8. Heft - Pierre Laszlo: AKADEMISCHE LEHRE IM ZEITALTER DES INTERNETS


Das Internet war, was heute beinahe in Vergessenheit geraten ist, eine Erfindung von Akademikern und diente ursprünglich deren weltweiter Vernetzung. Sein Vorläufer, das ARPANET (benannt nach der Advanced Research Projects Agency, einer Forschungsförderungseinrichtung des amerikanischen Verteidigungsministeriums), entstand um 1970, und die erste Form elektronischer Kommunikation geht auf die Jahre 1972/1973 zurück. Erst zwei Jahrzehnte später entwickelte Tim Berners-Lee vom CERN die Idee eines World Wide Web.* Die Anfänge des Internets fallen damit in eine Zeit, als sich die Möglichkeit einer Nutzung des Computers in der akademischen Lehre abzeichnete - und in Mode kam.

Wer heute unterrichtet, dem steht das gesamte im Hyperspace vorhandene Wissen zur Verfügung: Datenbanken, Bulletin Boards zum Informationsaustausch, Online-Seminare mit allen Lehrmaterialien, inklusive Dias und anderem Bildmaterial, ja sogar Prüfungsfragen und -antworten. Die Frage lautet also nur noch: Wie lässt sich das Internet am besten für den Unterricht nutzen?


Die Auswirkungen des Internets auf die akademische Lehre

Mit dem Internet ist das traditionelle Informationsmonopol des Universitätslehrers hinfällig geworden. Mühelos lässt sich der im Unterricht behandelte Stoff oft besser, weil verständlicher dargestellt, im Netz finden. Wenn aber die Unterrichtsinhalte jederzeit und überall verfügbar sind, warum sollten sich die Studierenden dann überhaupt noch die Mühe machen, eine Vorlesung oder ein Seminar zu besuchen?

Mit der problemlosen Verfügbarkeit des Lehrstoffs geht einher, dass auch die traditionellen Prüfungsverfahren in der Universitätslehre fragwürdig werden. Selbst verfasste Seminararbeiten sind bereits heute die Ausnahme, Plagiate zur Regel geworden. So liefern www.ask.com und zahlreiche kommerzielle Dienste im Netz Antworten auf Fragen aus allen Wissensgebieten.

Für den Lehrkörper stellt die Datenflut im Internet eine Versuchung dar, Informationen einfach zu sammeln und - zu einem Paket geschnürt - weiterzureichen. Die Dozenten müssen das Wissen, das sie vermitteln, nicht mehr unbedingt selbst beherrschen, geschweige denn es sich zunächst gründlich aneignen und zur besseren Verständlichkeit für die Studierenden mühsam didaktisch aufbereiten. Die vermutlich größte Bedrohung, die das Internet für die höhere Bildung darstellt, ist jedoch die abnehmende Motivation auf Seiten der Studentenschaft. Diese folgt zunehmend dem Leitspruch: "Nur keine unnötige Anstrengung".

Und in der Tat: Warum noch die Mühen des Lernens auf sich nehmen, wenn sich das benötigte Wissen (bei Bedarf) ohnehin im Netz abrufen lässt? Meiner Ansicht nach besteht das Risiko, dass das Internet die intellektuelle Neugier bei der nachwachsenden Generation abtötet. Wie der Hunger angesichts eines überfüllten Büfetts abnimmt, so kann auch das Internet mit seinem Überangebot den Wissensdurst gar nicht erst aufkommen lassen.


Vom Nutzen und Nachteil des Internets für die akademische Lehre

Das Internet macht den Lehrenden potenziell 'allwissend': Eigene Wissenslücken lassen sich spurlos vertuschen und Lehrveranstaltungen ohne viel Aufwand durch weiterführende Literaturhinweise im Netz (URL: Uniform Resource Locator) ergänzen. Das Netz macht Bildmaterial jeder Art leicht verfügbar. Fertige Dias zur Visualisierung technischer Informationen finden sich dort ebenso gut wie André Malraux' Musée imaginaire. Die ganze Welt steht nun - in Form von herunterladbaren Fotografien und Filmen - im Hörsaal zur Verfügung. Für den naturwissenschaftlichen Unterricht können zur Illustration etwa eines physikalischen Gesetzes oder eines Moleküls fertige Modelle und Computersimulationen aus dem Netz abgerufen werden. Auch Fernunterricht wird möglich, wenngleich weiterhin Grenzen wie Sprachbarrieren und Zeitzonen zu überwinden bleiben.

In der Datenflut des Internets finden sich aber auch jede Menge Fehlinformationen und Vorurteile. Sekten und Randgruppen annoncieren dort ihre Erkenntnisse mit zum Teil fragwürdigen Zielen. Die Informationen im Netz unterliegen außerdem stark dem Diktat der Mode: Vertreten sind massenhafte Einträge zu 'angesagten' Themen, dagegen so gut wie nichts über Wissensgebiete, die dem Zeitgeist nicht entsprechen. Erschwert wird die Recherche im Internet gelegentlich auch durch mangelhafte Suchmaschinen. Manche Stichwortsuche ergibt derart viele Treffer, dass es beinahe zwecklos erscheint, aus der Datenfülle relevante Ergebnisse herauszufiltern. Und die Informationen im Netz unterliegen einer kurzen Verfallszeit: Ein Link, den wir den Studenten nennen, kann bereits verschwunden sein, wenn sie die Quelle konsultieren wollen.

Dass die Studenten heute nicht mehr darauf angewiesen sind, Lehrveranstaltungen zu besuchen, hat gewisse Vorteile. Jeder kann in dem ihm eigenen Tempo lernen und dabei noch tun, was ihm beliebt: essen, trinken oder Musik hören. Das Lernen vor dem Bildschirm birgt aber auch Nachteile: Es verringert die soziale Interaktion mit den Kommilitonen. Das Internet, das theoretisch den Zugang zu anderen Personen erleichtert, die Vernetzung zwischen den Menschen und die Zugehörigkeit zu einer weltweiten Community ermöglicht, entpuppt sich in der Praxis allzu häufig als ein Instrument unfreiwilliger Vereinsamung.


Zwingt uns das Internet zur Änderung unserer Lehrmethoden?

Nein: Für die Erhaltung der akademischen Lehre in ihrer heutigen Form sprechen gewisse Aspekte, durch die sich eine traditionelle Lehrveranstaltung gegenüber der Wissensvermittlung im Internet auszeichnet. Zu nennen wäre der Dialog zwischen Lehrenden und Studierenden; er ermöglicht die Berücksichtigung des jeweils vorhandenen Vorwissens der Kursteilnehmer und eröffnet die Möglichkeit von Nachfragen der Studierenden bei Verständnisschwierigkeiten. Weitere Vorteile bestehen darin, dass wir die Studenten auf den allerneuesten Wissensstand bringen, historische Hintergründe beleuchten sowie den Zusammenhang von Theorie und Experiment, von Ideologie und Systembildung verdeutlichen können. Im Augenblick zweifelt noch niemand daran, dass die traditionelle Wissensvermittlung ihrer Form nach dem modernen Medium überlegen ist - und ich wage zu behaupten, dass sich daran auf geraume Zeit auch nichts ändern wird.

Ein nicht zu unterschätzender Vorzug der herkömmlichen Lehre liegt auch in der Rolle, die Büchern und Bibliotheken zufällt. Es ist unsere Aufgabe, den Studierenden deutlich zu machen, warum Bibliotheken auch im Zeitalter des Internets weiterhin die wichtigsten Instrumente der Wissensvermittlung bleiben. Allen Unkenrufen zum Trotz bedeutet das Internet meines Erachtens nicht den Untergang des Buches. Das Buch ist ein zu altes, über Jahrhunderte hinweg optimiertes Medium, als dass es sich durch die Ankunft eines neuen Informationsträgers entscheidend ändern müsste. Gegenüber der Kakophonie des Internets bietet es entscheidende Vorteile. Es spricht mit einer deutlich identifizierbaren Stimme und vertritt einen expliziten, kohärenten Standpunkt. Anders als das Internet mit seinem wirren Gemisch von Fakten und Meinungen, in dem sich zu jedem Urteil auch dessen Gegenurteil findet, eignet es sich zum Selbstunterricht. Sein Inhalt ist klar umrissen, problemlos zu erkennen und im Falle von Lehrbüchern genau auf den für Examina relevanten Lehrstoff zugeschnitten.

Dennoch ist jene Aufgabe nicht ganz leicht, die entscheidende Rolle der Bibliothek für den Lernprozess zu verdeutlichen. Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass die heutige Generation junger Erwachsener das Lesen - als Freizeitbeschäftigung ebenso wie als Mittel autodidaktischer Wissensaneignung - aufgegeben hat. Allenfalls liest sie noch Lehrbücher, und zwar aus dem einfachen Grund, weil das Wissen, das auswendig gelernt und in Prüfungen reproduziert werden muss, dort auf leicht handhabbare Weise versammelt ist.

Ja: Da wir das Monopol an einer bestimmten Form der (akademischen) Informationsvermittlung eingebüßt haben, sollten wir nicht länger an unserer alten Rolle festhalten und den Studenten stattdessen beibringen, wie sie Informationen und Quellen im Internet auffinden und kritisch bewerten. Kurz gesagt: Wir sollten uns in der Lehre am Vorgehen professioneller Historiker orientieren.

Darin besteht wohl unsere entscheidende Aufgabe. Einer meiner jüngeren Kollegen bemerkte dazu: "Wahrscheinlich ist das Wichtigste an diesem Thema, dass wir den Studenten beibringen müssen, Informationen kritisch auszuwerten. Bücher durchlaufen wenigstens ein Lektorat, bevor sie erscheinen. Aber der Durchschnittsstudent hat nie gelernt, was kritisches Denken eigentlich heißt. Er kann Tatsachen nicht von Meinungen unterscheiden. Das zu können ist aber im ganzen Leben wichtig, und trotzdem habe ich nie erlebt, dass kritisches Denken unterrichtet würde. Natürlich gäbe es extreme Widerstände gegen ein derartiges pädagogisches Unterfangen." Dieser Punkt verdient meiner Meinung nach gründliche Prüfung.


Wird das Internet den Sieg über die traditionellen Bildungsinstitutionen davontragen?

Angesichts der Kosten der höheren Bildung in den USA - bis zum ersten Universitätsexamen belaufen sie sich im Durchschnitt auf circa 100 000 US-Dollar pro Person - wäre es durchaus denkbar, dass die Studenten sich eines Tages ihrer Universitätslehrer entledigen und beschließen, die nötigen Informationen für ihr Studium aus dem Netz zu beziehen. Um zu einer ernsten 'Bedrohung' für den gegenwärtigen Universitätsbetrieb zu werden, müssten sie allerdings erst einmal einen Weg finden, der zu einer Kooperative führt, die berechtigt wäre, Bescheinigungen und Zeugnisse auszustellen, die einem Universitätsabschluss entsprächen und auch offiziell anerkannt würden.

Eine realistische Gefahr für die bestehenden Institutionen stellen wohl die bereits existierenden kommerziellen virtuellen Universitäten dar. Die Lehrveranstaltungen befinden sich schon heute in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf mit Kursen, die von Akademikern entworfen und mitsamt den dazugehörigen Abschlüssen im Netz angeboten werden. Den kommerziellen E-Universitäten, die weder Gebäude, Labore noch Fakultäten benötigen, stehen weitaus höhere Ressourcen zur Verfügung als der traditionellen akademischen Lehre. Aus ökonomischer Sicht könnten sie sich daher als höchst effektiv und als eine ernst zu nehmende Konkurrenz für die realen Universitäten erweisen. Denn die amerikanischen Universitäten bezahlen für ihren hervorragenden Qualitätsstandard gegenwärtig einen hohen Preis: Nobelpreisträger oder akademische Stars werden zu immensen Gehältern rekrutiert und der aufgeblähte Verwaltungsapparat verschlingt noch höhere Kosten. In dem Moment, wo es den neuen E-Institutionen gelingt, sich durch geschicktes Marketing das nötige Prestige zu verschaffen, könnten sie eine echte Alternative zur kostspieligen Ausbildung an den herkömmlichen Universitäten werden. Negative Auswirkungen auf den gegenwärtigen Universitätsbetrieb haben die E-Universitäten allerdings insofern, als sie die Einheit von Forschung und Lehre gefährden, die sich als Idee seit Humboldt durchgesetzt hat.

Zweifel an der Effektivität des Web-Unterrichts sind angebracht. Im Unterschied zum Face-to-Face-Unterricht richten sich Kurse im Internet an ein anonymes Publikum, dessen Vorwissen und Verständnishorizont nicht berücksichtigt werden können. Die Universitätslehrer sind dagegen in der einzigartigen Lage, das Unterrichtsmaterial dem jeweiligen Wissensstand der Studierenden anpassen zu können. Dank jahrelanger Erfahrung sind sie außerdem in der Lage, schwierige Sachverhalte einfallsreich und auf die Zielgruppe zugeschnitten zu veranschaulichen und zu erklären.


Was tun?

Meine Diagnose lautete eingangs, dass die traditionelle Rolle des Universitätslehrers als Vermittler eines bestimmten Spezialwissens an ihr Ende gekommen ist. Daher heißt die einfache Antwort auf die Frage 'Was tun?': Wir müssen die Funktion des Universitätslehrers 'umkehren'. Da das Internet heute die Studierenden mit Informationen jeder erdenklichen Art füttert, sollten wir uns heute als Wächter und Filter der vom Netz heruntergeladenen Informationen verstehen.

Ich habe bereits erwähnt, dass die Aufgabe der Dozierenden darin besteht, den Studierenden Wege der Wissensbeschaffung und Informationssuche zu zeigen und sie Kritikfähigkeit gegenüber den Informationsquellen zu lehren. Dies ist allerdings einfacher gesagt als getan. Wir haben es mit jungen Menschen zu tun, deren Ausblick auf die Welt von Fernsehen und Computerspielen geprägt ist. Was die Interaktion im Hyperspace betrifft, sind sie uns ein paar Schritte voraus. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist nur noch kurz, eingestellt auf das Zappen durch die Fernsehkanäle. Zyniker würden behaupten, es sei zu spät, dieser Generation Kritikfähigkeit beizubringen. Indes, sie ist bereits kritisch, wenn auch in ganz anderer Weise, als wir es gewohnt sind. Während für uns einige Informationsquellen als absolut unzuverlässig, andere als relativ zuverlässig gelten, hat sich bei den Jugendlichen ein allgemeiner Relativismus durchgesetzt. Sie glauben jedem Informationskanal etwa gleich viel oder gleich wenig.

Was können wir also tun, um das Netz nicht nur in unsere Lehre miteinzubeziehen, sondern sie sogar mit seiner Hilfe noch zu verbessern? Ich will drei mögliche Schritte nennen:

Mir schwebt erstens vor, dass sich im Netz virtuelle Fakultäten zusammenfinden, die Kurse auf Universitätsniveau anbieten. Um sich von anderen Kursen abzuheben, müssten diese sich durch thematische Originalität profilieren. Ich stelle mir vor, dass sie vor allem transdisziplinär ausgerichtet sind, etwa Naturwissenschaften und Jura thematisch miteinander verknüpfen. Diese Kurse sollten sich durch eine klare und einfache Darstellung des Lehrstoffs, systematische Gliederung und das Vermeiden von Fachjargon auszeichnen.

Eine zweite exemplarische Initiative könnte darin bestehen, das Internet kreativ und innovativ in der Lehrerfortbildung einzusetzen. In meinem Fach, der Chemie, wäre es zum Beispiel sinnvoll, eine weltweite Sammelstelle für Experimente im Klassenzimmer einzurichten, die ein Verzeichnis der Experimente, der dazu erforderlichen Lehrinhalte und Kommentare enthielte. Denkbar wären auch die Versorgung der Sekundarstufenlehrer mit Lehrmodulen über die Geschichte der Naturwissenschaften, neueste wissenschaftliche Entdeckungen und gesellschaftlich relevante Themen (wie den Treibhauseffekt) oder die Darstellung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die praxisrelevant sind und etwa zu neuen Entwicklungen bei Textilien und Kosmetikprodukten geführt haben.

Drittens sollten wir uns in irgendeiner Form organisieren, um unsere Interessen in Verhandlungen mit Regierungsbehörden, Politikern und Unternehmen besser vertreten zu können. Und es wäre an der Zeit, dass wir eine Lobby bei der Europäischen Union in Brüssel bekämen, nicht nur um das Internet gegen Eingriffe von Hackern zu schützen, sondern auch um darauf hinzuwirken, dass es in der Hand der Menschen bleibt und ihnen nützt, statt zusehends dem Profitstreben zu gehorchen.

Aus dem Englischen von Anne Vonderstein