Heft 5 - Hermann Bausinger: SPORT - VORBILD ALLER EVALUATIONSBEMÜHUNGEN Robert Musil porträtiert in seinem großen Romanwerk einen Mann, der aus zunächst erfolgreich begonnenen Karrieren aussteigt und sich allen gängigen bürgerlichen Festlegungen verweigert. "In wundervoller Schärfe sah er, mit Ausnahme des Geldverdienens, das er nicht nötig hatte, alle von seiner Zeit begünstigten Fähigkeiten und Eigenschaften in sich, aber die Möglichkeit ihrer Anwendung war ihm abhanden gekommen." Seine Haltung trägt ihm die Charakteristik ein, die Musil als Titel des Romans wählt: "Der Mann ohne Eigenschaften".
Eigenschaft und Qualität sind nicht dasselbe. Aber die Erfahrung, welche die Verweigerung begründet oder wenigstens auslöst, hat mit Qualität und mit der Bewertung von Qualität zu tun - es ist gewissermaßen ein desillusionierendes Evaluationserlebnis. Ulrich - so heißt der Held des Romans - liest in einem Zeitungsbericht die Wendung "das geniale Rennpferd", und schlagartig wird ihm klar, dass das heraufkommende Zeitalter der "Körperkultur Genialität nicht mehr in erster Linie an geistigen Leistungen festmacht, sondern an den Höhenflügen des Sports. Nur halb ironisch setzt Musil "die Listen, die ein erfinderischer Kopf in einem logischen Kalkül anwendet", mit den Finessen eines Meisterboxers gleich, und mit einem Seitenblick auf das geniale Pferd konstatiert er: "man darf nicht unterschätzen, wie viele bedeutende Eigenschaften ins Spiel gesetzt werden, wenn man über eine Hecke springt." Und schließlich spürt er den eigentlichen Grund für die Verschiebung auf, die man heute wohl als gesellschaftlichen Paradigmenwechsel bezeichnen würde: "Nun haben aber noch dazu ein Pferd und ein Boxmeister vor einem großen Geist voraus, dass sich ihre Leistung und Bedeutung einwandfrei messen lässt und der Beste unter ihnen auch wirklich als der Beste erkannt wird, und auf diese Weise sind der Sport und die Sachlichkeit verdientermaßen an die Reihe gekommen, die veralteten Begriffe van Genie und menschlicher Größe zu verdrängen."
Die Bedeutung, die Musil diesem Befund beimaß, lässt sich nicht nur daran ablesen, dass er damit die Weichen für das Handeln und vor allem das Nicht-Handeln der Hauptperson seines Romans stellte. In einer "durch die Brille des Sports" überschriebenen fragmentarischen Skizze, die aus dem Nachlass veröffentlicht wurde, greift er das Problem nochmals auf. Er registriert erneut die Haltung des großen Publikums: "unter den Leistungen sind es heute schon die körperlichen, die fast allen Menschen Vergnügen machen, was man von den geistigen nicht sagen kann", und er wiederholt, wie wichtig es ist, dass im Sport einwandfrei gemessen werden kann: "Man müsste der Idealfigur des Sportsmanns auf den Statuen, die ihr errichtet werden, also eigentlich ein Metermaß in die Hand geben, wie es die Schneider um den Hals tragen, und nicht nur das Lorbeerreis." Erst über die Möglichkeit exakter Messung lässt sich Genialität bestimmen. Bei "Entdeckern, Tenören oder Schriftstellern" fragt man sich später, "ob diese Genies wirklich genial gewesen seien"; im Sport dagegen ist "der Begriff des Genies" genormt und gesichert: "Sein Hauptbestandteil ist das Unvergleichliche, und dieses lässt sich natürlich auf Geschwindigkeiten, Muskeln, körperliche Treffsicherheit und dergleichen eindeutiger anwenden als auf geistige Leistungen." All das sind Anmerkungen, mit denen sich das Olympische Komitee und andere Sportorganisationen besser nicht schmücken sollten: Musil ist ein hellsichtiger Beobachter kultureller Tendenzen, aber er trägt seine Beobachtungen vor im Grundton einer ins Ironische gewendeten Melancholie. Er sieht - übrigens selbst ein trainierter Athlet - gewisse neue Möglichkeiten der Selbsterfahrung im Sport, doch ist er weit davon entfernt, die von ihm registrierte Abwertung des Geistigen einfach hinzunehmen. Indessen bleibt seine Gegenüberstellung von Bewertungen im Sport und in den Bereichen geistiger Arbeit diskutabel. Tatsächlich bietet der Sport das Beispiel einer weithin verlässlichen Qyalitätsbestimmung. Mehrere Gründe sind dafür maßgebend. Erstens geht es im Sport um klar definierbare Leistungen. Man kann sogar sagen, dass der Sport entscheidend zur 'Emanzipation' von Leistung, zu ihrer Herauslösung aus Zweckbestimmungen beigetragen hat. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war Leistung fast ausschließlich die Erfüllung einer Aufgabe - wie dies noch in unserem Sprachgebrauch von Dienstleistung oder vom Ableisten der Wehrpflicht gegenwärtig ist. Dann erst wurde Leistung zum Selbstzweck, zur bewertbaren Größe in einem abgegrenzten Bereich. Die sportlichen Disziplinen mit ihrer präzisen, durch Regeln abgesicherten Bestimmung boten dabei eine besonders klare Möglichkeit - im Blick auf die Genese ist es allerdings richtiger zu sagen, dass das Bedürfnis, Leistung klar zu erkennen und zu bewerten, zur genauen Definition sportlicher Disziplinen führte. Jedenfalls sind Leistungen im Sport besonders evident, da sie nicht in ein komplexes Geflecht von Zwecken und Zielen verwoben sind. Die Leistungen können zwar sekundär vielerlei Zielen zugeordnet werden, von gesundheitlichen bis zu politisch-ideologischen, aber ihr primärer Bezugs- und Bewertungsrahmen ist die jeweilige sportliche Disziplin.
Zweitens bietet sich für viele Sportarten ein sicherer Maßstab für die Leistungen an. Die Qualität und die Qualitätsunterschiede finden ihren Ausdruck in Quantitäten, in eindeutigen Messgrößen. Sieht man von Unzulänglichkeiten oder auch Mogeleien des technischen Personals ab, dann kann man sagen, dass 8,13 Meter im Weitsprung tatsächlich 8,13 Meter und 125 Meter im Schispringen tatsächlich 125 Meter sind. Wer auch nur einigermaßen mit den Sportarten vertraut ist, wird allerdings sofort einen wichtigen Unterschied registrieren: Beim Weitsprung und den anderen leichtathletischen Disziplinen wird mit einigem Recht unterstellt, dass die Bedingungen zwar nicht gleich, aber doch einigermaßen vergleichbar sind. Dieses Konstanthalten der Bedingungen ist eine dritte Voraussetzung für die objektive Vergleichbarkeit von Leistungen. Sie ermöglicht das Festlegen von Rekordmarken. Diese werden auch im Schispringen ausgewiesen; aber da es keine einheitliche Norm für den Bau der Schanzen und ihre Einpassung ins Gelände geben kann, spielt hier die absolute Skala der Leistungen nur eine untergeordnete Rolle. Von Bedeutung ist dagegen der jeweilige Schanzenrekord - und vor allem der unmittelbare Leistungsvergleich. Ein unangreifbares Ranking ist keineswegs immer erreichbar. Die Rahmenbedingungen können in vielen Fällen nur idealiter konstant gehalten werden. Beim Schispringen und beim Slalom beeinflussen Änderungen von Windstärke und -richtung die Ergebnisse. Nur die absolute Gleichzeitigkeit garantiert Chancengleichheit; sie ist aber nur selten erreichbar - in den Laufwettbewerben beispielsweise nicht wegen der Abfolge der Vorläufe, und auch Sprünge und Würfe können plötzlich vom Winde verweht werden. Wo nur zwei - zwei Personen oder zwei Mannschaften - gegeneinander kämpfen, ergibt sich eine Rangliste erst über die Summierung der Einzelergebnisse in den Tabellen. Und bekanntlich gibt es Sportarten, in denen zählbare Befunde fehlen: Im Eiskunstlauf, bei Turnübungen, auch beim Boxen (sofern nicht ein K.-o.-Schlag klare Verhältnisse schafft) übersetzen Punktrichter ihre Eindrücke in Wertungsnoten. Sie erkennen die Schwierigkeitsgrade und haben gewisse Normen für die Bewertung im Einzelnen im Kopf - aber es ist kein Zufall, dass das Publikum nicht selten unwillig reagiert, teilweise deshalb, weil es mit anderen Normen und Erwartungen operiert, zum Teil aber auch deshalb, weil solche Wertungsverfahren tatsächlich mit erheblichen Unsicherheiten belastet sind. Die Analogie liegt auf der Hand. In vielen Bereichen, in denen man gegenwärtig Qualität in Zahlen zu übersetzen versucht, ergeben sich erhebliche Probleme. Es ist schwierig, geistige Leistungen zu bewerten, wenn sie in komplexen Zusammenhängen stehen und wenn das Anforderungsprofil, also die Leistungsvorschrift, nicht schematisch definiert werden kann oder soll. In der Arbeit wissenschaftlicher Institutionen gibt es wenig Zählbares - Absolventen-Zahlen etwa oder den 'Pubhkationsquotienten'. Messung ist jedenfalls nur in Teilbereichen denkbar. Die Arbeitsbedingungen sind keineswegs überall gleich. Der Wettstreit in den Disziplinen und zwischen den Disziplinen ist grundsätzlich ein indirekter, und die Vergleichbarkeit ist selbst innerhalb der Fächer durch die hochgradige Spezialisierung erschwert. Schließlich: Um die Anforderungen und Leistungen in den verschiedenen Feldern - Forschung, Lehre, Wissenschaftsorganisation mit jeweils zusätzlichen Unterteilungen - unter einen Bewertungshut zu bringen, bedarf es so komplexer Operationen, dass im Vergleich damit die Abwägung der verschiedenen Leistungen im leichtathletischen Zehnkampfwie das kleine Einmaleins erscheint. All das ist kein prinzipieller Einwand gegen den Versuch, Leistungsvergleiche zu entwickeln - es ist ein Hinweis auf unvermeidliche Schwierigkeiten, vielleicht auch auf gewisse Möglichkeiten. Ein Blick auf den Sport kann jedenfalls bei der Evaluation von Evaluationsbemühungen nicht schaden. Ein Seitenblick sollte dabei auch auf die Revisionstendenzen im Sport fallen. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts behauptete der Sport nicht nur seine dominante Stellung als passives Freizeitvergnügen im Stadion und vor dem Bildschirm - er gewann über die Parole "Sport für alle' und über die Entwicklung neuer Sportarten auch sehr viele aktive Anhängerinnen und Anhänger. Verschiedentlich wurde mit diesem großen Zulauf das Ende des Leistungssports konstatiert - zu Unrecht. Auch beim Besuch von Fitness-Studios und beim Jogging wird Leistung angestrebt und meistens auch gemessen, aber der Bewertungsmaßstab ist relativ; es geht um die Entfaltung der individuellen Möglichkeiten. Die dem Sport tief eingeschriebene Übertrumpfungsidee ist in den letzten Jahren etwas zurückgetreten. Die sogenannten No-winner-games haben zwar nur wenig Boden gewonnen und den Reiz des Wettstreits nicht verdrängt; aber neben den etablierten Organisationen und Hütern des Sportsgeists entstehen immer mehr Orte, an denen Sport spielerischer aufgefasst wird. Wahrscheinlich wäre es kurzschlüssig, Langzeitstudierende als die No-winner-Repräsentanten der Universitäten zu würdigen, aber es hat schon immer zu den Verdiensten der Hochschulen gehört, nicht nur auf Noten und Impactfaktoren zu setzen, sondern auch Bedingungen für freie individuelle Entwicklung zu schaffen. Und auch die Wissenschaft wird nicht nur an jenen Orten betrieben, die beanspruchen, allein die Kompetenz dafür zu haben. Die Statue der Idealfigur des Wissenschaftlers sollte jedenfalls auch künftig nicht mit einem Metermaß ausgestattet werden. Das hat er nicht verdient. Der Sportler übrigens auch nicht. | |