Heft 6 - Ulrike Pfeil: IM DAZWISCHEN KOMMEN DIE DINGE ZUSAMMEN Niels Birbaumer, medizinischer Psychologe und Hirnforscher Er sagt von sich selbst, dass er "zwischen allen Stühlen" sitze mit seinem Fach. Verhaltensneurobiologie. Mindestens drei verschiedene Disziplinen stecken schon in diesem Wort: Sozialwissenschaft, Medizin, Naturwissenschaft. Und innerhalb der Medizin allein, sagt Niels Birbaumer, stehen wieder tausend Stühle herum, zwischen denen man eher unkomfortabel Platz nehmen kann. Bequem sitzen zurzeit die Genfbrscher, die molekulare Richtung dominiert in den Naturwissenschaften. "Die großen Verhaltenszusammenhänge, in denen wir denken, das ist ja im Moment weniger gefragt." Sein eigener, erster akademischer Titel ist übrigens ein Dr. phil. Schwer einzuordnen also in das wissenschaftliche Schubladen-System, dieser in der Nähe von Prag geborene 55-jährige Professor, der auch nach fast drei Jahrzehnten im schwäbischen Tübingen seinen ausgeprägt wienerischen Akzent behalten hat. Obwohl er nun kein Österreicher mehr sein will, seit Jörg Haiders rechte 'Freiheitliche' dort in der Regierung sitzen. Aber das ist ein anderes Thema.
Als Forscher widmet er sich dem menschlichen Gehirn, genauer, der Wechselwirkung zwischen Bewusstsein, Empfinden und Gehirnprozessen. Wo von Schmerzforschung, Schmerzursachen, Schmerzbekämpiung die Rede ist, kommt die wissenschaftliche Publizistik an Birbaumer und seinem Forschungsteam schon lange nicht mehr vorbei. Der Phantomschmerz etwa, den Amputierte in längst verlorenen Gliedmaßen spüren, zeigt, dass das Gehirn Schmerzempfmden speichert und von einer aktuellen, realen Schmerzursache abgekoppelt reproduzieren kann. Birbaumer hat herausgefunden, dass sich dieses selbständige Lernverhalten des Gehirns beeinflussen lässt durch bewusste Anstrengung, die wiederum Hirnströme aktiviert und die Physiologie des Gehirns verändert. 'Biofeedback' ist der Begriff für die neuropsychologische Behandlungsmethode, die versucht, die unbewusst gelernte Verhaltensautomatik des Gehirns zu verändern. Eine vereinfachte Beschreibung: Der an einen Elektro-Enzephalographen angeschlossene Patient bekommt seine eigene Steuerungsleistung durch Farbpunkte und -flächen auf einem Bildschirm angezeigt; das ist das Feedback, die Belohnung. Die Methode kann bei psychosomatischen Leiden wie Migräne oder anderen chronischen Schmerzen eingesetzt werden, aber auch bei neurologischen Krankheiten wie Epilepsie und Parkinson. Wer als Forscher nicht im Mainstream schwimmt, muss wenigstens die Öffentlichkeit vom Sinn und Nutzen seiner Wissenschaft überzeugen, um an Forschungsgelder zu kommen. Birbaumer ziert sich gegenüber den Medien nicht. Er ist zugänglich, offen, direkt, manchmal erfrischend provokant. Vor ein paar Jahren hat er den Leibnizpreis gewonnen, einen der höchst dotierten Forschungspreise der Welt. Die drei Millionen setzte er für ein Projekt ein, das Patienten hilft, die als 'Locked in' bezeichnet werden. Es sind Menschen, die so schwer gelähmt sind, dass sie nicht mehr kommunizieren können, weder mit der Stimme noch durch Gesten. Birbaumer und sein Team haben ein Gerät entwickelt, das ihre Hirnströme in Bildschirmsignale umwandelt. Allein durch starke Konzentration können sie Bälle mit ihren Hirnströmen auf einem Computer-Bildschirm so bewegen, dass damit bestimmte Buchstaben ausgewählt, sozusagen 'angekhckt' und zu Texten zusammengestellt werden. Was unendlich mühsam wirkt, wird von den Patienten doch als ungeheure Befreiung empfunden, eine ganz wesentliche Verbesserung ihrer eingeschränkten Lebensqualität. Und schon kommen Birbaumer und seine Mitarbeiter zwischen medizin-ethischen Stühlen zu sitzen. "Man hat solche Patienten lange für quasi tot gehalten", sagt Birbaumer. "Jetzt teilen sie uns mit, dass sie durchaus gern leben." Das wirti neue ethische Fragen auf über die Definition von Leben und Lebensqualität. Birbaumers Methoden brauchen Apparate, vor allem aber menschliche Trainer. Sie kommen dafür ohne Psychopharmaka aus, weshalb er von der medizinisch-pharmazeutischen Industrie keine Forschungsförderung zu erwarten hat. Ein "rotes Tuch" sei er für sie - aber das regt ihn nicht wirklich auf. Nicht dass Pharma-Forschungsgelder für ihn anrüchig wären. Er hat des Öfteren darum gebeten, mit dem Argument, "dass wir eine therapeutische Ergänzung bieten, die auch die Akzeptanz von Pharmaka erhöhen würde". Die offizielle Begründung für die Absagen lautete immer: Ihre Sache ist nicht patentierbar. Der wahre Grund, denkt Birbaumer, war aber, dass sie schwer verkaufbar ist. Weil sie nicht nur an Technik gebunden ist, sondern auch an menschliche Expertise. "Und die Industrie möchte ja gerade den Menschen einsparen." In der amerikanischen, vorwiegend privat, also industriell finanzierten Wissenschaftskultur könnte er mit seinem Ansatz nicht überleben, behauptet Birbaumer. Er hat sich lange genug in den USA aufgehalten, um die deutsche, noch sehr stark öffentlich gesteuerte Forschungsförderung zu schätzen - bei allem Konservatismus, der auch diesem System anhaftet. Ein Lob für die DFG, die "aus der Nazizeit gelernt hat", dass die freie Orientierung der Forscher nicht durch Vorgaben gelenkt werden sollte. "Einer der wesentlichen Gründe, warum ich nach Europa zurückgekommen bin." Auch im deutschen Wissenschaftsmilieu zählt Birbaumer freilich nicht zu den Angepassten. Schon der Weg zu seinem Institut in einer reichlich verbauten Tübinger Villa führt durch Feindesland: Sein Lehrstuhl 'Medizinische Psychologie' ist im selben Gebäude wie die Abteilung für Klinische Psychologie, die zum Psychologischen Institut gehört, zur Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften also. Auch Birbaumer war ursprünglich ein Mitglied dieser Fakultät - bis er sich im Streit von ihr abkoppelte und bei der Medizinischen Fakultät um Asyl bat. Nur die räumliche Trennung konnte noch nicht vollzogen werden.
Für Birbaumer ist die Psychologie zu sehr ihren geisteswissenschaftlichen Wurzeln verhaftet, zu sehr Interpretationswissenschaft, wo man es doch naturwissenschaftlich eindeutiger haben könnte. Diese - wenn man so will - radikal materialistische Orientierung geht auf seinen Wiener Lehrer Hubert Rohracher zurück. Dessen Psychologie-Vorlesung, die er als "philosophische Pflichtveranstaltung" besuchte, verdankte der damals zwischen Germanistik, Kunstgeschichte einerseits und Psychologie, Medizin andererseits schwankende Student den entscheidenden, richtungweisenden Impuls. "Rohracher akzeptierte für das psychische Erleben nichts außer dem Gehirn.".Den vom Elternhaus her künstlerisch, geisteswissenschaftlich geprägten Birbaumer beeindruckte an diesem Zugang "die Klarheit", es war der Kontrast zum literarisch-musischen Denk- und Lebensstil des Vaters. Nun fügte er sich in die Tradition des Wiener Materialismus, wie er von dem Philosophen Moritz Schlick um die Jahrhundertwende eingeführt wurde. "Schlick, Rudolf Carnap, Wittgenstein, das war unsere Wiener Schule." Birbaumer blieb bei Rohracher bis zu dessen Tod 1968.
Es war eine politisch turbulente Zeit. Assistent Birbaumer, aufmüpfig von Natur, ein Linker aus humanistischer Überzeugung, schloss sich der antiautoritären Protestbewegung an und wurde zusammen mit anderen Institutskollegen von Rohrachers jungem Nachfolger "kollektiv gefeuert". Das war das Ende seiner wissenschaftlichen Existenz in Österreich.
Er ging nach England, in die Heimat des Materialismus. "Das hat gepasst, diese ganze posirivistische Einstellung dort, sie war ja durchaus mit politischer Liberalität, mit Links-Sein verbunden." Just während die westdeutsche intellektuelle Linke unter dem Einfluss der Kritischen Theorie den Positivismus verdammte und Sigmund Freud und die Psychoanalyse neu entdeckte. Zur Psychoanalyse pflegt der Wiener Birbaumer übrigens eine sehr entschiedene Abneigung, weshalb die Analytiker in ihm einen Erzfeind sehen, einen ganz bösen Behavioristen. Vor allem die "geheimbündlerlsche Organisation", die schon Freud zu Lebzeiten betrieb, hat für Birbaumer den aufklärerischen Anspruch der Psychoanalyse vollkommen diskreditiert. Wieso die Linke sie dann trotzdem für links und fortschrittlich hielt? Ein reines Missverständnis, sagt Birbaumer, welches er darauf zurückführt, dass Psychoanalytiker von den Nazis verfolgt und in die Emigration getrieben wurden. Was zu dem patenten, wenn auch irrigen Umkehrschluss geführt habe: "Nazi-Opfer, also fortschrittlich, also links".
Dabei war das mit den politischen Zuordnungen schon damals, 1968 ff., viel verzwickter, wie seine eigene Geschichte zeigt. Wie so viele hatte ihn spätestens der sowjetische Einmarsch in Prag nachhaltig politisch verstört, 'Links-Sein' war mehr eine kulturelle Haltung geworden, die in Theorie und Praxis nach Italien tendierte, weg jedenfalls von den Hoffnungszerstörern des realsozialistischen Blocks. Gleichwohl galt er den damals an der Tübinger Universität tonangebenden, eher stramm leninistisch orientierten Studenten als 'Linker', weil er für einen materialistischen, physiologischen Wissenschaftsansatz bekannt war. Die Studenten setzten den zu der Zeit in München lehrenden 29-jährigen Birbaumer auf die Berufungsliste für eine vakante Psychologie-Professur. Platz vier, das schien eh aussichtslos. Und wäre dann fast ein Politikum geworden, als die drei Erstplatzierten absagten. Der damalige konservative Uni-Präsident blieb grundsatztreu: "Liste ist Liste", befand er und so kam Birbaumer nach Tübingen. Mit dem Präsidenten verstand er sich übrigens später auch persönlich sehr gut.
Das Zwischen-den-Stühlen-Sitzen, die Verweigerungslust gegenüber Lagerbildung, das Hinterfragen überkommener Ordnungsschemata, interdisziplinäres Grenzen-Überschreiten, Auszeichnungen und Irritationen - all das verbindet sich bei Birbaumer zu einer genussvollen wissenschaftlichen Produktivität. Immerhin hat er nachgewiesen, dass das Bewusstsein das Sein bestimmt (nämlich die Gehirnstruktur), und das auf streng materialistischer Grundlage. Dabei hält er es erkenntnistheoretisch und im praktischen Wissenschaftsalltag weniger mit der Dialektik als mit dem Common sense. "Bei der Wahrheit bleiben, beim Beobachtbaren, Konkreten, Logischen", lautet sein Grundsatz in der Wissenschaft wie im wirklichen Leben. "Unpräzision, Mangel an Klarheit, das hängt eng mit Mangel an Moral, auch mit Mangel an politischer Moral zusammen." Manchmal hat der Anspruch, den Dingen auf den Grund gekommen zu sein, etwas Unbescheidenes. Von einer Demutshaltung gegenüber dem unergründlichen Bauplan des Universums (oder wenigstens des menschlichen Gehirns) ist bei Birbaumer nichts zu spüren. Im Gegenteil: "Naiv" ist in seinen Augen, wer bestreitet, dass die Welt erklärbar ist oder, um in seinem Fach zu bleiben, dass es bald technisch möglich sein wird, Gedanken zu übersetzen, also Gedanken zu lesen. "Es ist auch gefährlich, das zu bestreiten, denn damit distanziert man sich von dem, was man macht. Man sagt dann, es ist eh nichts wert, es wird erst in Zukunft Bedeutung haben. Das ist aber nicht wahr. Wir müssen die Erkenntnisse, die wir aus der Hand geben, auch überwachen, wir müssen aufpassen, was damit gemacht wird. Man kann schon heute aus dem Speichel ein Gen isolieren, das darüber Auskunft gibt, ob ein Mensch eine Suchtneigung hat - zu Alkohol, Zigaretten, was auch immer. Was soll damit geschehen? Solche Entscheidungen dürfen Wissenschaftler nicht der Pharmaindustrie überlassen."
Und gerade an diesem Punkt, wo Ethik und Politik ins Spiel kommen, sieht er die Chance, dass die beiden auseinander gedrifteten Wissenschaftskulturen wieder partnerschaftlich, ergänzend zueinander finden. Wo die Geisteswissenschaftler den Naturwissenschaftlern ihre Erklärungskompetenz zur Verfügung stellen könnten. Ist die Trennung nicht ohnehin ein Anachronismus? Unlängst zum Beispiel im Sonderforschungsbereich 'Krieg und Kriegserfahrungens zu dem ihn die Historiker hinzugezogen haben: "Ich habe gesagt, ich mache nur mit, wenn die Begriffe Natur- und Geisteswissenschaften niemals fallen. Das ist eine historisch bedingte, aber völlig veraltete Trennung - ein Desaster!" Was der Verhaltensneurobiologe zur Kriegsforschung beitragen kann, sind Kenntnisse über die Gehirnstruktur von gefühllosen Psychopathen, potenziellen Massenmördern - jenen (jungen) Männern eben, die sich sofort melden, wenn irgendwo Krieg ist. Die Neigung dazu prägt sich im Gehirn wahrnehmbar aus. Aber Birbaumer sagt damit nicht, dass dies eine angeborene, genetisch determinierte Anlage ist. "Es sind soziale Erfahrungen, die sich in der Gehirnstruktur niederschlagen. Die Historiker, die Geisteswissenschaftler könnten uns sagen, welche historischen und politischen Gegebenheiten diese Leute hervorbringen." Es war übrigens das erste Mal, dass Geisteswissenschaftler ihn derart zur Zusammenarbeit einluden. "Und die haben das auch nicht ganz freiwillig getan, sondern weil die Gutachter gesagt haben, ihr müsst auch was von außen hereinnehmen, sonst seid ihr zu inzüchtig. So sollte es bei den Naturwissenschaften auch sein!" Auch im umgekehrten Fall macht es Sinn: "Ein Kunstgeschichtler, ein Philosoph kann den Medizinern in ethischen Fragen mehr helfen als der medizinische Kollege." Einmal hat er aber auch schon erlebt, dass die Sprachkluft zwischen den Wissenschaftskulturen unüberbrückbar geworden war, in einem Schwerpunktprojekt zwischen Philosophen und Hirnforschern. Der Jargon der Philosophen blieb den Hirnforschern unverständlich. "Schlimmer als Molekularbiologen!" Keine Trennung nirgends. Das gilt bei Birbaumer für das Verhältnis von Wissenschaft, Arbeit und Alltag. Lesen, Denken, Reflektieren, Kommunizieren, das alles findet überall statt, im Institut oder auf Reisen oder in dem kleinen Bauernhaus in Mössingen, das er vor einigen Jahren ausgebaut hat. Absichtlich suchte er seinen Wohnsitz nicht im behäbigen Professoren-Milieu der Uni-Kleinstadt Tübingen, sondern in der ländlichen Industriekleinstadt. Und dann im Sommer der wöchentliche Wechsel zwischen den Kulturen, zwischen Deutschland und Italien, wo er in Padua einen Lehrauftrag hat und in den Weinbergen hinter Verona mit Wissenschaftsfreunden ein gemeinsames Haus. Dort hat man ihm die Ehrenbürgerschaft verliehen, weil seine Neugier dazu beitrug, das lokale Selbstwertgefühl, den Sinn für das Eigene zu stärken. Der Hirnforscher, auch ein wenig Anthropologe: "Die Weinbauern haben plötzlich gemerkt, dass das, was sie machen, etwas Wertvolles ist." Der Schinken und der Wein von dort lagern in seinem Mössinger Keller. Als hätten seine Eltern es geahnt: Die Spannung unterschiedlicher Kulturen liegt schon in seinem Namen. Ein Österreicher mit Vornamen Niels? Die Verwunderung ist berechtigt. Der Vater, stellt sich heraus, war ein Verehrer des dänischen Romanciers Jens Peter Jacobsen. Dessen Hauptwerk "Niels Lyhne" beeinflusste ihn so sehr, dass er den Sohn danach benannte. "Tragische Künstlerfigur, sehr schwülstig, 19. Jahrhundert-eigentlich nicht meine Richtung", sagt Birbaumer. Und dann das objektive Urteil: "Aber gut geschrieben!" | |