EnteHeft 8: EDITORIAL von Dieter Simon


Der digitale Teufel ist los. Pfeifend, piepsend und trillernd zischt er durch die Lande, und keiner kann ihm widerstehen. Die letzten Abenteuer sind erlebt. Verirren bedeutet heutzutage: Die elektronischen Apparate wurden vergessen, oder die Batterien sind leer. Verschwinden kann nur noch, wer sein Handy wegwirft. Gedächtnis heißt Datenbank, und der Schlaueste ist, wer den raschesten Zugriff hat. Autonom ist, wer über den größten Speicher verfügt. Außerdem gilt: Datenbank heißt Gedächtnis - will sagen: die Köpfe selbst sind affiziert. Wo früher die auswendig gelernten Gedichte saßen, kampieren jetzt die Steuerungsbefehle für das klickende Mäuslein. Dadurch wurde viel Platz frei, auf dem allerlei gestapelt werden kann. Internet-Adressen zum Beispiel und Gebrauchsanweisungen ("read me"). Aber auch andere datenverarbeitete Nützlichkeiten. Niemand soll mehr Bücher lesen müssen. Wie krank einer ist, rechnet der Computer aus, der auch gleich die richtige Pille empfiehlt. Niemand soll mehr zielen müssen. Der Fotoapparat zielt und blinkt, wenn er mit dem Bild zufrieden ist. Die Bombe zielt und entscheidet, wann sie zu bersten gedenkt. Einmischungen sind unerwünscht. Es können keine sauberen Ergebnisse garantiert werden.

Der Mensch ist antiquiert und weiß es. Weiß es auch der Wissenschaftler, da er doch Mensch ist? Im Prinzip, ja! Der informierte Wissenschaftler spielt entweder Pferd oder Esel. Nach der Anleitung von Heinrich Heine (Aphorismen und Fragmente):


"Alter Karrengaul und Esel, den Dampfwagen vorbeirollen sehend.

Pferd: Das wird uns eine ganz neue Zukunft bereiten, wir werden nicht mehr soviel Lasten ziehen und laufen müssen: Wohl dem Enkel, das Paradies ist vor uns - oder ist die Hoffnung nicht mit Gefahr geknüpft: werden wir nicht überflüssig sein? wird man uns nicht töten und speisen?

Der Esel: Wir haben von allen solchen Umwälzungen nichts zu hoffen noch zu fürchten: wir werden immer nach wie vor zur Mühle traben, die Welt wird immer Esel brauchen und sie zu schätzen wissen."


Bei den Pferdeartigen überwiegen Begeisterung und Visionen. Bücher gelten vorwiegend als Staubfänger und Verleger als Schmarotzer. Selbst der Arbeitslose bekennt sich per Visitenkarte zu seiner Homepage. Ratloses Staunen über die Fortexistenz des Bleistiftes. Nur Beratungen, die mittels E-Mail-Konferenz stattfinden, gelten nicht als steinzeitliches Residuum. Wer nicht mit Videophone arbeitet, bewegt vermutlich beim Lesen die Lippen und rechnet außerdem mit den Fingern. Jedem jede Information, und zwar sofort.

Der Beklommenen sind eher wenige. Aber es gibt sie: Was wird mit uns geschehen, wenn die Kongresse noch langweiliger werden, als sie es ohnehin schon sind, weil man jedes 'Statement' bereits Tage vorher im Internet lesen konnte? Wer garantiert mir, dass mein Gedanke immerzu der meine bleibt, wenn er schon im Rohzustand von jedem Tagedieb 'heruntergeladen' werden kann? Wird mir noch die Ruhe bleiben, Angefangenes weiter und zu Ende zu denken? Ist Denken überhaupt noch gefragt und möglich? Wird nicht jetzt wahr, was Heine, an zitierter Stelle, hellsichtig, aber viel zu früh ironisch diagnostizierte?

"Die höchste Blüte des deutschen Geistes: Philosophie und Lied! Die Zeit ist vorbei, es gehörte dazu die idyllische Ruhe. Deutschland ist fortgerissen in die Bewegung - der Gedanke ist nicht mehr uneigennützig, in seine abstrakte Welt stürzt die rohe Tatsache. Der Dampfwagen der Eisenbahn gibt uns eine zittrige Gemütserschüttrung, wobei kein Lied aufgehen kann; der Kohlendampf verscheucht die Sangesvögel und der Gasbeleuchtungsgestank verdirbt die duftige Mondnacht."

Also: das Ende der Welt! Und dabei hatte man doch solche Hoffnungen auf die Eisenbahn gesetzt. Der digitale Code hat bei seinem fulminanten Start deutlich weniger Paradieseserwartungen geweckt.

Die Eselartigen unter den Wissenschaftlern betrachten, wie dazumal, mit äußerster Indolenz ('Gelassenheit' wäre eindeutig zu schwach für diese spezifische Art von Nichtbetroffenheit) die digitale Aufregung als ein Geräusch, das nicht wirklich geeignet ist, ihr Schicksal zu berühren. Wer nicht befristet angestellt ist, hat in Deutschland kein Schicksal mehr. Und bei weitem die meisten Wissenschaftler sind Beamte. Sie schreiben Wörter auf Zettel, spitzen ihre Bleistifte, seufzen über das schreckliche Los der Postkutsche und traben geräuschvoll zur Publikationsmühle. Ihr Vertrauen auf den stabilen Bedarf an Eseln ist unerschütterlich. Aber vielleicht täuschen sie sich. Immerhin sind es Esel.

Die deutschen Akademien sind sehr verschieden. Die in ihnen Behausten sind es auch. Wenn sie ihre Gedanken zum Besten geben, formt sich - si veritate nituntur - ein buntes Bild. Deshalb lässt sich über die Normalverteilung der beiden Grundsorten, Pferd und Esel, Verbindliches nicht feststellen. Dieser unklare Befund ist vermutlich repräsentativ für alle, die in der Wissenschaft tätig sind, und gilt im Übrigen auch für die, die ihren kühlen Außenblick auf die Wissenschaft richten.

Wie üblich haben wir versucht, möglichst viele An-Sichten zu bündeln. Nur scheinbar haben wir dabei etwas mehr getrödelt, als es die Leser gewohnt sind. Hazel Rosenstrauch zeigte Bedarf nach einem Sabbatical. Wolfert von Rahden hat sich bereit erklärt, alles zu tun, damit die Akademie sich dies erlauben könne. Bei Stabübergaben verliert die Stafette notwendig und bekanntlich an Tempo. Aber wenn sie so gut läuft, darf sie ruhig auch einmal verspätet ankommen.