9. Heft - Randolf Menzel: SCHÖNHEIT IN EINER BILDERWISSENSCHAFT


"Die Schönheit zur Ordnung, die Wahrheit zur Reinheit, die Symmetrie zur Einheit der Verbundenen. Die Symmetrie ist Ursache, daß das Seiende Einheit ist; die Wahrheit, daß es das Sein ist (die Essenz hat); die Schönheit, daß es ein Gedachtes ist." Platon


Ich hatte vor, Biologie zu studieren, nicht aber, lauter Kringel zu malen. Und nun sollte ich im botanischen Anfänger-Praktikum Pflanzenzellen zeichnen, die Hunderte von kleinen Knüppeln, die Plastiden, enthalten. Hunderte runder Kreise, keine "Schweineschwänze", wie unser Assistent immer wieder mit strafendem Blick und hässlichen roten Markierungen in meiner mühsamen Zeichnung anmerkte. Auch die Zellwände mussten aus zwei engen und genau parallel geführten Linien bestehen, die sich nach einer Umrundung um die ganze Zelle genau wiederfinden mussten. Und natürlich sollten die Proportionen stimmen, keine wichtige Struktur durfte ausgelassen werden, und die Beschriftung sollte dokumentieren, dass man die Strukturen identifiziert hat. War das die Wissenschaft, die ich suchte? War das überhaupt eine Wissenschaft, wenn das scheinbar Wichtigste eine ordentliche Zeichnung war?

Alle Biologiestudenten kennen die Sprüche ihrer Professoren und Assistenten, die gleichzeitig aufmuntern und erschrecken sollen: Nur wer das Objekt der Erkenntnis richtig gezeichnet hat, hat es verstanden; nur das selbst Gezeichnete prägt sich ein; nur an einer Zeichnung kann man diskutieren; nur mithilfe der Zeichnung kann man es systematisch einordnen und wiedererkennen ...

Das Bemühen um das bildliche Festhalten fragiler und kurzlebiger Strukturen stellt ein wichtiges Merkmal der Lebenswissenschaften dar. Großes Können ist dafür nötig, doch wird es dadurch zur Kunst? "Botanische Illustrationen", sagt der Taxonom und Evolutionsbiologe H. Walter Lack, "haben sehr wenig mit Kunst zu tun, sie zählen zum Gebiet der Naturwissenschaften, ästhetische Überlegungen sind gänzlich unangebracht, und Schönheit ist ein angenehmer, jedoch völlig irrelevanter Nebeneffekt." Dies schreibt er in einem Vorwort zu einem Buch, in dem überwältigend schöne Illustrationen von Pflanzen aus fünf Jahrhunderten zu finden sind (S. 14). Wer kennt nicht die wunderbaren Stiche der Botanikerin Anna Maria Sibylla Merian aus dem 17. Jahrhundert. Sind das nicht Kunstwerke, auch wenn sie den primären Zweck verfolgen, die systematische Zuordnung einer Pflanze, die Entwicklung ihrer Organe, der Blüte, der Frucht, der Blätter und des Sprosses zu dokumentieren? Häufig werden Pflanzen zusammen mit den durch ihre grazilen Körper beeindruckenden Insekten abgebildet, welche die Pflanze zur Bestäubung, als Futter oder zum Ablegen von Eiern besuchen. Damit erzählen diese Abbildungen ganze Geschichten aus dem Leben der Pflanze, die sich mit langatmigen Ausführungen nur zum Teil in Worte fassen lassen.

Forscher in der Bilderwissenschaft Biologie sind selten selbst die Macher der Bilder. Auf der ersten, von James Cook geleiteten Weltumseglung wird die Situation in der Kajüte der 'Endeavour' mit folgenden Worten beschrieben: "Wir [die Wissenschaftler] saßen [...] am großen Tisch unserem Illustrator gegenüber und zeigten ihm, in welcher Art und Weise er seine Zeichnungen machen sollte, während wir schnelle Beschreibungen anfertigten [...], solange die Belege noch frisch waren" (Lack, S. 16). Aber ist es nicht eine Illusion zu glauben, dass dabei die Wissenschaftler die Objekte ihrer Begierde in einer ausschließlich objektiven Art und Weise dokumentiert sehen wollen? Wollen sie nicht vielmehr das einzelne Objekt als exemplarisch für den Typus, für den es steht, dargestellt sehen, also für ihre Vorstellungen von den Gesetzmäßigkeiten, die sie hinter dem Objekt zu erkennen glauben? Ist dafür die Schönheit der Zeichnung des Objekts völlig belanglos?

Goethe hat sein Studium der Botanik mit dem wesentlichen Antrieb "von Kindheit auf in bezug mit Staffeleimalern, besonders einem Blumenmaler" begründet (so in einem Entwurf zu einem Artikel über Ästhetische Pflanzenansichten, zitiert nach Krätz, S. 92). Nun, Goethe, wird man einwenden können, war ja auch kein 'richtiger' Wissenschaftler. Wie ist das dann mit Ernst Haeckel, dem enthusiastischen Verfechter von Darwins Evolutionslehre im 19. Jahrhundert und Entdecker der biogenetischen Grundregel (wonach sich in der Ontogenie jeden Tieres seine Phylogenie verkürzt widerspiegelt)? In den prachtvollen Tafeln seiner Kunstformen der Natur verschmelzen Naturerkennen und Naturästhetik. Ästhetik wird hier zu einem Spiegel der Natur. Haeckel entdeckte in der kristallinen Regelmäßigkeit komplexer Formen mikroskopisch kleiner Tiere (den Radiolarien) und im Kontrast von wilder Wirrheit und strengem radiärsymmetrischen Körperbau (von Medusen) eine Schönheit, die er als gemeinsames Organisationsprinzip von biologischen Bauplänen und menschlichen Wahrnehmungsphänomenen deutete. Auch wenn wir seiner monistischen Vorstellung nicht folgen, steckt dahinter viel Richtiges, und dem will ich hier nachgehen.

Was ihn und uns an der Form der Wunderwesen im Mikroskop so fasziniert, ist der Zauber ihrer überwältigenden Symmetrie und der sich daraus entwickelnden Ornamentik. Er scheute sich nicht, Bezüge zu der Kunstmode seiner Zeit, der Art nouveaux, herzustellen und den Künstlern und Architekten seine 'Kunstformen der Natur' anzutragen. Der Architekt René Binet konzipierte die Eingangspforte der Pariser Weltausstellung von 1900 nach Haeckels Radiolarienzeichnungen, und die Entwürfe für Dekorationen des Jugendstils in seinem Buch Esquisses décoratives greifen die vielfältigen Formen der mikroskopischen und makroskopischen Meeresbewohner auf. Was mag Haeckel seinem Lithografen A. Giltsch gesagt haben, um ihn zu höchster (künstlerischer?) Fertigkeit anzuspornen? In jedem Schöpfungsprozess dieser Art geht es ja nicht nur darum, ein bestimmtes Objekt so genau wie möglich abzubilden. Vielmehr muss das Repräsentative - das für die biologische Species Gültige - dargestellt werden. Haeckel ging dabei nicht anders vor als alle Biologen. Er hat das Regelhafte herausgearbeitet. Bei seinen Objekten war das die Symmetrie in ihren vielfältigen Formen. 'Fehler' und 'Abweichungen' der individuellen Vorlage wurden vernachlässigt, um das Idealtypische zu erfassen.

Als Schüler der Oberstufe hatte ich eine Jahresarbeit über die mikroskopisch kleinen Planktontiere und -pflanzen eines Teiches anzufertigen und stand vor der Aufgabe, die winzigen Lebewesen nach Bestimmungsbüchern zu identifizieren. Dazu musste ich die Bilder, die ich in meinen Büchern fand (meist Strichzeichnungen), mit den wirklichen Objekten vergleichen. Aber die Originale schwammen herum, waren mal nur von unten, mal von der Seite oder von oben zu sehen, hatten farbige Muster und sahen je nach Beleuchtung in meinem urtümlichen Mikroskop ganz unterschiedlich aus. Ich half mir, indem ich meine Objekte zeichnete. Anfänglich unternahm ich große Anstrengungen, immer genau dasselbe winzige Tierchen zu zeichnen, was ja nicht einfach war, weil es rotierte und wegschwamm. Ich bemühte mich, auch mit Buntstiften die Farben zu erfassen und mit Punktierungen und Strichelungen einen dreidimensionalen Eindruck zu vermitteln. Erst nach vielen Zeichnungen landete ich dann bei den Strichzeichnungen wie in meinen Bestimmungsbüchern. Noch heute erinnere ich mich, dass mich das sowohl traurig stimmte (irgendwie hatten meine lebendigen Wesen ihre Originalität verloren) wie auch befriedigte (jetzt sah alles viel ordentlicher aus). In der Tat: Die so gezeichneten Tiere und Pflanzen waren ordentlicher; ihre Symmetrie stimmte besser; Farbschattierungen, die von Exemplar zu Exemplar verschieden sein konnten, gab es gar nicht mehr; die Mittel zur räumlichen Darstellung lenkten nicht mehr von den wichtigen Strukturen ab. Außerdem konnte ich nun all die winzigen Merkmale, die für die Unterscheidung von ähnlichen Arten so wichtig waren, darstellen und beschriften. Hatte ich dabei das entdeckt, was Darwin seinem Illustrator zeigte, indem er ihn anwies, "in welcher Art und Weise er seine Zeichnung machen sollte"? Mag sein - aber eins war sicher: Die Schönheit war nicht verloren gegangen, sie stellte sich nur anders dar, in der akkuraten Form, in der Konzentration auf das, was als typisch erkannt wurde, und auch in der präziseren Erinnerungshilfe.

Die Schönheit der Bildersprache in der Biologie geht über die Ästhetik hinaus, sie erreicht eine analytische Ebene, weil das Bild eine Funktion hat. Taxonomen ordnen Bilder zu Bauplänen; Anatomen verweisen mit ihnen auf strukturelle und funktionelle Zusammenhänge; Physiologen belegen mit ihnen den zeitlichen Ablauf von Vorgängen, wobei sie die Farbe häufig als Medium zur Darstellung der Stärke eines Signals verwenden; und Verhaltensbiologen strukturieren damit die flüchtigen raumzeitlichen Abläufe, die sie beobachten. In allen Fällen ist das Bild kein direktes Abbild und auch nicht durch einen Fotoapparat oder eine Filmkamera zu ersetzen. Vielmehr stellt das Bild die Sichtweise des analysierenden Beobachters dar. Weglassen und Herausheben sind wesentliche Merkmale des interpretierenden Zugriffs. Dabei kann der ästhetische Gesichtspunkt in den Vordergrund geraten, wie bei Ernst Haeckel etwa, und wir können uns dann fragen, ob die Grenze zur 'unwissenschaftlichen' Kunst überschritten ist. Haeckel suchte nach Belegen für seine pantheistische Vorstellung und sah sie in der Korrespondenz zwischen der Schönheit im Kleinen und der Größe des Menschen, seinem Geist. Es wäre aber irrtümlich zu glauben, dass die moderne Biologie objektiver mit Bildern umgeht. Immer wird auf dem Hintergrund von Erwartung, Voreingenommenheit und Hypothese darstellend interpretiert. Auch die Ästhetik des Bildes wird eine Rolle dabei spielen. Verfälscht dann Schönheit?

Das Bild einer einzelnen Nervenzelle aus dem Gehirn der Biene wird seinen ästhetischen Reiz auf den Betrachter ausüben. Auch der Wissenschaftler und Zeichner (Martin Hammer) dieser Zelle wird sich davon nicht freigemacht haben können (und wollen). Hat dies seine wissenschaftliche Bearbeitung dieser Zelle beeinträchtigt? Wie alle Nervenzellen ist auch diese sehr viel komplexer gebaut, als man zeichnerisch darstellen kann. Sie ist dreidimensional und verfügt über sehr viel mehr feinste Verzweigungen, als man im Bild erfassen kann, obwohl man sie im Mikroskop sieht. Welche hat der Forscher weggelassen und warum? Wurde vielleicht durch das Weglassen die frappierende Symmetrie verstärkt, und wenn, wäre das schon eine Verfälschung? In den zahlreichen Zeichnungen des berühmten spanischen Neuroanatomen Ramon y Cajal findet man Nervenzellgestalten, die uns in ihrer Ästhetik begeistern. Wir wissen, dass Cajal ein nüchterner und um Objektivität bemühter Wissenschaftler war, trotzdem (oder deswegen) hat er sich dem Zauber seiner Nervenzellen nicht entzogen und immer wieder auf ihre Schönheit schwärmerisch hingewiesen. Viele Biologen und gerade jene, die Bilder als ein Medium des Erkenntnisgewinns ansehen, lassen sich von der Ästhetik ihrer Darstellungen ansprechen.

Von den vielen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang für den Erkenntnisprozess einer Naturwissenschaft stellen, will ich nur eine hier weiter verfolgen: Können wir uns in einer Bilderwissenschaft wie der Biologie von der Ästhetik des Bildes befreien, und wenn, wäre das ein Gewinn an Objektivität?

Nicht erst das Herstellen von Bildern stellt sich dar als ein von einer Hypothese getriebener schöpferischer Vorgang, sondern bereits die Wahrnehmung der Welt. Wahrnehmung kann, wie uns die Neurowissenschaft lehrt, begriffen werden als ein Überprüfungsvorgang von dem, was wir erwarten. Erwartung wird hier in einem weiten Sinne verstanden und umfasst überwiegend nicht bewusst werdende Prozesse unserer Sinnesorgane und unseres Gehirns. In seiner Optik und Farbenlehre beschrieb Goethe im 52. Kapitel das Phänomen des sukzessiven Farbkontrastes: "Als ich gegen Abend in ein Wirtshaus eintrat und ein wohlgewachsenes Mädchen mit blendend weißem Gesicht, schwarzen Haaren und einem scharlachroten Mieder zu mir ins Zimmer trat, blickte ich sie, die in einiger Entfernung vor mir stand, in der Halbdämmerung scharf an. Indem sie sich nun darauf hinbewegte, sah ich auf der mir entgegenstehenden weißen Wand ein schwarzes Gesicht, mit einem hellen Schein umgeben, und die übrige Bekleidung der völlig deutlichen Figur erschien von einem schönen Meergrün." Goethe hat das farbige Nachbild nicht bewusst erwartet, sein neuronales Sehsystem hat es generiert und damit ein interpretiertes Abbild der Welt geschaffen. Die Farbsehsysteme der Tiere und damit natürlich auch des Menschen haben sich im Verlaufe ihrer Evolution so organisiert, dass sich Gegenfarben wechselseitig verstärken, wenn sie zeitlich und/ oder räumlich getrennt wahrgenommen werden. Damit werden Farbkontraste verstärkt und Objekte deutlicher voneinander und vom Hintergrund unterschieden. Die neuronalen Schaltstrukturen, die diesen Wahrnehmungsphänomenen zugrunde liegen, kennen wir inzwischen sehr gut. Sie sind bei allen farbentüchtigen Tieren die gleichen, bei der Biene ebenso wie beim Goldfisch oder einem Primaten. Das Programm für die notwendigen Verschaltungen im Sehsystem ist in den Genen gespeichert und stellt sich im Verlaufe der ontogenetischen Entwicklung von Auge und Gehirn automatisch ein, ohne Einwirkung durch Umwelt oder Erfahrung.

Derartige Wahrnehmungsfilter bestimmen unsere Weltsicht. Wir hören nur bestimmte Frequenzen (nicht die hochfrequenten Schreie der Fledermäuse und nicht die tieffrequenten Gesänge der Wale), wir sehen kein ultraviolettes Licht und nicht die Polarisationsrichtung des blauen Himmelslichts, die den Insekten zugänglich sind, und wir riechen die Fülle der Signalstoffe nicht, mit denen sich die Tiere - jede Species auf ihre Weise - verständigen.

Wenn wir etwas wahrnehmen, spielt der Kontext eine entscheidende Rolle. Schnee erscheint uns in der Nacht weiß, obwohl er sehr viel weniger Lichtquanten reflektiert als schwarzes Papier am Tag. Kontinuierliche Linien werden zu einem Objekt gehörig erkannt, ebenso die Teile einer Szene, die sich gemeinsam bewegen. Nicht vorhandene Linien erscheinen in einem Bild, wenn die Kontrastgrenzen benachbarter Flächen scheinbar ein Objekt markieren. Unser Wahrnehmungssystem steht in der Tradition einer sich über Hunderte von Millionen Jahren erstreckenden Evolution. Es sucht nach Ordnung und bewertet ständig das, was es entdeckt hat. Eine besonders wichtige Aufgabe dabei ist die Unterscheidung der Sehobjekte danach, ob sie zu einem lebenden Objekt gehören. Diese könnten potenzielle Feinde sein, es könnte sich um etwas Essbares handeln, es könnte im Sozialkontakt von Bedeutung sein. Lebende Objekte zeichnen sich durch einen höheren Ordnungsgrad aus. Symmetrien (radiär oder bilateral symmetrisch) sind solch ein Ordnungszustand. Er tritt bei Lebewesen deshalb so häufig auf, weil der Programmierungsaufwand zur Herstellung von stets gleichartigen Körpern geringer ausfällt, als wenn mit Symmetrieprinzipien gearbeitet wird. Weniger Gene werden benötigt, um eine übergeordnete Regel zu implementieren, als um jeden Ort einzeln auszuzeichnen. Perfekte Symmetrie, wie sie Ernst Haeckel an Radiolarien so beeindruckend dargestellt hat, erweist sich also als Ausdruck einer Ersparnisstrategie. Wenn sie als Signal eingesetzt wird (man denke an Blüten, Früchte, Gesichter), dann sagt dies dem Wahrnehmungssystem nicht nur, dass das Objekt zur Kategorie lebender Objekte gehört, sondern gibt auch Auskunft über den Zustand des Objekts. Reife Blüten, die Nektar und Pollen den Bestäubern anbieten, weisen einen höheren Symmetriegrad auf als Knospen, unreife oder verwelkte Blüten. Es wundert uns daher nicht, dass Insekten, etwa die Biene, über Symmetriewahrnehmung verfügen und Symmetrie als eine Wahrnehmungskategorie zur Unterscheidung verschiedener symmetrischer und unsymmetrischer Objekte verwenden. Für unsere Vorfahren wird es wichtiger gewesen sein, reife Früchte und Äste mit mehr oder weniger symmetrischen Blättern nach dieser Kategorie zu unterscheiden. Im Sozialkontakt ist die Symmetriewahrnehmung von besonderer Bedeutung. Perfekt symmetrische Gesichter werden als schöner empfunden, und eine geringfügige Abweichung von der Symmetrie wirkt als ein besonders starkes Mittel zum Auslösen von Aufmerksamkeit und emotionaler Reaktion.

Unsere Wahrnehmungsfilter können uns zahlreiche Streiche spielen. Wenn Wolken vor dem Mond ziehen, scheint sich der Mond zu bewegen, weil unsere Wahrnehmung kleine Objekte als bewegt und große als stationären Hintergrund erwartet. Dieser Filter hat unseren Vorfahren geholfen, Jagdbeute und Feinde zu entdecken, und versetzt uns heute in die Lage, mit 150 Stundenkilometern über die Autobahn zu jagen. Wir reagieren mit Schmunzeln auf ein Teddybär- oder Micky-Maus-Gesicht, weil diese Gesichter ein Wahrnehmungsfilter für Gesichter von Kleinkindern anspricht (ein relativ zum Körper großer Kopf, kurze Arme und Beine, eine hohe runde Stirn). Farbbilder, die keinen Kontrast für unser achromatisches Sehsystem bieten, erscheinen uns wackelig und unorganisiert. Dies liegt daran, dass der achromatische Sehkanal für die Trennung von Objekt und Hintergrund notwendig ist. Eine solche Zweideutigkeit von Objekt und Hintergrund entsteht auch dann, wenn - wie im Falle der Vase und der zwei Gesichter - zwei Interpretationen möglich sind. Dann schaltet unsere Wahrnehmung im schnellen Wechsel zwischen den beiden Interpretationen hin und her.


Entdeckung von Ordnung ist ein lustvoller Vorgang. Betrachten Sie das Bild, bevor Sie weiterlesen. Haben Sie in dem Muster etwas entdeckt? Betrachten Sie es in Ruhe nochmals, es gibt darin ein Tier zu entdecken. Haben Sie jetzt die Kuh gefunden? Es wird Ihnen so wie vielen ergehen: Sie haben eine ausgesprochene Freude, wenn Ihnen die Entdeckung gelungen ist, und die wird sich immer wieder einstellen, wenn Sie auf dieses verflixte Bild schauen. Die Entdeckerfreude ist die Belohnung für das Bewusstwerden einer Erwartung, die der Wahrnehmungsapparat bereits geleistet hat. Der kann natürlich auch falsche Erwartungen erzeugen, und dann ist es mitunter sehr schwer, die durch Freude verstärkte falsche Erwartung wieder loszuwerden. Dieses riskante Verfahren muss sich in der Evolution als erfolgreicher herausgestellt haben als eines, das ohne (oder mit nur schwachen) Erwartungen der externen Welt begegnen würde. Natürlich ändert und verschärft sich unsere Erwartungswelt mit der Erfahrung, aber viele Wahrnehmungsfilter bleiben stets dieselben.

Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess in einer Bilderwissenschaft (und nur darauf will ich mich hier beziehen) kann sich nicht vollständig von diesen vorbewussten Filtervorgängen emanzipieren. Was unserem analytischen Zugriff zur Verfügung steht, ist durch diese Filter gelaufen, bereits vorbewertet, und es wird mit emotionalen Komponenten ausgestattet. Das wissenschaftliche Entdecken entspringt damit zu einem guten Teil dem Suchen nach Ordnung, das unser Wahrnehmungsapparat ohne viel Einfluss der Ratio für uns bereits erledigt hat. Die Freude, die sich mit dem wissenschaftlichen Entdecken verbindet, wurzelt daher auch in der lustbetonten Entdeckung von Ordnung als Eigenschaft der Wahrnehmung; und weil das ästhetische Gefühl tief wurzelt in den Filtern der Wahrnehmung, korrespondieren wissenschaftliche Entdeckung und Ästhetik. Die Frage also, ob Schönheit verfälscht, erscheint in einer Bilderwissenschaft einerseits unangemessen, weil die Sehwelt nicht ohne eine Bewertung nach ästhetischen Kategorien zugänglich ist; andererseits kann sie verneint werden, weil es um lebende Strukturen geht, die unter der Prämisse informationeller Ersparnis entstanden sind. Dann kann sich unser analytischer Zugriff ruhig auf seine Wahrnehmungsfilter verlassen. Auf einer griechischen Vase steht: "Schönheit ist Wahrheit, und Wahrheit ist schön". So ganz falsch ist das für eine Bilderwissenschaft nicht.