fledermauskrote1Heft 10: EDITORIAL von Dieter Simon


Wissenschaft und Utopie? Utopien sind älter als die Wissenschaft. Von Wissenschaft war noch nicht die Rede, als Tagträumer, Weltweise und kritische Philosophen sich erstmals einen Ort im Nirgendwo ausdachten, an dem die notwendige gesellschaftliche Ordnung gewaltfrei und reibungslos funktionieren und ihre Mitglieder satt und glücklich existieren sollten. Wer das paradiesische Nirgendwo eigentlich eingerichtet hat, blieb dagegen in mildem Gedankendunkel verborgen.

Das änderte sich in dem Maße, in dem der Staatsroman zum Projekt mutierte und sich die aufkeimende Überzeugung von der fortschreitenden Machbarkeit der Welt durch wissenschaftliche Erfolge und technische Errungenschaften bestärkt und beglaubigt sah. Reale Orte schienen den Utopien entgegenzuwachsen. Für das Bestreben, utopische Träume in feste Versprechen zu verwandeln, war die Wissenschaft der mächtige Fels, auf dem der Fortschrittsoptimismus seine Kathedralen errichtete. Deren Lebensdauer war freilich begrenzt. Aber allen Desillusionierungen zum Trotz glaubte im vergangenen Jahrhundert nicht bloß der unverdrossene Karl Mannheim, dass allein in der Utopie jene Kraft heimisch sei, welche das Projekt einer fortschrittlichen Gesellschaftsveränderung voranzutreiben vermag.

Nach dem Ende des 20. Jahrhunderts will davon niemand mehr etwas hören. Nur wer der Dystopie, der aus England importierten negativen Utopie oder auch 'Anti-Utopie', huldigt, hat überhaupt eine Chance, mit irgendwelchen Orten im Nirgendwo Augen und Ohren seiner Mitmenschen zu gewinnen. Selbst der brave Relativismus, wonach des einen Utopie des anderen Dystopie sein könne, wird als zu romantisch zurückgewiesen. Die Bücher von Aldous Huxley bis Erwin Chargaff und die Filme von Hiroshima mon amour bis Matrix haben die Zeitgenossen einigermaßen verdorben und allmählich auf den Untergang der Menschheit vorbereitet. Wer Gesellschaftstheoretiker, Staatsschreiber und Kulturphilosophen zum Kichern bringen will, ruft nach Utopien. Gegenwärtig ist Armageddon angesagt. Die sieben Racheengel schütten die Schalen des Zornes Gottes aus, und beim letzten Guss tönt aus dem Off: "Es ist geschehen!"

Gleichwohl hat sich die Utopie erstaunlicherweise nicht völlig verflüchtigt. Sie hat sich ein bescheidenes, aber zählebiges Refugium in der Werbewirtschaft und der eng damit verwandten werbenden Wissenschaft verschafft.
 

Die Werbewirtschaft verspricht uns blütenweiße Zähne bis zum letzten Atemzug für den Fall, dass wir uns umfänglich mit Albinodent eindecken, und verheißt den unvergleichlichen Geschmack frischer Tomaten beim Genuss der Suppen von Suppifix. Die werbende Wissenschaft verkündet -, für den Fall hinreichender Finanzierung und Unterstützung - dass sie nicht nur beliebigfarbige Zähne schmerzlos entfernen und wieder einsetzen, sondern auch den letzten Atemzug zunehmend hinausschieben wird. Sie gelobt Tomaten von Kalbsgröße und Kälber von Tomatengröße, und dies alles vor dem Hintergrund voraussehbarer Triumphe über den Schmerz, das Alter und schließlich sogar noch den Tod. Wenn das keine Utopien sind!

Allerdings ist die Gefahr, dass Kritiker diese Verheißungen nicht als Utopien, sondern als typische Fälle von Dystopien ansehen werden, relativ groß.

Aber gerade dies hat uns motiviert, noch einmal nach dem Abgegriffenen zu greifen. Nicht um Forschungsergebnisse aus der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorzutragen, obwohl das im Hinblick auf die Symposien zum negativen Kassandra-Syndrom oder über 'Die Ideale Akademie' keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereitet hätte.

Aber wir wollten auch hier dem bislang in den gegenworten verfolgten Prinzip treu bleiben: Es geht um das Sammeln von Stimmen aus möglichst verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen zu einem Sachverhalt, der kein spezifisches Thema einer oder mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen bildet, sondern wie Lug und Trug, Geld und Geiz, Evaluation und Kalkulation aus der Umwelt der Wissenschaft in ihr System hineinragt und dort für Unruhe sorgt.
 

Wie immer war auch diesmal jede Art von Vollständigkeit in Gegenständen oder Perspektiven weder erstrebt noch möglich. Der Club of Rome fehlt, und Günther Anders ist ebenfalls abwesend. Schwere Versäumnisse, aber lässliche Sünden. Ein Blick auf die in der folgenden Dokumentation nachgedruckten Suchergebnisse im Netz demonstriert, was möglich gewesen wäre. Schließlich handelt es sich um ein ziemlich altes Motiv, das nicht nur die gesamte Wissenschaftsgeschichte, sondern die Geschichte überhaupt begleitet hat.

Noch ein Letztes: Hazel Rosenstrauch hat nach wohlverdienter, aber konsumierter Sabbatical-Pause vom Interimslotsen Wolfert von Rahden wieder das Steuer der GEGENWORTE übernommen. Mit ihr ist natürlich auch die fliegende Schildkröte testudo volans zum Nistplatz zurückgekehrt.