8. Heft - Stephan Seidlmayer: COMPUTER IM ALTEN ÄGYPTEN

Aus der Urgeschichte der Datenverarbeitung


Zur lexikografischen Anamnese nur dies vorweg: Das Century Dictionary and Cyclopedia definiert 1903 'computer' als "One who computes; [...] specifically one whose occupation is to make arithmetical calculations". In Webster's New International Dictionary von 1924 (wie in den meisten älteren englischen Wörterbüchern) fehlt das Lemma 'computer' noch ganz. Es erscheint erst in der zweiten Auflage (1952) als "One who or that which computes [...] specif. a calculating machine". Die dritte Auflage (1961) schreibt nur noch "One that computes [...]" und erst an letzter Stelle des Eintrags findet sich "(c) a person who calculates".

Computer waren also nicht immer schon "automatic electronic devices", sondern sie gehen auf Prototypen aus Fleisch und Blut zurück. Als Sachverhalt eigener Art trat der Computer erst zu jenem Zeitpunkt ins öffentliche Bewusstsein - und wurde als eigener Terminus technicus geprägt -, an dem er als Maschine auftrat. Und erst im Rückblick wird die Kontinuität sichtbar: Die zweite Auflage des Oxford English Dictionary (1981) verzeichnet unter 'computer': "(1) One who computes; spec. a person employed to make calculations [...] (2) A calculating machine; esp. an automatic electronic device [...]", und für den Gebrauch nach (1) gibt das Wörterbuch Belege, die bis ins 17. Jahrhundert reichen.


Natürlich geht die Geschichte der Computer, dieser Computer, in viel fernere Vergangenheit zurück. "Schon die alten Ägypter" haben im großen Stile gerechnet. Vornehmste Quelle dafür sind die so genannten 'mathematischen' Papyri - nicht etwa theoretische Traktate, sondern Sammlungen von Modellrechnungen. Ebenso wie andere Textgattungen, in denen die pharaonische Kultur Expertenwissen katalogisierte (etwa in den medizinisch-magischen Texten oder in den großen "Weisheitslehren"), sind sie kasuistisch aufgebaut. Sortiert nach Anwendungsbereichen - etwa Feldervermessung, Rationenverteilung, Architektur- und Bauwesen - werden praktische Situationen aufgegriffen. Die beiden Beispiele aus dem Papyrus Rhind (um 1550 v. Chr.) mögen die Eigenart dieser Texte illustrieren.

Ich habe den Text der Beispielaufgaben - unter genauer Beachtung des Wortlauts - nicht nur ins Deutsche übersetzt, sondern auch in eine moderne Programmiersprache (Java). Im Deutschen habe ich die arithmetische Terminologie des Ägyptischen in unsere Gewohnheiten übertragen und Verständnishilfen in Klammern zugefügt; Aufgabenstellung und Anweisungen sind recte, die Ergebnisse der Modellrechnung kursiv gesetzt. Bei der Übersetzung in Java habe ich statt der halsbrecherischen Stammbrucharithmetik des ägyptischen Originals einfache Fließkommazahlen benutzt und den Rahmen, der den Java-Code zu einem ausführbaren Programm machen würde (Definition der Klasse und der Main-Methode) weggelassen. Hier entstehen die Zwischenergebnisse als temporäre Werte der Variablen.

Der Befund dieser Parallelisierung ist eklatant: Der ägyptische Text lässt sich Satz für Satz, Detail für Detail in die Statements einer Programmiersprache umcodieren. Immerhin fällt beim Vergleich mit der Schreibweise der Programmiersprache eine Schwäche der ägyptischen Notation auf: Variable Parameter und Konstanten werden nicht geschieden. Aber die Verwirrung, die das stiften könnte, wird wenigstens teilweise dadurch aufgeklärt, dass die Formulierung des Algorithmus mit einer Proberechnung verschränkt ist (die kursiv gesetzten Elemente). Im Ablauf dieser Berechnung ergeben sich individuelle Zahlen, anhand deren sich verfolgen lässt, mit welchen Werten jeweils gerechnet wird. Gegenüber solchen Notationsunterschieden ließen sich aber auch die Parallelen zur Schreibweise moderner Programme weiter ausziehen. So sind beigefügte Hilfsberechnungen, wie zum Beispiel die atemberaubende Quadrierung von 8 2/3 1/6 1/18 in der ersten Aufgabe, im ägyptischen Text aus dem Textfluss ausgegliedert - ganz wie der Funktionsaufruf zur Potenzrechnung Math.pow(x,y) in Java. Den Vergleich in allen Einzelheiten auszuführen wäre Stoff für eine detaillierte Studie.


Aufgabe 42
 


Ein runder Kornspeicher von 10 (Ellen Durchmesser) auf 10 (Ellen Höhe);
 


/* Volumenberechnung eines runden Kornspeichers */
double durchmesser=10;
double hoehe=10;
double resultat;
 


Subtrahiere 1/9 von 10, nämlich 1 1/9; der Rest ist 8 2/3 1/6 1/18.
 


resultat=durchmesser-durchmesser/9;
 


Multipliziere 8 2/3 1/6 1/18 mit 8 2/3 1/6 1/18; es kommt 79 1/108 1/324 heraus.
 


resultat=Math.pow(resultat,2);
 


Multipliziere 79 1/108 1/324 mit 10; es kommt 790 1/18 1/27 1/54 heraus.
 


resultat=resultat*10;
 


Addiere die Hälfte davon dazu; es kommt 1185 heraus.
 


resultat=resultat+resultat/2;
 


Dividiere 1185 durch 20; (das Resultat ist) 59 1/4.
 


resultat=resultat/20;
 


Das ist es, was in ihn (sc. den Kornspeicher) hineingeht: 59 1/4 hundertfache Scheffel Getreide.
 


System.out.println(resultat+
"hundertfache Scheffel Getreide passen in den Kornspeicher");
 

 

Aufgabe 57
 


Eine Pyramide mit 140 (Ellen) Basislänge und 5 1/4 Handbreit Steigung; wie hoch ist sie?
 


/* Höhenberechnung einer Pyramide */
double basislaenge=140;//Ellen!
double steigung=5.25; //Handbreit!
double resultat;
 


Rechne die doppelte Steigung, nämlich 10 1/2 (Handbreit), auf eine Elle um. (Dazu) sollst du 10 1/2 durch 7 dividieren; das (sc. 7 Handbreit) ist ja eine Elle. Division von 10 1/2: 2/3 von 10 1/2 sind 7.
 


// Umrechnung der Steigung in Ellen
resultat=steigung*2;
resultat=resultat/7; // 1 E. = 7 H.
 


Dividiere 140 - das ist ja die Basislänge - (durch dieses Ergebnis); 2/3 von 140 sind 93 1/3.
 


resultat=basislaenge/resultat;
 


Siehe, das ist ihre (sc. der Pyramide) Höhe.
 


System.out.println("Die Höhe der Pyramide beträgt "+resultat+" Ellen.");
 

 

Das Fazit liegt auf der Hand: Die ägyptischen Texte sind Computerprogramme, und zwar nicht nur in ihrer formalen Struktur, sondern auch in ihrem logischen Kern. Das beweist verblüffend ein letztes, besonders charakteristisches Merkmal der ägyptischen Texte: Sie geben kaum oder gar nicht Rechenschaft über ihr Kalkül; die Herleitung des Rechenablaufs bleibt undurchsichtig; Beweise für die Richtigkeit werden nicht gegeben. Nie wird vom Ausführenden verlangt, einen Lösungsweg zu finden. Ebenso selten wie in schlecht dokumentiertem Code sind hier und da Kommentarfragmente eingeschoben; auch diese wurden getreu als Kommentare in die Java-Übersetzung übernommen. Nirgends aber wird zum Beispiel in der ersten Aufgabe erklärt, dass erst die Kreisfläche des Speicherbodens, dann das Zylindervolumen in Kubikellen berechnet wird und dieses schließlich in die Maßeinheit Hekto-Scheffel konvertiert wird. Erst recht wird nicht begründet - tatsächlich findet sich eine solche Begründung nirgends im ägyptischen Schrifttum -, wie man auf den Kunstgriff zur Berechnung der Kreisfläche gekommen ist, den Durchmesser vorm Quadrieren um 1/9 zu reduzieren, was immerhin der Approximation der Zahl Pi als 3,160 entspricht. Entsprechend mühsam kann es sein, solche Aufgaben zu verstehen - in derselben Art, wie es Mühsal bereitet, sich in den Code eines anderen Programmierers einzulesen.

Dieser Mangel an offen vorgetragener Reflexion und Argumentation hat den ägyptischen Texten in der mathematikhistorischen Forschung abschätzige Kommentare eingetragen. Aber diese Kritik verkennt den Kern der Sache. Sobald man die Texte als Programmbibliotheken liest, erkennt man in diesem Zug gerade das entscheidende, eigentlich konstitutive Merkmal eines Computerprogramms. Man muss es nicht verstehen, um es ausführen zu können; Einsicht, Begründung, Beweis sind auf dieser Ebene entbehrlich, ja schlicht irrelevant. Natürlich liegen jedem Programm Kalkül und Einsicht zugrunde, aber die Kunst des Programmierens besteht ihrer Idee nach darin, Verstehen und Tun voneinander zu trennen: Das Verstehen ist Sache des Programmierers, das Tun Sache des Computers.

Die alten Ägypter hatten also nicht nur Computer - Leute, deren Beruf es war, zu rechnen -, sondern sie haben diese Leute auch auf dieselbe Art programmiert, wie man heute Maschinen programmiert. Wiewohl als hässliches Entlein in der Geschichte der Mathematik nur gering geachtet, vermag die pharaonische Kultur daher trotzdem in der Urgeschichte der Datenverarbeitung als junger Schwan zu beeindrucken.


Der Problemgehalt der einzelnen Modellrechnungen ist sehr begrenzt. Sie umfassen etwa so viel wie die Unterfunktionen eines modernen Programms - und in dieser Zergliederung größerer Probleme ist erneut eine typische Strategie der Programmierung zu erkennen. Auch im alten Ägypten aber standen die Elementaraufgaben als Mosaiksteine im Gefüge einer Datenverarbeitung größerer, tatsächlich formidabler Dimension. Andeutungen müssen genügen: Die Bauakten, Berechnungs- und Abrechnungsunterlagen der großen Pyramiden sind leider verschollen; Rechnungsunterlagen kleinerer Projekte geben dennoch einen Begriff davon, wie solche Unternehmungen geplant wurden. Für einen kleinen Tempel, der um 1900 v. Chr. in Mittelägypten errichtet wurde (vgl. Pap. Reisner I), werden zunächst tabellarisch die einzelnen Bauteile des Tempels aufgelistet und der zu ihrer Herstellung erforderliche Arbeitsaufwand in Mann-Tagen berechnet. Hinter jeder einzelnen Zelle einer solchen Tabelle stehen Rechenvorgänge - Kalkulation des Volumens geometrischer Körper, Konversion in eine andere Maßeinheit aufgrund konstanter Relationen -, wie sie im Prinzip den Aufgaben des Papyrus Rhind entsprechen. Auf dem Papyrus folgen dann Personenlisten mit Angaben zu leistender und schon abgeleisteter Fronverpflichtungen. In der Verknüpfung beider Tabellen war es also möglich, die für jeden Bauabschnitt benötigten Arbeitskräfte zu benennen und zu mobilisieren. Ein solches Dokument entspricht der Struktur und dem Genre nach der Modellanwendung eines einfachen Datenbanksystems.

Akten aus Pyramidentempeln lassen eine penible Buchführung über das Tempelinventar, über zu fordernde und tatsächlich eingehende Rationen, ihre Provenienz und Verteilung erkennen. Buchstäblich Kilometer von Papyrusrollen wurden in den Bureaus dieser Institutionen mit Abrechnungstabellen im Stile von Spreadsheet-Programmen gefüllt; die ökonomischen Abläufe wurden dadurch lückenlos dokumentiert. Verglichen mit den Aufgaben der mathematischen Texte, tritt in diesen Dokumenten die Virtuosität der Rechenkunst in den Hintergrund; aber dafür werden hier die Datenmassen sichtbar, die in den altägyptischen Rechenzentren verarbeitet wurden, und ebenso der Wirklichkeitsbezug der Vorgänge. Bemerkenswert an diesen Dokumenten erscheint mir nicht nur und nicht so sehr ihr äußeres Format, das an die Organisation moderner Office-Applikationen anschließt; entscheidend scheint mir vor allem ihre kognitive Attitüde. Technische, ökonomische und vor allem soziale Tatsachen gerinnen zu Zahlen, zu Daten und werden in dieser Abstraktion manipulierbar und konvertibel.


Gewiss ist es kaum von Interesse, einmal mehr festzustellen, dass es etwas "schon im alten Ägypten" gegeben hat, noch kann es um eine Ehrenrettung der pharaonischen Mathematik gehen (und würde sie so gelingen?). Aber es bleibt der nicht triviale Befund, dass die pharaonische Kultur Konzepte, Techniken und Organisationsformen der Datenverarbeitung entwickelt hat, die auch noch der elektronischen Datenverarbeitung zugrunde liegen. Es lohnt sich deshalb, zu fragen, welche Rolle diese Technik im Gefüge der alten Kultur gespielt hat.

Die besondere Stellung der pharaonischen Kultur im Kreis der frühen Staaten hat auch einen quantitativen Aspekt. Schon am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. traten die ägyptischen Könige aus dem engen Horizont stadtstaatlicher Herrschaft heraus und schwangen sich auf, ein großes Land, eine ganze Nation zu kontrollieren. Das Strukturproblem des frühen ägyptischen Staates bestand daher in der Integration. Organisation und Planung auf der Basis der Anschauung, der im täglichen Umgang gewachsenen Kenntnis waren in einem Raum dieser "soziospatialen Kapazität" (M. Mann) nicht mehr möglich. Den Medien der Informationsverarbeitung fiel hier eine entscheidende Rolle zu. Nicht nur die Schrift, auch symbolische Markierungs- und Notationssysteme für Waren, Produktionseinheiten und Institutionen wurden in diesem historischen Kontext erfunden. Die überlieferten Akten bezeugen den Einsatz dieser Mittel. Indem die Wirklichkeit zu Daten, zu Zahlen in Tabellenzellen transformiert wurde, entstand auf dem Papier ein numerisches Modell des Landes, seiner Bewohner, ihres Tuns und Treibens von faszinierender, aber auch erschreckender Detailliertheit. Zahlen bildeten das Bindeglied zwischen Projekten und Visionen einerseits, materiellen und personellen Ressourcen andrerseits. Ein Megaprojekt wie der Bau der Cheopspyramide konnte bis in die letzte Kleinigkeit "am Schreibtisch" vorausberechnet werden, bevor auch nur der Bauplatz freigefegt war.

Jenen Apparat bis in jedes Dorf hinab zu realisieren erforderte ein Heer subalterner 'Schreiber'. Talentierte Mathematiker waren hier nicht gefragt (und in solcher Zahl wären sie auch gar nicht aufzutreiben gewesen), wohl aber Leute, die punktgenau vorgefertigte Aufgaben 'abarbeiteten' - eben Computer. Die Formulierung der Aufgaben als Programme bildete eine notwendige Voraussetzung dafür. Und schließlich darf eines nicht übersehen werden: Die Implementation des Dualismus Programmierer/Computer auf einem sozialen Substrat impliziert soziale Asymmetrie. In der sozialen Trennung von Tun einerseits, von Einsicht und Überblick andrerseits lag eine erstrangige Quelle sozialer Macht.


Der Blick auf das pharaonische Ägypten zeigt, dass eine durch den Geist der Datenverarbeitung geprägte kulturelle Welt nicht erst das Resultat der jüngsten technologischen Entwicklung ist. Dabei steht das antike Fallbeispiel ebenso für das Großartige wie für das Beklemmende dieser Perspektive. Die gewaltigen Leistungen des alten Ägypten bezeugen das unerhörte schöpferische Potenzial, das der Zuwachs an organisatorischer Kompetenz birgt. Jedoch als nicht weniger offensichtlich erweist sich ihr Potenzial, Ungleichheit und Abhängigkeit zu schaffen.

Die elektronischen Medien implementieren diese Strategien in bislang nicht gekanntem Maßstab und in nicht gekannter Konsequenz. Während die Computer der alten Ägypter ein Land von 1000 Kilometern Erstreckung und 1 bis 2 Millionen Menschen in den Organisationshorizont einer zentralen Staatsverwaltung führten, können heutzutage Computer den ganzen Globus zum Dorf machen, und es wird sich erweisen, wie viel Großartiges und wie viel Beklemmendes unsere Zeit damit schaffen wird. Allerdings, in einem sind die elektronischen Computer unzwiespältig segensreich: Zwar werden kaum die Maschinen wie Menschen, aber man muss auch nicht mehr Menschen zu Maschinen machen.