Heft 7: EDITORIAL von Dieter Simon Die Szene ist bekannt: Auf erhöhtem Podest sechs Menschen. Philosophen. Sie führen eine so genannte Podiumsdiskussion. Eine beliebte, wenn auch in der Regel unproduktive Veranstaltungsform. Fünf der sechs sind Deutsche. Einer ist Amerikaner. Er kann natürlich kein Deutsch. Außerdem ist er ein miserabler Philosoph. Die sechs debattieren auf Englisch. Über Kant. Ein erhebendes und vielfach belehrendes Schauspiel deutscher Höflichkeit.
Die nächste Szene ist noch unbekannt, wird aber bald bekannt werden: Ein Deutschschweizer begegnet einem Deutschen. Sie sprechen englisch miteinander. Warum? Der Deutsche versteht kein Schwyzerdütsch, der Schweizer hat als erste Fremdsprache nicht mehr Deutsch, sondern Englisch gelernt. Lingua franca! Polen und Deutsche sprechen schon lange englisch miteinander. Franzosen und Deutsche, Italiener und Deutsche in steigendem Maße: englisch - oder was sie dafür halten. Triumph der Lingua franca und Totengeläut für die Bekanntschaft mit der Kultur unserer Nachbarn. Vermutlich ganz falsche Töne. Was als Enteignung erlebt wird ("schreiben Sie schlichter, sonst können wir Ihren Text nicht ins Englische übersetzen"), ist in Wahrheit eine einzigartige Chance. Schließlich weigern sich gebildete Engländer, in der Lingua franca ihre Muttersprache wiederzuerkennen. Es handelt sich überhaupt nicht um das Englisch Shakespeares oder Churchills oder der Vergangenheit. Es handelt sich um eine neue Sprache. Cicero hätte auch nicht akzeptiert, dass Leibniz Latein konnte. Basic Simple English, BSE, die Sprache unserer Zukunft (zufällig zugleich das Symbol für drohende Gehirnerweichung?). Das Integrationsidiom der Europäer ist eurokanisch und unausweichlich, wie sich aus dem Umstand ergibt, dass noch die Opponenten sich beugen: "We have to resist", sagte die italienische Kämpferin, obwohl alle "debbiamo resistere" verstanden hätten. Wer die Nase also wirklich vorne haben will, begrüßt schon seine Neugeborenen mit "hi babe". Das ist eines der Themen, um die es in diesem Heft geht. 'Wissenschaft und Sprache' ist allerdings ein sehr großes Spielfeld, auf dem sich viele Spieler tummeln. Zu viele, als dass alle auf 70 Seiten in den Blick kommen könnten. Political Correctness muss draußen bleiben; Rechtschreibreform ebenfalls; die Icons fehlen mitsamt dem Bereich der Sprache der Bilder, der durch den häufigen Zugriff auf die Wonnen der Metapher nicht ausgeschöpft werden kann.
Ob das Deutsche verschwindet, historisch wird, nur noch von Traditionsvereinen nostalgisch gepflegt und von Philologen liebevoll erklärt - was man gegen solche Entwicklung tun könnte (finale Antwort: nichts), ist für weite Kreise viel weniger interessant als die Frage, ob und wie sie verstehen sollen, was gegenwärtig in dieser Sprache formuliert wird. Wo Wissenschaft sich nicht hinter Mathematik verstecken kann, weiß häufig niemand, was sie sagen will. Ziemlich anstößig in einem Zeitalter, das das öffentliche Verstehen, das Verständnis des Publikums, so hochhält wie kaum eines vor ihm. Public Understanding of Science hat gute Chancen, zum Signum des 21. Jahrhunderts aufzurücken. Meistens geht es um Naturwissenschaftler. Die krempeln unsere Welt, unseren Kosmos und am Ende auch noch uns selbst um und erklären alles mit Notwendigkeiten und Zwecken, die man schon sprachlich nicht nachzuvollziehen in der Lage ist. Ausnahmsweise sind aber auch die sonst eher marginalisierten Kulturwissenschaften mit von der Partie. "Die romantische Doppelgänger-Geschichte kehrt als eine jener modernen Geschichten des Verschwindens wieder, die von der Not und Produktivität der Einbildungskraft zeugen, ihrem Sein und zugehörigen Nichtsein, und von der Absurdität modernen Erzählens", lesen wir in Literaturen, der neuen Zeitschrift, die ein Bedürfnis befriedigt und eine Lücke füllt. Ach ja, die modernen Rezensenten! Aber bei ihnen geht es wohl um Kunst und nicht um Wissenschaft. Die Juristen behaupten hartnäckig, sie seien Wissenschaftler. Aber verständlich waren auch sie und ihr Recht nach Meinung der ihnen Ausgelieferten noch nie. Jedenfalls seit es gelehrte Juristen gibt. Und das sind jetzt bereits 700 Jahre. Können sie nicht oder wollen sie nicht? Man wird ihnen beibringen müssen, dass sie dem Volk nur abverlangen dürfen, was dieses verstehen und deshalb erwarten und kontrollieren kann. Jahrzehntelang mussten sich die Entdecker des Jargons der Eigentlichkeit als die eigentlichen Jargonkünder denunzieren lassen. Fachsprache versus Umgangssprache war der gängige Verteidigungstopos. Aber muss Fachsprache so sein? Fordern neue Sachen wirklich immer neue Ausdrücke? Neusprech ohne politische Not? Weder der Eifer der Linguisten noch der Zorn ehrenwerter Sprachvereine werden das Blättchen wenden. Vielleicht sollte man für die Haltung der Leute von Hillsboro werben: "Give me that old time religion; it's good enough for me." Allerdings war der Song die Losung der Anhänger der gegen Darwin kämpfenden Kreationisten. |