zur Rechtfertigung vor der eigenen Klientel für die Verbandsfunktionäre, der Blick auf die Wähler für die Politiker. Man argumentiert nicht als moralisch urteilendes Individuum, sondern als Gruppenmitglied und Funktionär.

MONTADA: Ich nenne vier Grundhaltungen: 1. Mit Fundamentalisten, die überzeugt sind, die allein gültige Moral zu haben, ist kein Diskurs zu führen. Es gibt viele Moralen, und sie sind widersprüchlich. Damit ist nicht einem Relativismus das Wort geredet, der behauptet "Nichts gilt", sondern ganz im Gegenteil: Vieles gilt, viele Maximen haben Gültigkeit, aber in der ausschließlichen Anwendung verletzt jede Maxime alle anderen. Diskursteilnehmer sollten Einsicht in die prinzipiellen Dilemmata im Umgang mit Maximen haben. Tierschutz als Staatsziel? Im Prinzip nichts dagegen. Es muß aber ein Ausgleich gesucht werden mit anderen Staatszielen und mit anderen in der Verfassung garantierten Rechten: Forschungsfreiheit, Gesundheitsschutz der Menschen, auch Umweltschutz, Freiheit des wirtschaftlichen Handelns und andere Freiheitsrechte, Erhaltung des inneren Friedens. Ich nenne das Einsicht in die Notwendigkeit einer positiven Relativierung: Kein Moralprinzip, keine Moral gilt ausschließlich, sondern sie ist immer zu relativieren auf die Geltung anderer Moralprinzipien. 2. Die Teilnehmer müssen bereit sein, empirisches Wissen als solches zu akzeptieren, wenn es denn belegt ist. 3. Die Argumente der Gegenseite sind so gut wie möglich wiederzugeben. 4. Die Teilnehmer verpflichten sich, nach bestem Wissen nicht nur die Fakten und Argumente zu nennen, die für ihre Position sprechen, sondern auch diejenigen, die gegen ihre Position sprechen, das heißt, sie tragen die Verantwortung für die Kosten und Schäden, die bei Realisierung ihrer Position entstehen. Da es kein Handeln und Entscheiden gibt, das keine Kosten hat und das nicht legitime Ansprüche irgendwelcher Subjekte vernachlässigt oder verletzt, wird man immer schuldig. Alle Beteiligten sollten sich dessen bewußt sein. Dieses Bewußtsein entemotionalisiert den Disput und ist eine gute Voraussetzung für den Diskurs.

GEGENWORTE: Ist das ein Modell, um den Streit tatsächlich zu überwinden, oder ist es ein Modell, das Sie auf einer friedlichen, toleranten Insel probieren würden?

SINGER: Wir müssen es immer probieren, eine andere Chance haben wir nicht. Das ist nur eine Frage der Lebenszeit. Wir haben nicht genug Zeit, um all die Diskurse zu pflegen, die wir pflegen müßten. Die Bewältigung der Informationen in dieser arbeitsteiligen Gesellschaft ist zum zentralen Problem geworden. Wir brauchten effizientere Mediatoren. Wir benötigen Verdichter, Verteiler, Multiplikatoren und diese müssen gänzlich andere Ziele verfolgen als die gegenwärtigen Massenmedien. Wenn Journalisten 30 Sekunden gewähren, um darzulegen, was Bewußtsein ist, wird man sprachlos.

GEGENWORTE: Können Sie als Hirnforscher noch zwei, drei Stichworte sagen, was diese Verteiler und Verdichter können müßten?

SINGER: Sie müßten die Expertensprache beherrschen, damit sie übersetzen können, das heißt, sie müssen wissenschaftlich kompetent sein. Nur Vermittler sein zu wollen, ohne einschlägige Fachkenntnis genügt nicht. Ferner müßten die Mittler von den Wissenschaftsorganisationen und den politischen Organen anteilig bezahlt werden, damit Lobbyfunktionen vorgebeugt wird. Mit wem sie reden, dürfte sich nicht im Gehalt niederschlagen.

MOINTADA: Eine gute Aufgabe: Ich würde sie sofort annehmen, wenn ich emeritiert bin. Unsere Alteren haben das Wissen und die Zeit und die Weisheit dazu. Unsere Gesellschaft ist von allen guten Geistern verlassen, daß wir unsere Leute mit 65 ausgrenzen, statt sie produktiv einzubinden. Hier liegt ein Betätigungsfeld: die Entwicklung einer Kultur der Auseinandersetzung.

SINGER: Da müssen wir über die Rolle der Akademie nachdenken und über die Rolle der dort ansässigen Emeriti. Ich glaube, da ist ein ungeheurer Schatz zu heben an Zeit, was das Kostbarste heutzutage geworden ist, und an Wissen, das ja nicht altert. Die Emeriti könnten diese Rolle übernehmen. Sie wären gezwungen, aktiv zu bleiben, zu schreiben, zu reisen, sie wären dann auch weniger anfällig für Alzheimer. Herrlich wäre das.