8. Heft - Indre Zetzsche, Christoph Kehl: VON DIGITALEN ZAUBERLEHRLINGEN UND TEXT-DJS


Damals, Ende der achtziger Jahre, als wir noch auf dem Gymnasium waren, hatten wir mit jugendlicher Neugier und ohne Vorbehalte die Computerwelt entdeckt. Inzwischen sind wir Studenten der Geisteswissenschaften und die Neugier ist verflogen. Wie selbstverständlich benutzen wir in unserem Studium Textverarbeitungsprogramme, Internet und Online-Bibliothekskataloge. Viele Gleichaltrige haben eine eigene Homepage. Wir wissen die neuen Möglichkeiten zu schätzen, die das Internet uns Studenten bietet. Jeder Lehrstoff lässt sich irgendwo aus dem Netz fischen, zu Hause vor dem Bildschirm sind wir frei und unabhängig, statt miefige Luft in übervollen Sälen zu ertragen, können wir durch die spannende, bunte virtuelle Welt zappen; auf langweilige Professoren scheinen wir nicht mehr angewiesen. Die modernen Geister, welche die Digitalisierung rief, überfordern uns allerdings auch in mancher Hinsicht: "Ach! Und hundert Flüsse stürzen auf mich ein." Die Datenfluten auf dem Bildschirm erinnern an die Sorgen von Goethes Zauberlehrling. Auch wir werden die Geister nicht mehr los, wir müssen aber ohne Meister lernen, im Guten wie im Schlechten mit ihnen umzugehen.


Mit dem Computer lässt sich eine Menge Arbeit schneller und leichter erledigen. Schreiben ist einfacher geworden: Abschnitte werden verschoben, ausgeschnitten und in Windeseile gelöscht, und um die Rechtschreib- und Grammatikkorrektur sorgt sich die Maschine auch gleich selber. Mussten Studenten früherer Generationen für die Literaturrecherche noch viel Zeit in vielen Bibliotheken verbringen, so brauchen wir heute nur einmal kurz hinzufahren, um die elektronisch vorbestellten Bücher abzuholen. Der Vernetzung sei Dank! Online-Kataloge und Suchmaschinen ersparen uns nicht nur aufwändiges Suchen in abgegriffenen Zettelkästen, sie nehmen uns auch das Formulieren ab. "Sprich in ganzen Sätzen!" - wie oft haben wir diese Aufforderung von Lehrern und Eltern gehört, wenn wir auf ihre Frage mit nur einem Wort antworteten. Heute kommen wir ohne Einsilbigkeit nicht mehr aus: Suchmaschinen füttern wir mit einzelnen Stichworten, und schon liefert die Maschine Ausformuliertes. Da außerdem fast jeder klassische Autor mit seinen wichtigen Werken im Internet oder auf CD-ROMs irgendwo eingescannt ist, lassen sich Textfragmente zu einem ansprechenden Bündel verarbeiten. Texte werden gesichtet, dann wird nach den passenden Modulen gesucht, montiert - und fertig ist die Arbeit. Die Suche nach dem stimmigen Zitat oder das Eindruck schindende Namedropping erfordert kein langwieriges Textstudium mehr.

Tippfehler kümmern uns nicht mehr, dafür gibt es Korrekturprogramme. Wir haben andere Sorgen. Uns beschäftigt die Frage nach dem Design des Textes, der in humanistischen Fächern immer noch auf Papier abgegeben wird, aber virtuell entsteht - und der Computer stellt uns vor ästhetische Probleme. Nehmen wir das klassische oder doch das einfache Inhaltsverzeichnis, schreiben wir in Arial, Times New Roman oder Kismet, wie gestalten wir das Titelblatt? Obwohl kluge Software für fast jeden Studenten erschwinglich ist, hat das seinen Preis: Studieren ist eine zeitaufwändige Spielerei mit dem Übermaß an technischen Möglichkeiten geworden. Wir sind aufgewachsen mit den neuen Standards der Selbstdarstellung und spielen das mediale Spiel mit: Auch wir wollen mit ansprechender Fassade beeindrucken. Der Blick auf den Inhalt wird dadurch etwas verstellt, aber wen stört das? Wenn wir Hausarbeiten schreiben, achten wir mehr darauf, dass der Text 'wissenschaftlich' klingt, als dass wir an unserer eigenen Sprache arbeiten. Erfolg hängt halt vom Schein ab - im doppelten Sinne des Wortes. Viele Dozenten lassen sich von gut platzierten Fußnoten, einer Vielzahl Zitate und einem ansprechend gestalteten Inhaltsverzeichnis beeindrucken, und noch nie war die Umsetzung dieses 'wissenschaftlichen' Anspruchs so einfach wie mit einem Computer. Dass dieser Esel auch gerne mal bockt, daran gewöhnt man sich.


Die Zukunft deutet sich bereits an: Der geisteswissenschaftliche Student entwickelt sich in Richtung Text-DJ. Ein solcher Dienstleister schreibt keine eigenen Texte mehr; mit Gefühl für den wissenschaftlichen Ton und harmonische Übergänge schneidet er seinen Kunden einen Sampler aus digitalen Bruchstücken und eigenen Textbrücken zusammen. Ist er skrupellos genug, könnte er sich allerdings die ganze Mühe mit dem Zusammenschneiden sparen, indem er ein viel beschriebenes Thema sucht und sich die Hausarbeit eines anderen aus dem Netz lädt. Plagiate sind wahrscheinlich schon heute keine Seltenheit mehr. Und wir vermuten, dass viele Dozenten der deutschen Universitäten dieser Entwicklung hilflos gegenüberstehen. Ihr Terrain ist die Massenuniversität. Konfrontiert mit studentischer Massenproduktion, haben sie keine Zeit und möglicherweise auch nicht das notwendige Know-how, jede Arbeit kritisch zu prüfen - wobei die unpersönliche Atmosphäre deutscher Seminarräume ihr Übriges tut.

Weil jedoch das Spiel mit den technischen Möglichkeiten nach einigen inhaltslosen Erfolgserlebnissen unbefriedigend wird, drängt sich uns die Frage auf, wie wir sinnvoller mit dem Internet umgehen könnten.


Die digitale Welt mit ihren farbigen Bildchen ist schön anzuschauen, aber Surfen eine einsame und konfuse Angelegenheit. Datenschrott liegt gleichberechtigt und ebenso ansprechend gestaltet neben hochwertigen Informationen. Wie soll man den Überblick behalten oder schaffen? Es ist schwer zu beantworten, ob eine Quelle für unsere Arbeit brauchbar ist, warum gerade die Information im Netz steht und warum jener Hinweis auf ein Problem fehlt. Wegweiser, die zu erkennen geben, nach welchen Wertmaßstäben die Informationen zusammengestellt wurden und welchen Zweck der Datensammler verfolgt hat, existieren nicht. Da gibt es die Scharlatane, die mit viel technischem Firlefanz und wenig Inhalt an ihrem Image bauen. Es gibt die Selbstdarstellungskünstler, die vor allem ihre eigenen Texte der Öffentlichkeit verfügbar machen, und Fachidioten, die gedankenlos Datensammlungen anlegen. Das Problem ist fast unlösbar, in der stummen digitalen Welt scheint die Verständigung über die Hintergründe unmöglich, und es gibt leider noch keine Software, die uns die kritische Prüfung abnimmt. Mit knappem Zeitbudget und einer flimmernden Datenmasse vor den Augen lassen wir uns von oberflächlichen Auswahlkriterien leiten: Auch uns fasziniert, was aufwändig inszeniert daherkommt. Viele Treffer ('Hits' im Computerdeutsch) nehmen wir als Maßstab für die Wichtigkeit der Website. Und wenn sie modern und aktuell wirkt, schleicht sie sich in unser Vertrauen. Ist sie zudem noch mit den Namen der Koryphäen unserer Fächer versehen und gibt sich im Fachjargon, sind wir geneigt, sie für seriös zu halten.

Wer die Masse an Information, die ein einziges Schlagwort zutage fördert, durchforsten und durchschauen will, hetzt durch Jorge Luis Borges' fiktive Bibliothek von Babel: "Es [gibt] kein persönliches, kein Weltproblem, dessen beredte Lösung nicht existiert".* Jeder Klick führt zu einer neuen Galerie, doch der Ausflug endet leider oft mit schmerzenden Augen und zweifelhaftem Erfolg.


Verblüffend ist allerdings, mit welcher Hartnäckigkeit die digitale Welt aus den deutschen Hör- und Seminarräumen gesperrt wird. Die Professoren dozieren, als hätte sich seit ihrer Ausbildung nichts verändert. Nie hat ein Dozent uns auf interessante Links oder neue Möglichkeiten der Literaturrecherche hingewiesen. Selbst im Seminar zur Medientheorie bekommen wir Literaturlisten, die ausschließlich Buchtitel enthalten. Dies negiert nicht nur unseren elektronisch geprägten Lernalltag und somit unsere elementarsten Interessen, auch die Bemühungen der Universitäten werden so ad absurdum geführt. Sie investieren viel Geld in Internetauftritt und Computerarbeitsplätze, sie machen CD-ROMs zugänglich, vernetzen ihre Bibliotheksbestände und stellen sie ins Web. Natürlich erwarten wir von den Dozenten keine Einführungskurse, die gibt das Bibliothekspersonal; aber kleine Hinweise am Rande, zum Beispiel auf Einführungskurse oder Datenbanken zu unseren Themen, wären sicher hilfreich. Diese Verweigerung verunsichert: Steckt hinter den verschlossenen Mienen der Dozenten die stumme Botschaft, dass man die Nutzung der neuen Möglichkeiten ablehnt? Oder haben sie vielleicht Angst vor dem Internet, da es die traditionelle Lehre untergraben könnte? Womöglich wissen die Professoren gar nicht mit der neuen Technik umzugehen?


Interessanterweise zeigt der Blick in die Glaskästen der Institute vermehrt Stellenangebote, in denen nach jungen digitalen Assistenten gesucht wird. Auch in den oberen Etagen des Elfenbeinturms hat man die Schreibmaschine also ausgemustert - aber für die Integration der neuen Technik in die Lehre fühlt sich offenbar niemand zuständig. Dabei könnten Lehrende und Lernende voneinander profitieren. Wir zeigen den Dozenten als digitale Assistenten den zwanglosen Umgang mit den neuen Techniken; sie stehen uns als analoge Experten bei inhaltlichen Problemen bei.

Wie auch immer, die Studenten reagieren auf das professorale Schweigen einmütig - sie schweigen ebenfalls. Im Seminarraum spielt sich dann Folgendes ab: Wir greifen auf die technischen Möglichkeiten zurück, zeigen uns jedoch ungern als Techniker. Im einsamen Kämmerlein holen wir Bildung aus dem Netz, im Seminar spielen wir den belesenen Studenten, der ohne technische Hilfsmittel auskommt. Zwar ahnen die meisten von uns, dass die Literaturangaben oder Zitate auf den Thesenpapieren wenigstens teilweise aus dem Datenozean geangelt wurden. Aber einen Erfahrungsaustausch unter Studenten gibt es kaum, auch nicht über Foren oder E-Mail. Dabei wäre der sehr hilfreich: Wir könnten nach guten Sites fragen, auf Adressenänderungen oder tote Links hinweisen. Stattdessen quälen wir uns weiterhin einsam durch die Datenmassen.


Es gibt immer wieder Menschen, die meinen, das Rad sei neu erfunden worden. Dabei stehen wir bei der Recherche im Netz vor dem prinzipiell gleichen Problem, mit dem schon die Studenten vor 20 Jahren beschäftigt waren: Wir müssen uns einen Pfad durch den Informationsdschungel schlagen. Im Bücherdschungel bieten uns Literaturlisten, Nachschlagewerke, Professoren und Bibliothekare Orientierungshilfen. Im Datendschungel mit seinen Kommunikationsbarrieren fehlen diese Wegweiser größtenteils, und wir wären heute umso mehr auf klärende Gespräche angewiesen - notgedrungen hat ein Auszubildender noch nicht den analytischen Blick eines Kenners, der seine Kriterien in langer Erfahrung gewonnen hat.

Wer Daten herunterzieht oder plagiiert, zeigt damit noch nicht, dass er sich im weltumspannenden Netz orientieren kann; er muss die Informationen auch beurteilen und zwischen Glauben und Wissen unterscheiden können. Um die Fähigkeit zu erlangen, hinter den schönen Schein digital zubereiteter Information zu blicken, müssten wir lernen, mit dem Material kritisch umzugehen, distanziert und neugierig zugleich. Kaum ein Dozent war imstande, uns diese Haltung beizubringen. Dass wir dennoch eine ungefähre Vorstellung von ihr entwickelt haben, verdanken wir jedoch auch den schlechten Lehrveranstaltungen. Wir haben Gründe gefunden, warum wir sie meiden, und Kriterien für schlechte Dozenten entwickelt. Diese Lehrmeister konnten uns zwar anfänglich mit ihren Wissensmassen verzaubern, aber nicht nachhaltig begeistern. Wen wundert es da, wenn wir uns die Informationen dann lieber von der Datenautobahn holen?

Es gäbe einen lustvolleren Weg, der Wissen schafft. Er lebt vom Dialog: Unsere Geister erwachen nämlich, sobald Dozenten und Studenten aufeinander eingehen und wir spüren, dass unsere Neugier im Gespräch erwidert wird. Und solche Aufmerksamkeit ist auch für den Erwerb der viel beschworenen wie undurchsichtigen 'Medien- oder Informationskompetenz' zentral.


Woraus folgt: Im Zeitalter des Internets werden gute Lehrer wertvoller und schlechte Lehrer überflüssig. Denn als Torhüter zum Wissen haben die Dozenten ausgedient. Wir sind nicht mehr gezwungen, schlechte Lehrveranstaltungen zu besuchen. Unsere Wissensmaschine, die zu Hause auf dem Schreibtisch steht, liefert uns jedes beliebige Lehrbuchwissen - und sie lässt sich im Gegensatz zu den Dozenten mit einem Tastendruck ausschalten, falls sie langweilt.