Heft 10: UTOPIEN UND DYSTOPIEN Einführung Jahrhundertelang waren Utopien und Apokalypsen, Visionen und Katastrophen Themen der Religion (jüdisch-christlich-islamisch), der Literatur (16. Jahrhundert ff.) und Gesellschaftstheorien (19. Jahrhundert ff.). Mit dem Ende des Fortschrittsglaubens scheinen Visionen, vor allem positive, endgültig in Esoterik und Science-Fiction abgedrängt. Das Nachdenken über Zukunft hat damit nicht aufgehört. In einer Zivilisation, in der man rund um die Uhr mit Wissenschaft konfrontiert wird (vulgo 'Wissensgesellschaft'), stehen die Wissenschaften im Zentrum der positiven wie negativen Vorstellungen von Zukunft; auch jedwede Warnung, die Glaubwürdigkeit beansprucht, muss sich als wissenschaftlich ausgeben.
Obwohl utopisches Denken mit dem Ende des sozialistischen Experiments endgültig in Misskredit geraten ist, widmen sich Bücher und Zeitschriften, auch seriöse, in letzter Zeit wieder verstärkt dem Thema; es finden Kongresse und Forschungen statt, Utopieforscher sortieren und typisieren die Entwürfe, es gibt Utopian Studies oder Desaster Science, und nicht zuletzt machen langfristige Investitionen ein gewisses Maß an Voraussagen - wenn schon nicht der, so für die Wissenschaft - unumgänglich. Wunschbilder, Zukunftsszenarien, Visionen und Utopien lassen sich ebenso schwer voneinander abgrenzen wie realistische Warnungen von Endzeitstimmung oder Alarmismus. Ob es gut oder schlecht ausgeht, bleibt eine Frage des Glaubens. Ging es in den literarischen und gesellschaftlichen Utopien um Vervollkommnung - der Gemeinschaft, der Individuen, der Gesellschaft -, so sind die Diskussionen über Zukunft und Weltuntergang heute primär von der Suche nach Problemlösungen geprägt. Sintfluten erscheinen nicht mehr als moralische Mahnung, sondern lösen Fragen nach dem Menschen als Verursacher aus. Demographen, Architekten, Hydrologen, Medientheoretiker, Molekularmediziner und nicht zuletzt Pharmahersteller und Versicherungen setzen sich auf jeweils spezifische Art mit Zukunfts- und Katastrophenszenarien auseinander. In der Wissenschaft, an ihren Rändern und über Disziplingrenzen hinweg wird in die Zukunft gedacht, stets mit dem Anspruch, realistisch, nachhaltig, im Interesse der Allgemeinheit zu planen und zu handeln. Überschwemmungen, Hungerkatastrophen und Terroranschläge sind real und rufen stets auch Bilder ab, die in unserer Kulturgeschichte gespeichert sind. Es gehört zum Selbstverständnis der verschiedenen Wissenschaften, dass sich ihre Vertreter von literarischen Vorbildern abstoßen, sie sind um Nüchternheit bemüht. Die jahrhundertealten Bilder bleiben - als Fantasie, gegen die man sich abgrenzt - ebenso selbstverständlich präsent. | |