Heft 5 - Dieter Simon: ASPEKTE DER QUALITÄT Alle sagen es - wenn auch mit verschiedenen Worten. Neidhardt sagt es, Mittelstraß sagt es, und ich sage es auch:
In Deutschland herrscht Evaluitis. Die Evaluitis ist eine fiebrige Erkrankung, die unversehens den Körper der Wissenschaft in seiner Gesamtheit erfasst hat. Und nicht nur ihn. Alle Stätten der Wissensproduktion werden einer generellen Revision unterzogen. Es gibt keine nichtbefallenen Teile mehr. '0ptimierung der Qualität' ist zum ubiquitären Bedürfnis geworden. Alles und alle sind betroffen. Universitäten und außeruniversitäre Einrichtungen. Fachhochschulen, Gesamtschulen und Fortbildungsinstitute. Der einzelne Forscher als Wissenschaftler, als akademischer Lehrer und als Mensch. Die Gesamtheit der Gelehrten, sei es mit ihrer Einrichtung, sei es ohne sie. Die Totalität der wissenschaftlichen Anstalten als selbständiges System. Die Akademien und die Förderungsinstitutionen, die Krankenhäuser, das Dienstrecht, die Parkplätze und die Bibliotheken. Die Preisverleihungen. Der große Nobelpreis und die kleinen Nobelpreise. Überall die gleiche bange Frage: Wie können wir die Gutachter zu der Überzeugung bringen, dass wir wirklich 'Qualität' liefern? 1974 publizierte Robert M. Pirsig einen autobiografischen Text ("Zen and the Art of Motorcycle Maintenance"), der sich auch in Deutschland schnell zu einem Bestseller und Kultbuch ("Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten") entwickelte und heute (mit der inzwischen 25. Auflage) immer noch an Lesern gewinnt. "What the hell is quality? What is it?" ist die zentrale Frage des Buches. Eine Frage, die den Helden am Ende seiner wissensgeschichtlichen Erkenntnisfahrt in den Wahnsinn treibt. Eine Frage, die zurückführt in die mythische und relative Welt, in eine Welt, die noch ohne das sokratisch-platonische Ideal der menschenunabhängigen, 'absoluten' Wahrheit lebte. Die Schicksalsfrage aller Gutachter, Bewerter und Evaluatoren:
Was zum Teufel ist Qualität? Eine Frage, an der heute, obwohl wir nicht in den Mythos zurückgekehrt sind, gleichwohl keiner mehr zerbricht. Diesen Zustand zu erreichen war nicht schwer. Es musste lediglich eine bekannte, beunruhigende Beobachtung verdrängt und eine andere in ein Vertrauen erweckendes Phänomen umgedeutet werden. Die Beunruhigung: Es gibt die leidvolle Erfahrung, dass es sehr schwer, ja nahezu unmöglich ist, eine handfeste Definition dafür zu geben, was Qualität 'an sich' eigentlich ausmacht. Wieso hat ein Bild, ein Buch, ein Theaterstück, ein Gebäude, ein wissenschaftliches Resultat Qualität und ein anderes nicht? Wie soll man messen, was man nicht definieren kann? Denn schließlich kann man ohne Maß nicht vergleichen und ohne Vergleich nicht rational entscheiden. Man sieht doch täglich, wie sich die Experten winden, wenn sie ein Urteil detailliert, aber ohne Bezug auf andere Wissende begründen müssen. Die Umdeutung: Der Beunruhigung steht die zumindest irritierende Feststellung gegenüber, dass innerhalb und außerhalb der Disziplinen offenkundig ein weit verbreitetes Einverständnis darüber herrscht, ob und wann Qualität vorliegt. Man 'weiß' es einfach. Ein Umstand, der für den Helden Pirsigs, der er unter dem Namen Phaidros selber ist, zum Ausgangspunkt weit greifender Reflexionen wird: Wieso kennt man etwas, das man ohne den Gegenstand, dem es anhaftet, nicht exakt beschreiben kann, so dass man es eigentlich nicht kennt? Was Phaidros/Pirsig als Ausgangspunkt nehmen, kann man allerdings auch zum Endpunkt allen Nachdenkens machen. Die selbstbewusste, abendländische Frage des Sokrates an den zeitgenössischen Dialogpartner und Sophisten Phaidros:
"Was aber gut ist, Phaidros, und was nicht-müssen wir danach erst andere fragen?" kann ohne Umstände als Antwort ausgegeben werden. Man braucht andere nicht zu fragen, weil man das Wissen in sich trägt. Man weiß zwar nicht, warum, aber man weiß, dass. Das genügt. Nichtwissen ist umgedeutet in Einsicht. Die Zuverlässigkeit der Peers beruhigt die Zweifel, ob das dünne Eis tragen wird. Der Phaidros des Pirsig war seinerzeit damit nicht zufrieden und wurde verrückt. Die Evaluatoren der Gegenwart sind ebenfalls nicht ganz zufrieden. Aber sie verrennen sich nicht in diese Unzufriedenheit, teils aus intellektueller Bescheidenheit, teils weil sie fürchten, sie könnten verrückt und damit nutzlos werden. Sie haben ihre Unzufriedenheit in andererweise transformiert: Sie messen, messen und sind begeistert oder tun jedenfalls so. Was messen sie? Sie messen die 'Aspekte' der Qualität. Ein Lippenstift hat Qualität, wenn er nicht schmiert. Eine klare Sache. Ein gewichtiger Aspekt. Leider ist viel zu wenig in der Wissenschaft lippenstiftmäßig. Aspekte sind leicht oder gewichtig. Aspekte sind ambivalent. Mal dienen sie dem Bösen, mal dem Guten. Aspekte sind zahlreich und vielfältig. Aspekte sind nicht zeitlos, sondern historisch. Ein vollständiges Wörterbuch zu Goethe zu schaffen ist für die meisten, und unter den meisten für die Besten, eine wissenschaftspolitische Entscheidung von hoher Qualität. Ein Wörterbuch zu Chamisso wäre es nicht. Goethe ist noch da, Chamisso wird nur noch von Spezialisten registriert. Goethe gehört weiterhin den Bürgern. Aber die Spezialisten warten schon auf ihn. Die Großgutachter von Brüssel sonnen sich selbstgewiss in fünf Aspekten: l. wissenschaftliche Exzellenz (veranschlagt mit 35 %); 2. zusätzlicher 'sozialer' Wert (veranschlagt mit 35 %); 3. internationale Netzwerkbildung (10 %); 4. Nationenrepräsentation (10 %); 5. Management des Projekts (10 %). Wer die 100 % mit 80 % Exzellenz und 4 x 5.5 für den Rest zu erfüllen versucht, fällt durch. Wie bei den Stiftungen und am Ende auch bei der DFG: die Aspekte der Programme entscheiden. Darauf kann man sich einstellen, das kann man ausrechnen und vorhersehen. Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit: die klassischen Komponenten der Rechtssicherheit. Rechtssicherheit gilt weltweit als ein hohes Gut. Sie macht das Ergebnis kalkulierbar. Sie adelt jedes Verfahren. Aspekte sind das Ergebnis analytischen Denkens. Die Rettung all jener, die Qualität beurteilen, ohne zu wissen, was Qualität ist.
Die 'Studienstiftung des Deutschen Volkes' fördert nur Hochbegabte. Hochbegabt ist, wer höher begabt ist als andere Begabte. Wer ist höher begabt? Das Interesse für das gewählte Fach ist selbstverständlich von großem Gewicht. Außerfachliches ist erst recht bedeutsam. Man fragt nach den Hobbys. Nicht nur Medizin, sondern auch Bratsche. Mathematik im ersten Semester wie andere nicht einmal im fünften - und außerdem Baugeschichte und Experte für Gauguin. Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist demgegenüber von geringem Belang. Völlig bedeutungslos ist das Geschlecht. Weiblichkeit oder Männlichkeit kann doch kein Aspekt der Qualität sein. Freilich: Wo kommt eigentlich der Satz her: "Für eine Frau eine ungewöhnlich fantasielose Sicht der Dinge?" Immerhin: Als der Gutachter nach Abschluss des Verfahrens beim Wein vergnügt auf die schönen Brüste der Kandidatin hinwies, wurde er besorgt gefragt, ob er diese etwa zum Aspekt gemacht habe. Als er ungeniert bejahte, wurde er umstandslos aus dem (nächsten!) Begutachtungsverfahren eliminiert. Das war natürlich eine Ausnahme, wie es sie immer gibt. Die meisten sind anständig und setzen auf Objektivität. Zum Beispiel auf den Impact factor, den der Kenner nur als IF zitiert. Der IF ist sowohl unbestechlich als auch einfach. Zitate-Zahlen genügt. Sachurteile sind nicht gefragt. Nicht einmal rechnen ist erforderlich. Die hartnäckigen Hinweise auf die leichte Manipulierbarkeit von Zitaten, auf die 997 Wege, die zur Verfügung stehen, um ihre Häufigkeit künstlich zu erhöhen oder zu senken, sind wertlos. Sie können die eine, die schlichte Wahrheit nicht leugnen: Wer oft zitiert wird, hat Bedeutung. Wer öfter zitiert wird, hat größere Bedeutung. Wer immer zitiert wird, hat die größte Bedeutung. Das gilt für Zeitschriften und für ihre Autoren. Was für den Politiker der Medienauftritt, ist für den Wissenschaftler das Zitat. Selbst Heroen - lebende und tote - bilden keine Ausnahme. Der vor einem Jahrzehnt häufiger zitierte ministerielle Satz "Marx ist tot, aber Jesus lebt", wies auf das jähe Ende einer Größe hin, deren Impact factor innerhalb von wenigen Wochen aus schwindelnden Höhen auf Null geplumpst war. Inzwischen ist auch der IF des Ministers denselben Weg gegangen. Selbstverständlich ist auch der Iropact factor nur ein Aspekt. Er kann ersetzt oder ergänzt werden. Als die ostdeutsche Wende das Signal zur Qualitätsprüfung der Wissenschaft der DDR gab, war mit dem IF nichts anzufangen. Im Westen fand sich kein 'impact' aus dem Osten. Umgekehrt galt dasselbe. Aber umgekehrt galt nicht, weil der Westen evaluierte. Eine Landschaft ohne Zitate ist zwar leer, eine Wüste. Aber die Wüstenaspekte lassen sich bewerten: politische Absichten? Texte in der Schublade? Ergebenheitsadressen? Proletarische Zielsetzungen? Besonders überzeugend gelang zunächst keine der Systemanalysen. Irgendwie blieb die Sache unbehaglich. Nicht objektiv. Bis endlich einer die Geschwindigkeit entdeckte. Qualität beweist sich durch Leistung. Leistung ist definiert als die Arbeit in der Zeiteinheit. War es nicht einfach das Leistungsprinzip, dessen Fehlen den Osten so hässlich machte? Welches Produkt wird in wie viel Mann-Jahren druckfertig oder exportfähig vorgelegt? Dieser Hammer macht die Ossis heute noch sprachlos.
Manche 'Aspekte' sind evident. Andere sind geheim. Manchmal so geheim, dass sie niemals angesprochen werden. Wie ein Zauberwort, dürfen sie nicht ausgesprochen und erst recht nicht diskutiert werden. Sonst müsste man ihre Existenz dementieren, und sie würden ihre Wirkung verlieren. Die Wirkung muss sich einschleichen können, wie beim Zustandekommen verbotener Kartellabsprachen. Die Chefs soupieren und unterhalten sich ober das Wetter und die Geschäfte im Allgemeinen. Was gut ist und was besser vermieden werden sollte. Am Abend steigen weltweit und übereinstimmend die Benzinpreise um genau denselben Betrag. So geht es auch bei den geheimen Aspekten: 'Jude' ist so ein Aspekt - manchmal auch 'Frau' oder 'schwul'. Aber 'Jude' ist jedenfalls geheimer. Denn 'Frau' wird mit fortschreitender Emanzipation ständig explizit zum Aspekt gemacht, und die Schwulen machen sich selbst immer häufiger dazu. Juden erkennt man dagegen allenfalls am Namen, der aber kein sicheres Kriterium ist. Deshalb ist 'Jude' kein verlässlicher Aspekt. Und außerdem ist er kontextabhängig: manchmal gut, manchmal schlecht. Erfahrene Gutachter gehen ihm aus dem Wege und hüten sich mit verschlossenen Mienen vor Fragen. Denn schon die Frage erweckt den Verdacht, hier könne einer zum Aspekt machen wollen, was doch einverständlich kein 'Aspekt' ist. Aspekte für Anträge auf Förderung sind regelmäßig evident: Selbstverständlich muss der genaue Abschluss der Forschungsarbeit angegeben werden können. Drei Jahre, ein wichtiger 'Aspekt'. Ein Jahr Einarbeit, ein Jahr Arbeit, ein Jahr für den Abschlussbericht. Auch das erwartete Ergebnis sollte deutlich beschrieben werden. Schließlich ist es ein 'Aspekt'. Die Ausrede, dass die Forschung wegen des Nichtwissens angestellt werde und dem Unerwarteten Raum geben müsse, wird nicht akzeptiert. Das Unerwartete kann schließlich nicht gemessen werden. Überraschungen haben keinen Stellenwert auf der Skala der Evaluation. Wer wundert sich noch über die Gleichförmigkeit der Welt? Wer den Konsens anstrebt, regelt und ausschließlich ihn belohnt, bekommt, was er verdient. Auch Vorlesungen werden evaluiert. Man braucht Regisseure als Experten. Der Schauspieler als Vorbild. Was pflegen Dompteure der Masse anzubieten? Die Performance ist Qualität und hat deshalb ihre 'Aspekte' Redet der Professor mit dem Gesicht zur Wand? Liest der Vorleser vor? Ein Konzept wird erwartet, in dem Höhenflüge, Hebammenkünste und didaktische Mätzchen treulich vereint das studentische Individuum in eine Kreuzung aus Bildungsbürger und zukunftsoptimistischem Ingenieur verwandeln. Nach drei Minuten muss der erste Witz kommen. Lerneinheiten werden erwartet, die ausgewogen und abgemessen zu sein haben. Kein sinnloses Fuchteln mit den Händen. Sparsame Mimik. Selbstdisziplin hat das Schweifen der Rede und die spontane Verfertigung struppiger Gedanken zu unterbinden. Anzustrebender 'Aspekt': Vorlage eines logopädischen Zertifikats über ohrschmeichelnde Lehrbefähigung. Notwendige Frage an eine übergeordnete Instanz (zum Beispiel: das Evaluationsevaluierungsbüro): Besteht wirklich ein prinzipieller Unterschied zwischen den 'Aspekten' Alter, Geschlecht, Impact factor, Juden, freie Rede und Mannjahren? Die Antwort: Theoretisch schon. | |